Makro und Mikrokosmos gehören innerlich zusammen
Jean Vanier (1928 – 2019)
In den frühen Morgenstunden des 7. Mai 2019 starb in Paris der katholische Philosoph Jean Vanier, Gründer der konfessionsübergreifenden Bewegung „L`Arche“. Unter vielen anderen Auszeichnungen erhielt Jean Vanier 2015 im Alter von 85 Jahren den Templeton Prize. Die mit fast 1,1 Millionen engl. Pfund Sterling (ca. 1,3 Millionen Euro) höchstdotierte Auszeichnung gilt als einer der weltweit bedeutendsten jährlich verliehenen Preise für Verdienste um die Menschlichkeit und den spirituellen Fortschritt.
„Wir leben in einer Welt voller Kriege; überall brechen Feuer aus, und wir Christen schaffen es nicht, zusammenzukommen und über das Evangelium zu sprechen? Was ist da los?…
Wenn Jesus ankündigt, dass er gehen und wiederkommen werde, geht es um das Wachsen eines jeden von uns in der Liebe. Für dieses Wachsen braucht man eine ganze Lebenszeit, mit Zeiten der Anwesenheit und der Abwesenheit, der Begegnungen und der Abschiede. Was schon für die Freundschaft zwischen Menschen gilt, das gilt ganz besonders für die Freundschaft, die uns mit Gott verbindet. Die Anwesenheit von jemandem, den wir lieben, macht froh. Wir genießen seine Gegenwart. Aber seine Abwesenheit verlangt von uns Vertrauen, Hoffnung und Treue. Sie vertieft den Brunnen unseres Wesens…
Ich muss jetzt nicht mehr so tun, als sei ich jemand. Ich kann jetzt das Kind akzeptieren, das ich bin, das Kind Gottes… Und jetzt, da ich realistischer und hoffentlich etwas demütiger geworden bin, kann ich in eine wahrere Beziehung zum Behinderten eintreten. Ich bin sein Bruder, ein Bruder, der für seinen Bruder verantwortlich ist…“
Jean Vanier wurde am 10. September 1928 als viertes von fünf Kindern kanadischer Eltern in Genf geboren.
Sein Vater war militärischer Berater beim Völkerbund, später Generalgouverneur von Kanada. Im Alter von 13 Jahren tritt Jean Vanier in das Elite-College der britischen Marine in Dartmouth. 1946 acht Monate lang auf dem Ausbildungs-Kreuzer H.M.S. Frobisher und auf weiteren Kriegsschiffen.
Eine Pilgerfahrt mit dem Vater nach Lourdes lässt in ihm den Entschluss reifen, Geistlicher zu werden. 1950 erbittet er die Genehmigung, die Marine verlassen zu dürfen. Im selben Jahr lernt er Père Thomas (1905 – 1993) kennen, der zu seinem lebenslangen spirituellen Begleiter wird. Jean Vanier begibt sich in das von dem französischen Dominikaner gegründete Studienhaus Eau Vive bei Paris.
1952 wird Père Thomas von Hardlinern innerhalb seines Ordens denunziert: Er sei in seiner geistigen Unterweisung zu mystisch und würde vom rechten Glauben abweichen. Man schickt ihn, was damals durchaus üblich war, zunächst in eine psychiatrische Klinik und anschließend ins Exil. Daher entscheidet sich Jean Vanier gegen eine kirchliche Laufbahn, studiert Philosophie und promoviert im Jahr 1962 über Aristoteles. Als er Père Thomas 1963 nach langer Pause wieder trifft, ist dieser Hausgeistlicher in einem Heim mit Werkstätten für geistig behinderte junge Männer in einem Dorf nördlich von Paris. Bei seinem Besuch dort fühlt sich Jean Vanier gleichermaßen abgestoßen wie angezogen
Was er dort alles vorfand, erschütterte ihn, wo rund 80 geistig behinderte Männer unter chaotischen und gewalttätigen Verhältnissen in zwei Schlafsälen hausten. Die Insassen hatten keine Arbeit. Sie aßen in einem riesigen Speisesaal und verbrachten ihre Zeit damit, im Kreis herumzulaufen. Ein Mann namens Dany hatte sein Leben in einem Keller verbracht und spuckte jeden an, der sich ihm näherte.
Erst in der Reflexion bemerkt er, dass er etwas Wichtiges entdeckt hat.
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Aber Vanier war entschlossen, und es zeigt sich bald, dass er mit seinem Entschluss richtig liegt. Schon im ersten Jahr kommen immer mehr Behinderte. Es kommen aber auch Assistenten, die ihre Dienste gegen Kost und Logis anbieten – sogar aus den USA und Kanada. In den nächsten Jahren werden immer mehr Dependancen der Arche gegründet. Mit diesem Wachstum wurde sich Vanier auch der Tatsache bewusst, dass eine derart große Organisation, wie sie die Arche nun wurde, nicht für immer von ihm geleitet werden konnte, und dass er sie möglichst bald einer kommenden Generation übergeben musste – nicht zuletzt, um eine Verehrung und eine Fokussierung auf ihn als Gründervater zu vermeiden. Bereits 1975 gibt er das Amt des „Internationalen Koordinators“ ab. Ab 1981 ist er nur mehr einfaches Mitglied der Gemeinschaft. Jean Vanier begriff sich immer als Katholik. Von Anfang an unterstützte er die Ökumene, die sich in seinen Archen häufig auf eine ganz natürliche Art entwickelte.
Heute gibt es weltweit rund 150 „Archen“ mit etwa 5.000 Mitgliedern in 35 Ländern. 1971 gründete Jean Vanier die ebenfalls weltweite ökumenische Bewegung „Glaube und Licht“.
„Das Ziel jeder Kommunität, mag sie in Belfast oder Haiti liegen, bleibt jedenfalls immer das gleiche: eine Familie zu bilden, in der Menschen mit geistiger Behinderung die Sicherheit und den Frieden finden, worin sie sich entfalten können. Und auch der Geist ist der Gleiche: der Geist besonderer Sensibilität für die Bedürfnisse wie auch die prophetische Rolle der Armen.“
Im Jahr 2015 erschienen seine Lebenserinnerungen über die großen Fragen des Lebens
(Originaltitel: „Life’s Great Questions“, in deutscher Übersetzung 2017 im HERDER-Verlag unter dem Titel: „Von Liebe, Hoffnung und den letzten Dingen“.
23.09.2021
Roland R. Ropers
Religionsphilosoph, spiritueller Sprachforscher, Buchautor und Publizist
www.KARDIOSOPHIE-NETWORK.de
Über Roland R. Ropers
Roland R. Ropers geb. 1945, Religionsphilosoph, spiritueller Sprachforscher,
Begründer der Etymosophie, Buchautor und Publizist, autorisierter Kontemplationslehrer, weltweite Seminar- und Vortragstätigkeit.
Es ist ein uraltes Geheimnis, dass die stille Einkehr in der Natur zum tiefgreifenden Heil-Sein führt.
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