Mystik und Scholastik – Wenn Denken und Erfahrung sich im Göttlichen begegnen
Dieser Beitrag erforscht die geistige Verbindung zwischen Mystik und Scholastik – zwei scheinbar gegensätzliche, aber komplementäre Wege zur Einheit mit dem Göttlichen.
Anhand des Dichters und Mystikers Angelus Silesius wird sichtbar, wie Denken und innere Erfahrung zu einer spirituellen Synthese verschmelzen: Der Brunnquell des Göttlichen fließt nicht außerhalb, sondern im Innersten des Menschen.
Der Brunnquell ist in uns
„Du darfst zu Gott nicht schrein,
Der Brunnquell ist in Dir.
Stopfst du den Ausgang nicht,
Er flösse für und für.“
(Angelus Silesius, Der Cherubinische Wandersmann)
Diese Zeilen tragen die Essenz der christlichen Mystik: das göttliche Licht ist keine ferne Macht, sondern eine innere Gegenwart.
Mystik bedeutet, den Ursprung allen Seins im eigenen Bewusstsein zu erfahren.
Scholastik hingegen sucht, die göttliche Wahrheit mit logischem Denken zu erfassen – sie ist das Streben des Verstandes, während die Mystik das Erwachen des Herzens ist.
👉 Was ist Mystik? Die innere Erfahrung des Göttlichen
Mystik und Scholastik – Zwei Wege zur Wahrheit
Beide Richtungen haben das gleiche Ziel: die unio mystica, das Einswerden des Menschen mit Gott.
Doch der Weg unterscheidet sich:
-
Die Scholastik (z. B. Thomas von Aquin) vertraut auf Vernunft und Theologie, um das Göttliche zu verstehen.
-
Die Mystik (z. B. Meister Eckhart, Angelus Silesius) geht den Weg der inneren Erfahrung – über Denken, Fühlen und Schweigen hinaus.
Wo die Scholastik versucht, die Wahrheit zu beweisen, will die Mystik sie erleben.
Beide sind notwendig – Denken gibt Richtung, Erfahrung schenkt Tiefe.
👉 Thomas von Aquin – Die Logik des Glaubens
Angelus Silesius – Der Mystiker zwischen den Welten
Johannes Scheffler, später bekannt als Angelus Silesius, wurde 1624 in Breslau geboren.
Er war Arzt, Philosoph, Dichter – und spiritueller Suchender.
Seine Studien in Padua und Leyden verbanden wissenschaftliches Wissen mit der Sehnsucht nach göttlicher Erkenntnis.
Er las die Werke von Jakob Böhme und Jan van Ruysbroeck, deren Denken ihn prägte.
Als er 1653 zum katholischen Glauben übertrat, war das kein politisches Bekenntnis, sondern Ausdruck einer inneren Wandlung.
Silesius suchte keine neue Kirche, sondern eine lebendige Gotteserfahrung, jenseits dogmatischer Grenzen.
„Halt an, wo läufst du hin, der Himmel ist in dir.
Suchst du Gott anderswo, du fehlst ihn für und für.“
Diese Worte sind keine Einladung zur Flucht aus der Welt, sondern ein Aufruf zur Rückkehr in das eigene Herz.
👉 Mystische Erfahrung – Wege zur inneren Stille und Augustinus kirchenmystik
Sprache als Tor zur Transzendenz
Das größte Problem des Mystikers ist die Sprache.
Wie lässt sich das Unaussprechliche sagen?
Angelus Silesius nutzt das Paradoxon, um über die Grenzen der Logik hinauszuführen.
„Ich weiß, dass ohne mich Gott nicht ein Nu kann leben;
Werd ich zunicht’, er muss von Not den Geist aufgeben.“
Dieses Paradox drückt das Urgeheimnis aller Mystik aus: Gott und Mensch sind untrennbar verbunden.
Das Göttliche braucht den Menschen, um sich zu erkennen – und der Mensch braucht Gott, um sich selbst zu finden.
So wird der Widersinn zum Weg: Die Widersprüche offenbaren die Einheit hinter allem Gegensätzlichen.
Vertiefe das Thema Spiritualität👉 Spiritualität im Wandel – Warum Wissen allein nicht reicht
Scholastik und Mystik als Ergänzung
Scholastik und Mystik sind keine Rivalen.
Sie ergänzen einander – wie Denken und Fühlen, Licht und Schatten.
Die Scholastik gibt Struktur und Sprache;
die Mystik schenkt Tiefe und Erleuchtung.
Ohne Mystik wird Religion zur bloßen Lehre;
ohne Scholastik verliert sie die Form, die sie trägt.
In Angelus Silesius verschmelzen diese beiden Strömungen zu einer neuen Ganzheit: geistige Klarheit mit innerer Ekstase.
Der Himmel im Herzen
Der Weg zu Gott führt nicht über äußere Pilgerreisen, sondern über Selbsterkenntnis.
Wer sich in die Stille begibt, entdeckt, dass der Himmel längst im Inneren leuchtet.
„Mensch, geh nur in dich selbst!
Denn nach dem Stein der Weisen
darf man nicht allererst in fremde Lande reisen.“
Die größte Erkenntnis ist, dass es nichts zu suchen gibt – nur zu finden.
Mystik erinnert daran, dass das Göttliche Bewusstsein nicht erlangt, sondern entdeckt wird.
👉 Bewusstsein und Einheit – Die Sprache der Seele
Vom Wissen zur Weisheit
Wissen ist das Reich der Scholastik, Weisheit das der Mystik.
Wissen fragt, vergleicht, analysiert.
Weisheit erkennt, integriert und liebt.
Wenn beide Kräfte zusammenwirken, entsteht eine spirituelle Philosophie, die Kopf und Herz vereint.
Sie übersteigt Dogma, ohne die Vernunft zu verwerfen.
So wird aus Theologie wieder lebendige Erkenntnis Gottes.
Fazit – Der Brunnquell fließt für und für
Mystik und Scholastik sind zwei Ausdrucksformen einer Wahrheit:
das Göttliche lebt im Menschen.
Die eine Seite spricht in Begriffen, die andere in Symbolen – beide führen zur inneren Einheit mit Gott.
Angelus Silesius bleibt Wegweiser für eine Zeit, in der Menschen wieder Sinn und Tiefe suchen.
Seine Botschaft ist schlicht und ewig gültig:
Der Himmel liegt nicht über uns, sondern in uns.
Wenn wir den Ausgang nicht verstopfen, fließt der Brunnquell für und für.
FAQ – Mystik und Scholastik
Was bedeutet „Mystik und Scholastik“?
Beide Begriffe stehen für zwei spirituelle Wege zur göttlichen Wahrheit: die Scholastik über Vernunft und Theologie, die Mystik über direkte Erfahrung.
Wer war Angelus Silesius?
Angelus Silesius (1624–1677) war Arzt, Dichter und Mystiker aus Schlesien. Seine Werke wie Der Cherubinische Wandersmann sind Klassiker der europäischen Mystik.
Was versteht man unter „unio mystica“?
„Unio mystica“ bezeichnet die Einswerdung des Menschen mit Gott – eine Erfahrung, in der alle Trennung aufgehoben ist.
Wie ergänzen sich Mystik und Scholastik heute?
Beide verbinden rationales Denken mit spiritueller Tiefe. In einer Welt der Extreme erinnern sie daran, dass wahre Erkenntnis Kopf und Herz vereint.
Artikel aktualisiert
22.12.2022
Roland R. Ropers
Religionsphilosoph, spiritueller Sprachforscher, Buchautor und Publizist
Über Roland R. Ropers
Roland R. Ropers geb. 1945, Religionsphilosoph, spiritueller Sprachforscher,
Begründer der Etymosophie, Buchautor und Publizist, autorisierter Kontemplationslehrer, weltweite Seminar- und Vortragstätigkeit.
Es ist ein uraltes Geheimnis, dass die stille Einkehr in der Natur zum tiefgreifenden Heil-Sein führt.
>>> zum Autorenprofil
Buch Tipp:

Weg-Weiser zur kosmischen Ur-Quelle
von Roland R. Ropers und
Andrea Fessmann, Dorothea J. May, Dr. med. Christiane May-Ropers, Helga Simon-Wagenbach, Prof. Dr. phil. Irmela Neu
Die intellektuelle Kopflastigkeit, die über Jahrhunderte mit dem Begriff des französischen Philosophen René Descartes (1596 – 1650) „Cogito ergo sum“ („Ich denke, also bin ich“) verbunden war, erfordert für den Menschen der Zukunft eine neue Ausrichtung auf die Kraft und Weisheit des Herzens, die mit dem von Roland R. Ropers in die Welt gebrachten Wortes „KARDIOSOPHIE“ verbunden ist. Bereits Antoine de Saint-Exupéry beglückte uns mit seiner Erkenntnis: „Man sieht nur mit dem Herzen gut“. Der Autor und die sechs Co-Autorinnen beleuchten aus ihrem individuellen Erfahrungsreichtum die Vielfalt von Wissen und Weisheit aus dem Großraum des Herzens.



Hinterlasse jetzt einen Kommentar