Spirituelle Wirklichkeit und das Vermächtnis der Evelyn Underhill

Spirituelle Wirklichkeit

Spirituelle Wirklichkeit und das Vermächtnis der Evelyn Underhill

„Die Philosophie sollte nicht nur den intellektuellen Erfahrungen eines Plato, eines Descartes, eines Kant Raum geben, sondern auch den kontemplativen Erfahrungen eines Paulus, eines Plotin, eines Augustinus, eines Franziskus, einer Teresa von Avila …“
— Evelyn Underhill

Frühe spirituelle Erfahrungen und biografischer Hintergrund

Als Kind wohlsituierter Eltern, am 6. Dezember 1875 in Wolverhampton geboren, hatte Evelyn Underhill bereits in jungen Jahren mystische Erfahrungen. Diese prägten ihren Lebensweg tiefgreifend. In einer Zeit geistiger Aufbrüche, am Übergang ins 20. Jahrhundert, widmete sie sich mit Hingabe der Erforschung spiritueller Wirklichkeit.

Sie studierte Theologie am King’s College London, interessierte sich für die Kunst des Buchbindens und war eine begeisterte Seglerin – eine Frau mit vielen Facetten.

London um 1900: Faszination für das Unsichtbare

Das spirituelle Klima Londons war geprägt von einem Aufblühen alternativer Glaubensformen: Magie, Spiritismus, Theosophie und Astrologie waren hoch im Kurs. Evelyn Underhill trat mit 29 Jahren der Rosenkreuzerbewegung „Hermetic Society of the Golden Dawn“ bei – ein Schritt, der ihr neue Perspektiven auf Rituale und gemeinschaftliche Praxis eröffnete.

Doch schon bald ging sie weiter: Das Jahr 1907 wurde ein Wendepunkt.

Innere Wandlung und die Krise des Glaubens

Nach einem „Retreat“ bei Franziskanerinnen in Southampton hatte Underhill eine tiefgreifende spirituelle Vision. In ihr Tagebuch schrieb sie nur knapp:

„Ich konvertierte ziemlich plötzlich ein für allemal durch eine überwältigende Vision …“

Doch ihre Beziehung zu ihrem antiklerikalen Verlobten stellte sie vor einen inneren Konflikt. Ihre Entscheidung für die katholische Spiritualität kollidierte mit seiner Ablehnung gegenüber religiöser Praxis. Dennoch heiratete sie ihn im Juli 1907 – eine Entscheidung zwischen Liebe und spiritueller Berufung.

Durchbruch als Mystik-Expertin: Evelyn Underhill wird zur Autorität

Spirituelle Wirklichkeit Möwe im FlugMit ihrem ersten Buch „Mysticism“ wurde sie im englischen Sprachraum zur anerkannten Stimme für christliche Mystik. Sie hielt Vorträge, leitete Exerzitien und veröffentlichte zahlreiche Werke, die bis heute als Referenz gelten.

Inspiration fand sie u. a. bei Jan van Ruysbroeck und dem hindu-muslimischen Dichter Kabir, dessen Werke sie gemeinsam mit Rabindranath Tagore ins Englische übertrug. Diese interreligiöse Öffnung war ihrer Zeit weit voraus.

Ihr geistiger Mentor wurde der katholische Philosoph Baron Friedrich von Hügel, der ihr half, Mystik als inneren Weg zu vertiefen.

Die spirituelle Wirklichkeit als Ziel des Menschseins

Für Evelyn Underhill war Mystik nicht nur ein Sonderfall religiöser Erfahrung, sondern das Wesen echter Spiritualität. Sie definierte Mystik als:

„Das Ausstrecken der Seele hin zu jener Wirklichkeit, mit der sich Religion beschäftigt.“

Jeder Mensch, so glaubte sie, trage diese Fähigkeit in sich – sie müsse nur kultiviert werden. Im Zentrum standen für sie das Gebet und die spirituelle Disziplin.

Ein Meisterwerk: Ganzheitliche Sicht auf Mystik

In ihrem fast 700 Seiten umfassenden Hauptwerk entwickelte sie einen interdisziplinären Zugang zur Mystik, der Philosophie, Psychologie, Literaturwissenschaft und Theologie miteinander verband. Damit begründete sie ein modernes Verständnis mystischer Erfahrung.

Gemeinsam mit anderen Denkerinnen wie Simone Weil, Gerda Walther oder Edith Stein prägte sie das spirituelle Denken des 20. Jahrhunderts entscheidend mit.

Die gelebte Mystik im Alltag: Spiritualität als Lebenskunst

Ab den 1920er Jahren wandte sich Underhill dem Gedanken zu, dass spirituelles Leben im Alltag wirken müsse. Sie begleitete Menschen, leitete bis zu acht Retreats jährlich und gab ihr Wissen an ihre Schüler weiter.

Ein Höhepunkt war ihre Vorlesungsreihe Upton Lectures 1921 an der Universität Oxford – als erste Frau überhaupt sprach sie dort über Religion.

Spiritualität gegen die Leere institutioneller Religion

Underhill kritisierte die Verflachung religiöser Praxis durch leere Rituale und äußerte sich klar:

„Das spirituelle Leben bedeutet eine immense Erweiterung des Bogens der menschlichen Sympathie … Der zentrale Fehler der gegenwärtigen religiösen Institutionen … besteht darin, dass sie soviel Zeit damit verbringen, um den Bogen herum zu laufen und das Zentrum für gewiss zu nehmen …“

Sie forderte, das Zentrum – die spirituelle Wirklichkeit – wieder zum Mittelpunkt religiösen Lebens zu machen.

Vermächtnis einer Mystikerin

Evelyn Underhill starb am 15. Juni 1941 in London, im gleichen Jahrgang geboren wie Carl Gustav Jung.cover mystik ropers Ihre Schriften sind heute aktueller denn je – besonders in einer Zeit, in der viele Menschen wieder nach authentischer Spiritualität suchen.

Ihr Werk „Mystik“ erschien 2020 in einer Neuauflage in Berlin – ein Beleg für die bleibende Relevanz ihres Denkens.


FAQ – Häufige Fragen zu Evelyn Underhill und spiritueller Wirklichkeit

Was bedeutet „spirituelle Wirklichkeit“ nach Evelyn Underhill?
Sie verstand darunter eine tiefere Realität jenseits des Sichtbaren, die durch innere Erfahrung, Gebet und Disziplin erfahrbar wird.

Ist Mystik nur religiös?
Nein – Underhill sah Mystik als universelle Erfahrung, die auch interreligiös oder unabhängig von kirchlicher Dogmatik erfahrbar ist.

Warum ist Evelyn Underhill heute noch wichtig?
Weil sie zeigt, wie gelebte Spiritualität über bloße Theorie hinausgeht und in den Alltag integriert werden kann – ein Weg, der heute mehr denn je gesucht wird.


Artikel aktualisiert 

04.07.2025
Roland R. Ropers
Religionsphilosoph, spiritueller Sprachforscher, Buchautor und Publizist

 


Über Roland R. Ropers

Der sinnlose Kampf ums Leben Roland Ropers

Roland R. Ropers geb. 1945, Religionsphilosoph, spiritueller Sprachforscher,
Begründer der Etymosophie, Buchautor und Publizist, autorisierter Kontemplationslehrer, weltweite Seminar- und Vortragstätigkeit.
Es ist ein uraltes Geheimnis, dass die stille Einkehr in der Natur zum tiefgreifenden Heil-Sein führt.

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