Mystische Tradition und integrale Weisheit
Im Verlauf der Jahrhunderte haben Schreiber aus dem Osten und dem Westen immer wieder versucht, den spirituellen Weg zur inneren Schau des Reiches Gottes auf einer Karte darzustellen. Notwendigerweise beruhten die Karten dieser Kartenmacher auf deren eigener Erfahrung und daher erweisen sich die überlieferten spirituellen Landkarten des Westens und Ostens oft als unvollständig. Zumeist berücksichtigten die jeweiligen Verfasser nicht, dass Menschen ihren spirituellen Weg auf unterschiedlichen Stufen des Bewusstseins beginnen. Bewusstseinsstufen sind zu verstehen als hierarchische Abfolgen, nicht den Entwicklungsstand eines Menschen ab- oder aufwertend, sondern im Sinne bekannter Spiralmuster als sich entwickelndes Gewahrsein im Menschen, welches den Menschen immer komplexer und teilnehmender wahrnehmen, denken und handeln lassen kann.
Eine der ältesten überlieferten christlichen Karten um 500 n.Chr. ist die Karte des Dionysios.
Der noch älteren Tradition des Klemens von Alexandria aus dem 2. Jahrhundert folgend, teilte Dionysios den Weg beispielsweise in drei Stufen des inneren Wachstums ein:
reinigend: Reinigung von den schwersten Formen des Egoismus und der Selbstsucht
erleuchtend: Der Mensch erhält größere spirituelle Einsichten und Erkenntnisse
vereinigend: Einheit mit Gott
Dionysios schlug noch eine zweite Karte vor, die er als die fünf Stufen des Gebetes ansah: das mündliche, das geistige, das der Sammlung, das der Stille jenseits der Gedanken und das Gebet der Einheit mit Gott.
Der anonyme Autor des christlichen Werkes “Die Wolke des Nichtwissens“ aus dem 14. Jahrhundert schreibt, dass die spirituelle Entwicklung durch vier aufsteigende Phasen des Wachstums voranzuschreiten scheint, die man als die Gewöhnliche, die Besondere, die Einzigartige und die Vollkommene bezeichnen kann. Teresa von Avila teilte im 16. Jahrhundert in ihrem Meisterwerk “Seelenburg“ den Weg in sieben Stufen des Bewusstseins oder Wohnungen ein. Ihr Freund und Zeitgenosse, Johannes vom Kreuz, gliederte diesen Weg in fünf Stufen: die beginnende Kontemplation, die Dunkle Nacht der Sinne, eine Zwischenzeit fortschreitender spiritueller Erleuchtung, die dunkle Nacht der Seele und die Vereinigung mit Gott. Die englische Anglikanerin Evelyn Underhill folgte zu Beginn des 20. Jahrhunderts in etwa den fünf Stufen des Johannes vom Kreuz, begann den Weg jedoch an einem früheren Zeitpunkt mit dem, was sie als das Erwachen des transzendentalen Bewusstseins in einer Bekehrungserfahrung darstellte.
Neben diesen bekannten Autoren hat es noch eine ganze Reihe weiterer Versuche gegeben,
den Weg mittels unterschiedlicher Phasenkonzepte zu kartographieren. In all diesen Landkarten ist jedoch etwas Grundlegendes nicht berücksichtigt, nämlich die Evolution des menschlichen Bewusstseins. Diese findet nun einmal bei Kindern, Jugendlichen und entwicklungsorientierten Erwachsenen statt. Die überlieferten Konzepte beziehen aus nachvollziehbaren Gründen die Erkenntnisse der modernen Psychologie über das Bewusstseinswachstum des Menschen nicht mit ein. Daher sollten die tradierten Konzepte ergänzt werden um die Arbeit der sogenannten Bewusstseinspioniere des 19. und 20. Jahrhundert. Hierzu zählen federführend u.a. Sri Aurobindo, Jean Piaget, Jean Gebser und Ken Wilber. Jegliche andere Orientierung wäre eine Art Selbst-Betrug.
Die überlieferten Phasenmodelle hin zum Reich Gottes, zum kosmischen Bewusstsein, beinhalten drei kategoriale Mängel.
Bei den Erwachsenen sind die alten Autoren davon ausgegangen, dass ‒ zumindest alle religiösen Menschen ‒ den geistigen Weg auf mehr oder weniger derselben Bewusstseinsstufe betreten wie sie selbst. Daher nahmen sie an, dass die Menschen die Erfahrungen der Kartenzeichner nachvollziehen können. Unterschiedliche Ausgangspunkte der Bewusstseinsentwicklung aber auch unterschiedliche, mögliche Entwicklungspotentiale beim Menschen ließen sie außer Acht. Die Überlieferungen zeigen daher lediglich Teilbereiche des spirituellen Weges auf.
Johannes vom Kreuz beispielsweise beginnt die Reise des spirituellen Weges mit der Stufe, die er als beginnende Kontemplation bezeichnet, einer Stufe, die bereits weit jenseits des “Ortes“ im Bewusstsein liegt, an dem die meisten Menschen sich befinden. Evelyn Underhill beginnt ihren Weg früher als Johannes, weist jedoch darauf hin, dass ihre am Anfang liegende Erfahrung der Bekehrung meist bei Menschen auftritt, die bereits tief religiös sind und zudem weit über die gewöhnliche evangelische Bekehrungserfahrung der Wiedergeburt hinausgeht. Teresa beginnt ihren Bericht auf derselben hohen Stufe wie Johannes. Meister Eckhart gar spricht nur über die beiden allerhöchsten Stufen, nämlich die Vereinigung mit Gott und die nicht-duale Gleichheit mit Gott.
Ein zweiter Mangel liegt darin, dass die alten Karten, aus verständlichen Gründen, nicht den immens großen wissenschaftlichen Beitrag erfassen konnten, den die moderne Entwicklungspsychologie durch die Aufzeichnung der einzelnen Wachstumsstufen des menschlichen Bewusstseins vom Säuglingsalter bis hin zum vollständig entwickelten Erwachsenen geleistet hat.
Nahezu ausschließlich der Arbeit von Ken Wilber ist es zu verdanken,
dass diese beiden Probleme bei der Kartographierung des spirituellen Weges in den letzten Jahren in entscheidender Weise in Angriff genommen wurden. Er hat sehr umfassend sowohl die Entwicklungspsychologie als auch die überlieferten spirituellen Schriften des Ostens und des Westens studiert. In seinen Werken präsentiert Wilber einen detaillierten Gesamtumriss des spirituellen Weges, vom Anfang bis zum Ende.
Die grundlegenden Strukturen des menschlichen Bewusstseins verändern sich nicht von einer geschichtlichen Periode zur nächsten. Die Phasen, durch die das menschliche Bewusstsein zu dem voranschreitet, was im Christentum als die Vereinigung mit Gott oder die innere, nicht-duale Schau des Himmelreiches auf Erden bezeichnet wird, sind heute nicht anders, als sie es auch für frühere Menschen gewesen sind. In der Philosophie bezeichnet man diese feststehende Struktur der menschlichen Bewusstseinsentwicklung deshalb als Philosophia perennis, die immerwährende Philosophie. Diese grundlegenden Strukturen sind in Ost und West gleichermaßen gültig.
Wilber stützt seine Untergliederung auf die Arbeit sämtlicher nicht nur erkenntnistheoretischer Ansätze, er berücksichtigt nicht nur die Psychologie, die Mystik und die Philosophie. Seine Terminologie hat Wilber zum Teil von dem deutsch-schweizerischen Philosophen Jean Gebser übernommen. Gebser veröffentlichte 1949 als Professor für vergleichende Kulturlehre die monumentale, vergleichende Kulturstudie “Ursprung und Gegenwart“. Es ist grundsätzlich wichtig, auf eine stimmige Terminologie zu verweisen, da eines der größten Hindernisse für die Erklärung und Kartographierung des spirituellen Weges darin besteht, dass die spirituelle Terminologie weltweit schon immer dem Turmbau zu Babel glich. Daran hat sich bis heute nur wenig geändert.
Wilber schildert nicht nur die Entwicklung des individuellen Bewusstseins vom dem des Säuglings bis hin zum höchsten mystischen Zustand, sondern er spricht auch über die geschichtliche Bewusstseinsentwicklung der menschlichen Rasse. Dabei stützt er sich wiederum auf die Arbeit von Gebser und auf die des deutschen Philosophen Jürgen Habermas. Er legt dar, dass die menschliche Rasse in ihrer Gesamtheit bereits drei Bewusstseinsstufen durchlaufen hat, die archaische, die magische und die mythische. Sie befindet sich aktuell auf der vierten, der rationalen Bewusstseinsstufe. Wilber weist darauf hin, dass die Menschen auf jeder Bewusstseinsstufe die Welt tatsächlich anders wahrnehmen.
Das jeweilige Bewusstseinsvermögen der Menschen bestimmt deren Wahrnehmung
und die sich daraus ableitenden Wertvorstellungen und hat somit selbstverständlich einen Einfluss darauf, welche Form von Weltsicht, Kultur, Gesetze und Institutionen sie sich erschaffen. Wenn die Mehrheit der Menschen oder die Verantwortlichen eines Sozialsystems auf eine höhere Bewusstseinsstufe gelangen, verändert sich in der sie umgebenden Kultur vieles, denn alte Formen und Institutionen zerbrechen und neue Formen versuchen, ihren Platz einzunehmen. Im Laufe der vergangenen hundert Jahre war dies in einem sich ständig beschleunigenden Tempo der Fall.
Wilber unterteilt den spirituellen Weg in neun Stufen, von denen jede einer gesonderten Bewusstseinsstufe entspricht und jede dieser Stufen könnte noch weiter unterteilt werden. Er warnt allerdings, dass man diese Stufen nicht als neun aufgeräumte kleine Schachteln verstehen dürfe. Zum einen können sich die Bewusstseinsstufen bis zu einem gewissen Grad überlappen. So kann beispielsweise eine neue Stufe beginnen, bevor eine andere vollständig abgeschlossen ist, obgleich zumeist die Erfahrung gemacht wird, dass der Absatz zwischen zwei Stufen deutlich wahrnehmbar ist. Zum anderen kann der Mensch mit beginnender Entwicklung des Verstandes bestimmte Bereiche seines Bewusstseins, die er nicht anzunehmen vermag, verdrängen ‒ beispielsweise gewöhnliche sexuelle oder aggressive Gefühle. Diese Bereiche können auf einer niedrigeren Stufe stecken bleiben und somit die Energien dort so sehr erschöpfen, sodass sie, wenn sie nicht früher oder später geklärt werden, ein Voranschreiten zu den höchsten spirituellen Stufen verhindern können. Auch kann ein Mensch zur nächst höheren Bewusstseinsstufe gelangen, ohne die Stufe darunter vollständig gemeistert zu haben. In der Regel sind nur grundlegende Fähigkeiten auf einer Bewusstseinsstufe notwendig, ehe man zur nächsten Stufe gelangt.
Auf jeder Stufe können Dinge falsch laufen,
angefangen z.B. auf der ersten Stufe mit einer Psychose, der schlimmsten Form geistiger Krankheit. Allgemein kann gesagt werden, dass es umso schwieriger und zeitaufwendiger ist, eine Situation zu bereinigen und zu integrieren, je früher die Entwicklung in ungesunder Weise verlaufen ist. Schließlich kann es, wie Jesus klar machte, auf dem Weg zu Problemen, Missverständnissen und Streitigkeiten kommen, die umso größer sind, je weiter unsere eigene Bewusstseinsstufe über die der Familie, der Gemeinschaft, der Glaubensbrüder und der kulturell erlangten Stufe hinausgeht (Lukas 14,26). Dafür ist seine Erfahrung am Kreuz Beleg.
Ein dritter Mangel der tradierten Landkarten des menschlichen Bewusstseins liegt darin, dass die alten Mystiker den Unterschied zwischen Bewusstseinsstufe und Bewusstseinszustand nicht erkannten. Im Gegensatz zu Bewusstseinsstrukturen oder -ebenen, welche permanente Errungenschaften darstellen, sind Bewusstseinszustände flüchtiger Natur. Sie kommen und gehen und schließen einander aus. Wer z.B. betrunken ist, der ist nicht gleichzeitig nüchtern. Weil Bewusstseinszustände sehr veränderlich und fluide sind, können innerhalb kurzer Zeit große Veränderungen, z.B. Gipfelerfahrungen, eintreten. Dieses gilt für die Bewusstseinsstrukturen hingegen nicht.
Entscheidend bei der Betrachtung der Entwicklung des Bewusstseins ist allerdings die tatsächliche Veränderung. Das alleinige Wissen um Stufen des Bewusstseins bewirkt keine spirituelle Erhebung. Allein das Durchleben der einzelnen Phasen bewirkt ein Hineinwachsen in die nächsthöhere Stufe und eine Integration, die tatsächlich zu einer Veränderung der Persönlichkeit führt und sich auch auf die materielle Ebene auswirkt. Spirituelles Wachstum ist ein Prozess, was bedeutet, dass sich etwas verändert. Daher sind Veränderungen in der Persönlichkeit des Menschen das Maß für die Entfaltung des Bewusstseins.
07.08.2024
AMORC
Text (c) AMORC
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