„Die höhere Welt ist uns näher, als wir gewöhnlich denken.“
Interview mit Alexander Crocoll, dem neuen Großmeister des AMORC für den deutschsprachigen Raum
Seit Sommer 2022 wird AMORC – Die Rosenkreuzer im deutschsprachigen und südslavischen Raum von Alexander Crocoll geleitet. Diese Aufgabe als „Großmeister“, so lautet der traditionelle Titel, den er in diesem Amt seither trägt, übernahm er von Maximilian Neff; dieser hatte den Alten und Mystischen Orden vom Rosenkreuz AMORC in Deutschland, Österreich und der Schweiz seit 1999 durch seine hingebungsvolle Arbeit nachhaltig geprägt.
Nun stellt „der Neue“ sich und seine Zielsetzungen sowie die besonderen Anforderungen seines administrativen und rituellen Amtes in einem Interview vor, das Walburga Manthey (WM) Ende 2023 mit ihm (AC) führte.
WM: Hallo Alexander! Ich freue mich sehr, dass du dir die Zeit für dieses Interview genommen hast und ich dir einige Fragen zu deiner doch besonderen Funktion und deiner Rolle in unserem Orden stellen darf.
AC: Hallo Walburga!
WM: Alexander, du bist seit vergangenem Jahr Großmeister des Alten und Mystischen Ordens Rosae Crucis für den deutschsprachigen Raum. Die Bezeichnung ‚Großmeister‘ klingt ungewöhnlich, für manche Ohren sogar ziemlich schräg; man kennt sie vielleicht von einigen asiatischen Kampfsportarten. Kannst du erklären, was es mit der Bezeichnung ‚Großmeister‘ in Verbindung mit unserer mystisch-philosophischen Gemeinschaft auf sich hat?
AC: Ja, du hast schon recht. Die Bezeichnung ‚Großmeister‘ hat zunächst vielleicht etwas Merkwürdiges; der Titel klingt ein bisschen antiquiert, irgendwie vielleicht auch aus der Zeit gefallen. Im Alltag oder in unserer profanen Welt begegnet man ja auch keinem Großmeister; außer vielleicht einem Schach-Großmeister.
In der Welt des Rosenkreuzes ist das Amt des Großmeisters in erster Linie ein rituelles Amt und steht somit für eine Funktion unseres eigenen Wesens, den Inneren Meister.
Ein Meisteramt erinnert uns an die hohe Bedeutung des Meisters in uns selbst und bekräftigt unseren Auftrag und unsere Bestimmung, mit dieser Funktion des Inneren Meisters immer besser in eine lebendige Beziehung zu treten und durch diese Erfahrung in gewisser Weise das eigene Leben zu wandeln.
Aber im Außen, in unserer äußeren Welt, bin ich genauso wenig ein Meister wie alle anderen auch; und in diesem Sinne gibt es bei AMORC weder Meister noch Schüler. Es gibt nur uns als Menschen, die gemeinsam diesen mystischen Weg gehen, eben den Weg des Rosenkreuzes.
WM: Wenn man aber am Rande etwas von deinem Arbeitspensum mitbekommt, dann geht das doch über ein rein rituelles Amt hinaus. Was macht ein Großmeister noch? Was sind deine Aufgaben?
AC: Als Großmeister bin ich verantwortlich für unsere Organisation im deutschsprachigen Raum. AMORC ist nach Sprachgebieten aufgeteilt und nicht nach Ländern, d.h. also in Bezug auf die deutschsprachige Jurisdiktion: Deutschland, Österreich, die deutschsprachige Schweiz, Liechtenstein und Luxemburg. Dazu gehören auch alle Mitglieder, die ‒ egal in welchem Land ‒ Ihre Studienunterlagen in deutscher Sprache erhalten und der südslavische Raum, dessen Administration formal der Deutschen Großloge zugehörig ist.
Aber wie man dieses Amt ausfüllt ‒ also welche Aufgaben das ganz konkret umfasst ‒ da ist man doch sehr frei. Da gibt es eigentlich keine Vorgaben, d.h. ich setze selbst die Schwerpunkte während meiner Amtszeit. Wie ein einzelner Großmeister das dann gestaltet, das hängt natürlich auch sehr stark von den Gegebenheiten ab. Da spielen Dinge eine Rolle, wie die Größe einer sprachlichen Jurisdiktion oder traditionell gesprochen einer Großloge ‒ was in Beziehung steht zur Anzahl der Mitglieder ‒, die Anzahl der Städtegruppen und all solche Dinge. Klar, die Finanzen haben natürlich immer einen großen Einfluss auf das, was möglich erscheint und was eben nicht.
Aber um es mal ganz konkret zu machen. Ich habe ja bereits vorher für AMORC gearbeitet und hatte eine mehr als ausgefüllte Tätigkeit. All diese Dinge fallen ja nicht plötzlich weg. Das heißt also, dass mein Arbeitsalltag sehr stark geprägt ist von eher administrativen Dingen. Da geht es dann um Angelegenheiten wie Finanzen, unsere IT-Infrastruktur, Datenbanken oder Webseiten, Öffentlichkeitsarbeit und all solche Sachen. Immer geht es aber darum, dafür Sorge zu tragen, dass AMORC im Rahmen seiner Möglichkeiten einen guten Weg geht und seiner Kernaufgabe gerecht werden kann, nämlich diesen wunderbaren mystischen Weg im Zeichen des Rosenkreuzes zu bewahren und weiterzutragen. Es ist also immer auch ein Ringen um die aktuelle Form, auch wenn der eigentliche Inhalt, die Lehren, unverändert sind, wie sich ja auch das Wesen des Menschen nicht geändert zu haben scheint. Was sich aber stets ändert, sind wir selbst im Außen, d.h. unsere Denkweisen, Gewohnheiten, gesellschaftlichen Konventionen. Hier eine zeitgemäße Form für einen quasi zeitlosen Inhalt zu finden ist natürlich nicht immer einfach, das sieht man ja schon an so althergebrachten Begriffen wie ‚Großmeister‘. Ich bin mir also der vielfältigen Herausforderungen und Schwierigkeiten der vor uns liegenden Zeit beschleunigter Veränderungen bewusst. Wir leben in Zeiten des so dringend erforderlichen Wandels, sei es auf individueller oder kollektiver Ebene, und dieser Wandel macht natürlich auch vor AMORC nicht Halt.
WM: Nochmal zurück zu deiner Funktion. Du leitest AMORC, das heißt in gewisser Hinsicht auch Führung. Was bedeutet in diesem Zusammenhang ‚Führung‘ für dich? Gibst du eine spirituelle Richtung vor?
AC: Für mich sind das zwei Fragen, wobei sich die eine nach der ‚Führung‘ mehr auf das Außen bezieht, die Frage nach der ‚spirituellen Richtung‘ mehr auf das Innere.
Ich fange mal mit der Frage nach der ‚Führung‘ an. Ich hatte ja vorhin schon gesagt, dass es meinem Verständnis nach bei uns, also bei AMORC, weder Meister noch Schüler gibt. Ganz konkret heißt das für mich, dass ich ‒ wie jeder andere auch ‒ zwar gewisse mehr oder weniger fundierte Ansichten habe, dass ich mir aber durchaus bewusst bin, dass diese stets von meinem eigenen Standpunkt abhängen und daher immer der Perspektive unterliegen, so wie im Außen alles Sehen immer perspektivisches Sehen ist, und daher andere Perspektiven und Ansichten unberücksichtigt bleiben.
Ich bin also nicht der, der alles kann und weiß, wie es geht. Ich glaube nicht, der zu sein, der neue Wege finden sollte und diese quasi als Vorgabe verordnet. Das können wir gemeinsam besser als es mir je möglich wäre. Wir sind eine Gemeinschaft und wir haben in unseren Reihen so wunderbare Menschen mit so großartigen Fähigkeiten, dass es mir ein Anliegen ist, mehr das Gemeinsame in den Vordergrund zu stellen.
Nicht umsonst bezeichnen wir uns als ‚Bruderschaft‘, wobei das auch wieder so ein althergebrachter Begriff aus unserer Tradition ist, der vielleicht einer Erklärung bedarf. Vielleicht kommen wir im Laufe unseres Gesprächs ja noch dazu, was damit gemeint ist, denn es geht keinesfalls um irgendeine Abgrenzung der Geschlechter.
Doch bevor wir auf die Frage zu sprechen kommen, ob ich als Großmeister eine ‚spirituelle Richtung‘ vorgebe, möchte ich noch kurz bei dem Gedanken der Gemeinsamkeit oder des ‚brüderlichen Miteinanders‘ verweilen, da dies für mich in gewisser Weise eine Art Leitgedanke ist, der sicherlich meine Amtszeit prägen wird.
Dies ist nicht einfach so daher gesagt, sondern entspricht tatsächlich meinem innersten Empfinden und einer Art Sehnsucht. Darüber hinaus scheint es in meinen Augen auch so zu sein, dass dies unserer gegenwärtigen Zeitqualität entspricht, auch wenn wir im Außen oftmals das Gegenteil sehen, also Abgrenzung, Spaltung oder wie auch immer man das bezeichnen mag, was uns eben auch entgegentritt.
Für mich sieht es so aus, dass dieses gemeinsame Miteinander in brüderlicher Verbundenheit ganz natürlich den Gezeiten folgt, so wie dies zum Beispiel auch für das Phänomen von Ebbe und Flut gilt. Wir sind mit derartigen Erscheinungen der Periodizität bzw. dem Gesetz des Rhythmus vertraut, sei es ganz unmittelbar aus der Betrachtung der Natur, aus Schriften wie dem Kybalion oder natürlich auch aus unseren Lehren. Doch auch Psychologen, Theologen, Philosophen und sogar Naturwissenschaftler erkennen dieses Gesetz im Rahmen der Entfaltung unseres Bewusstseins, sei es auf individueller oder kollektiver Ebene.
WM: Das Gesetz des Rhythmus bei der Entfaltung des Bewusstseins? Kannst du das näher erklären?
AC: Basierend auf den Arbeiten von Jean Gebser und Ken Wilber haben Wissenschaftler ganz unterschiedlicher Fachbereiche eine bemerkenswerte Entdeckung gemacht. Die großen Themen der verschiedenen Stufen der Entfaltung des Bewusstseins wechseln sich gewissermaßen ab. Wie bei einem riesigen Pendel schwingen sie hin und her zwischen dem Einzelnen und der Gruppe, zwischen Ich und Wir. Und wenn das Pendel nach einem großen Schwung wieder zum Ausgangspunkt zurückkehrt, so hat sich dieser bereits geändert. Es geht also um mehr als ein bloßes Hin und Her, so dass die Spirale als geeignetes Symbol dieser Höherentwicklung erscheint.
In der Vergangenheit war vieles in unserem Orden auf das Amt des Großmeisters ausgerichtet. Jetzt schwingt das Pendel in die andere Richtung, hin zu dem, was ich gerne als gemeinsames Miteinander in brüderlicher Verbundenheit bezeichne. Es wird nicht allein aufgrund der Umstände künftig darauf ankommen, die Aufgaben und Verantwortlichkeiten auf mehrere Schultern zu verteilen und gemeinsam als Brüder und Schwestern an der großen Aufgabe zu wirken.
Also, um auch diesen Gedanken etwas konkreter zu machen. Es ist mir ein Anliegen und – mehr noch! – ein Herzenswunsch, dass mehr Brüder und Schwestern in Erscheinung treten und wir die lebendige Vielfalt zum Ausdruck bringen, die bei uns lebt. Dazu gehört, vorhandene Gremien zu stärken wie zum Beispiel unseren Vorstand ‒ wir sind ja als non-profit-Organisation formal als Verein organisiert und da gilt es, die entsprechenden vorhandenen Strukturen zu stärken, hin in Richtung zu mehr Mitsprache, mehr Transparenz und so weiter.
Aber, und das erscheint mir mindestens genauso bedeutsam, mehr Raum zu geben, damit sich Mitglieder mehr einbringen können, also diese etwas unidirektionale Richtung zu ändern. Das heißt wiederum konkret, es zu ermöglichen, dass Menschen zusammenkommen können, um in Gruppen Schwerpunkte unserer Arbeit weiterzuentwickeln. Du selbst, liebe Walburga, kennst das ja, bist selbst sehr engagiert und bringst Dich auf Deine so wunderbare Art mit ein. Das ist es, was ich so sehr schätze und fördern möchte.
WM: Und ich kann dazu nur sagen, dass es mich unglaublich bereichert, mir Freude bereitet, mich einzubringen und mitzuwirken an diesem großen Ganzen, zumal ich in einem grandiosen Team arbeite, das sich gegenseitig ergänzt und befeuert.
Ich möchte doch gerne nochmals auf die Frage zurückkommen, ob du eine ‚spirituelle Richtung‘ vorgibst.
AC: Danke, dass du mich zu deiner Frage zurückbringst und mich wieder einfängst.
Ganz klar, nein, ich gebe keine spirituelle Richtung vor. Der Orden mit seinen seit Jahrhunderten überlieferten Lehren stellt lediglich Werkzeuge zur Verfügung. Das sind in erster Linie unsere Monographien; diese sind ‒ so könnte man sagen ‒ eine Art Heftchen im A5-Format und einem Umfang von meist so zwischen 12 und 20 Seiten. Es heißt immer, dass wir diese in unserem Heimsanktuarium ‚studieren‘. Ich selbst reibe mich ein wenig an diesem Begriff, da wir ja eigentlich nicht studieren, denn es ist doch weit mehr als eine rein rationale Tätigkeit. Darauf deutet bereits der Begriff ‚Heimsanktuarium‘; das ist ein Ort, den wir uns schaffen, quasi ein für uns heiliger Ort, an dem wir uns diesen Schriften widmen. Wir schaffen eine Atmosphäre, in der es uns leichter fällt, uns unserem inneren Wesen zuzuwenden. Natürlich nimmt auch unser Kopf etwas auf und unser Weltbild und unsere Geisteshaltung verändern sich im Lauf der Zeit. Aber wichtig ist immer auch das Tun, d.h. in diesen Schriften werden Übungen vorgeschlagen, denen man sich widmen kann und die den Weg in unser Innerstes begünstigen, hin zu dem, was wir als das ‚Erkenne Dich selbst‘ bezeichnen. Es geht also auch um eine Art der Selbstbetrachtung, da spielen Kontemplation und Meditation eine große Rolle. Das sind ganz allgemein gesprochen jene Dinge, die man für sich alleine tut. Aber es gibt natürlich weitere Möglichkeiten. Rituale spielen eine besondere Rolle bei unseren Zusammenkünften, vor allem im Rahmen der Städtegruppen. Wir haben als Angebot Seminare und Konklaven, die man besuchen kann, sofern man das möchte. Oder wir haben die so genannte Akademie Rosae Crucis, die man ab einer bestimmten Stufe, d.h. einem gewissen Studienstand besuchen kann. Akademie, das klingt irgendwie akademisch. Aber das ist es natürlich gar nicht. Hier geht es darum, mit verschiedensten Symbolmodellen zu arbeiten, um dadurch die so genannte ‚Mystische Sprache‘ zu erlernen.
Aber bevor ich mich wieder verliere, du hast bestimmt weitere Fragen vorbereitet, denen sicherlich auch irgendeine Ordnung zugrunde liegt.
WM: Oh ja, das habe ich natürlich, und dein Innehalten bringt mich zum Ausgangspunkt meiner Fragen zurück, nämlich nach dem Amt des Großmeisters. Vielleicht eine abschließende Frage hierzu: Welche Voraussetzungen braucht man, um zum Großmeister zu werden?
AC: Na ja, wie soll ich das sagen. Formale Voraussetzungen im Hinblick auf einen bestimmten Ausbildungsweg oder besondere berufliche Erfahrungen gibt es nicht. Man kann sich auch nicht auf eine solche Stelle bewerben. Man wird von den Verantwortlichen eher in Betracht gezogen und dann vorgeschlagen für dieses Amt. Entscheidend ist dabei, dass man in der Welt des Rosenkreuzes gewissermaßen zu Hause ist, also diesen Weg schon ein gutes Stück weit gegangen ist. Ein irgendwie geartetes Ende dieses Weges gibt es ohnehin nicht; AMORC ist eher eine Art Lebensbegleitung. Es gibt also nicht irgendwann eine Art Zeugnis oder Diplom, auf dem ‚Erleuchtung erlangt‘ steht, ‚Tauglich zum Großmeister‘ oder irgendetwas in dieser Art. Ich für mich kann zum Beispiel nur sagen, dass ich in AMORC meine spirituelle Heimat gefunden habe.
Formal ist es dann so, dass man, nachdem man vorgeschlagen wurde, vom ‚Internationalen Rat‘ gewählt wird. Dieser Rat setzt sich zusammen aus allen Großmeistern weltweit und dem Obersten Leiter des Ordens. Dann finden entsprechende Wahlen im Vorstand statt, da wir ja in Deutschland als Verein organisiert sind und es natürlich auch entsprechende gesetzliche oder satzungsgemäße Regularien einzuhalten gilt. Das für uns Bedeutsamste oder das Entscheidende ist dann die rituelle Einsetzung durch den Obersten Leiter von AMORC.
Ich hoffe, dass ich die Frage damit einigermaßen beantwortet habe. Man merkt ja, dass wir eben keine Firma sind, kein Wirtschafts-Unternehmen, und dass da eher andere Dinge eine Rolle spielen.
WM: Ja, vielen Dank Alexander. In den Informationen zu AMORC kann man lesen: AMORC hat sich zum Ziel gesetzt, an der Höherentwicklung der Menschheit mitzuwirken. Sind Rosenkreuzer die besseren, die höherentwickelten Menschen?
AC: Nein, natürlich nicht. Derartige Aussagen kann man immer auf zweierlei Art lesen. Betrachte ich das rein äußerlich, dann mag das irgendwie elitär klingen. Aber bei uns geht es um eine andere Lesart. Wir sehen die Welt als wesentlich umfassender und großartiger als es eine rein äußerliche, materielle Betrachtungsweise vermuten lässt. Es geht bei uns immer darum, das Innere zu erkennen, also auch die verborgene Seite unseres Daseins zu erfahren. Auf dieser anderen Seite erhalten wir Zugang zu jener Instanz, die wir als unseren ‚Inneren Meister‘ bezeichnen. Und über diesen erhalten wir Zugang zu den höheren Ebenen unseres Daseins, also zu jenen Bereichen, die man als die kosmische und darüber hinaus die göttliche Ebene bezeichnen kann. Diese ‒ sagen wir mal ‚Kosmische Ordnung‘ ‒ ist es auch, die wir in unseren Ritualen symbolisch zum Ausdruck bringen und dadurch erfahrbar machen. Wenn also der Meister ‒ oder von mir aus auch der Großmeister ‒ im Ritual in Erscheinung tritt, dann steht dieser wie all die anderen Ritualbeamten für Aspekte unseres eigenen Wesens. Seine Botschaft entströmt gewissermaßen uns selbst.
WM: Du hast gerade von einer göttlichen Ebene gesprochen oder von Gott, wenn wir so wollen. Auch von unseren inneren Erfahrungen. Auf der weltlichen und äußeren Ebene macht man allerdings oft die Erfahrung, dass man, wenn man über ‚AMORC – Die Rosenkreuzer‘ spricht, als Mitglied einer Sekte angesehen wird. Kannst du ein paar Worte zu diesem Sektenvorbehalt sagen?
AC: Ja klar, sehr gerne sogar, zumal ich mich vor einigen Jahren intensiv mit dieser Frage, diesem Vorbehalt oder auch Vorwurf auseinandergesetzt habe. Einen Artikel darüber findet man zum Beispiel auch auf unserer Webseite (www.amorc.de).
Dieser Vorwurf, AMORC sei eine Sekte, begegnet uns immer mal wieder in den Medien, egal ob in Printmedien oder im Internet. Gelegentlich gibt es auch ganz unsägliche Hetzkampagnen gegen AMORC; da wird dann gerne mit Unwahrheiten und Falschaussagen operiert. Es scheint einfach so zu sein, dass, wenn man als Organisation über Gott spricht und keiner offiziellen Religion oder Konfession zugehörig ist, eben gleich verdächtig ist. Hinzu kommt, dass uns von mancher Seite her auch nicht gerade mit Wohlwollen oder wenigstens Neutralität begegnet wird. Was es auch nicht gerade leichter macht, ist die Tatsache, dass der Begriff ‚Rosenkreuzer‘ nicht gesetzlich geschützt ist, und es zahlreiche Organisationen gibt, die sich auf die Rosenkreuzer berufen, sei es ganz direkt in ihrem Namen oder auch indirekt. Hier wird gerne alles miteinander vermischt. Selbst Journalisten, von denen man meinen sollte, sie hätten vor einer Anfrage entsprechend recherchiert, werfen alle Aussagen oder Praktiken ‒ von welcher Organisation auch immer ‒ in einen Topf. So kommt es häufig zu Verwechslungen; und auch wir halten nicht alle Organisationen für unbedenklich. Manchmal erscheint einem das wie ein Kampf gegen Windmühlen. Aber wie dem auch sei, ich selbst empfinde das zwar manchmal als ärgerlich, messe dem aber keine allzu große Bedeutung bei. Irgendwie scheinen wir damit leben zu müssen. Wer wirklich gründlich recherchiert und nicht jeden Mist glaubt, der irgendwo geschrieben steht, oder, noch besser, wer uns kennen lernt, der merkt dann schon, dass diese Vorwürfe Unsinn sind. Außerdem gibt es Untersuchungen von offizieller Seite, die uns von solcherlei Vorwürfen freisprechen.
WM: Was sind das für Untersuchungen, von denen du da sprichst?
AC: Zum Beispiel hat der Deutsche Bundestag im Jahr 1996 eine Enquete-Kommission unter dem Arbeitstitel „Sekten und Psychogruppen“ eingesetzt. Der Abschlussbericht dieser Untersuchung stellt klar, dass von AMORC als weltanschaulicher Gemeinschaft keine der Gefahren ausgeht, die mit dem Begriff ‚Sekte‘ in Verbindung stehen.
Aber auch von kirchlicher Seite wie der Evangelischen Zentralstelle für Weltanschauungsfragen, der EZW, werden mehr oder weniger regelmäßig derartige Untersuchungen angestellt. Der aktuellste Text der EZW differenziert am deutlichsten zwischen unterschiedlichen Gruppierungen der Rosenkreuzer. Anderen Organisationen bescheinigt diese Untersuchung ‚platte Kommerzialisierung‘ bzw. ‚sektenartige Strukturen‘ in Verbindung mit einer entsprechenden ‚Ausstiegsproblematik‘. AMORC wurde von derartigen und weiteren Vorwürfen freigesprochen.
Sämtliche bislang durchgeführten Untersuchungen sprechen AMORC von jeglicher Sektiererei frei. Wie kann es auch anders sein, handelt es sich doch weder um eine Religion noch um eine Sekte, noch existieren irgendwelche Dogmen.
WM: Du hattest vorhin den Begriff ‚Bruderschaft‘ verwendet. Ein Begriff, an dem ich mich anfangs sehr gerieben habe. Mittlerweile kann ich akzeptieren, dass er eine Art Grundgedanke, Prinzip oder Leitbild von AMORC darstellt. Kannst du den Begriff ‚Bruderschaft‘ ein wenig erläutern?
AC: Schön, dass du darauf zurückkommst. Ich hatte ja vorhin schon erwähnt, dass auch dieser Begriff zunächst einmal etwas verstaubt wirken kann. Das liegt einfach daran, dass sich im Laufe der jahrhundertealten Tradition der Rosenkreuzer Begriffe etabliert haben, die uns heute nicht mehr so geläufig sind, die aber in ihrem Ursprung eine ganz andere Bedeutung haben und eher symbolischer Natur sind. Deshalb halten wir nach wie vor an solchen Begrifflichkeiten fest, wohl wissend, dass diese auf Außenstehende oft merkwürdig und altmodisch wirken, weshalb wir sie in der Öffentlichkeit auch meiden, zumindest ohne weitere Erklärungen. Also vielen Dank für die Möglichkeit, etwas über den Begriff ‚Bruderschaft‘ zu sprechen!
In der Alten Welt bestand eine gewisse Systematik der Geschlechter. Das Problem dabei ist, dass wir heute meist ganz automatisch eine Art von Wertung mitdenken. Eine solche existierte im Ursprung nicht und entspricht späteren Zuschreibungen aufgrund eines Verlusts an Bedeutung und Verständnis, der unsere heutigen Auffassungen in der Regel unbemerkt prägt.
In der antiken Welt nahm ‚der Mann‘ die erste Stelle ein, neben dem Licht, der Sonne und dem Gold; ‚die Frau‘ folgte dann an zweiter Stelle, wie das Wasser, der Mond und das Silber. Der Zusammenhang zwischen Mann und Sonne, zwischen Frau und Mond wird auch heute noch gefühlsmäßig akzeptiert, obwohl das dieser Systematik zugrundeliegende Wissen verloren gegangen ist. Man denke an Zusammenhänge, dass beispielsweise die monatliche Periode der Frau normalerweise der Monatsperiode des Mondes entspricht oder dass die Sonne lichtspendend und der Mond lichtempfangend ist.
So wird die Zahl Eins nicht als Bestandteil eines großen Ganzen angesehen, das aus vielen Teilen besteht, sondern in erster Linie als ein Ausdruck für den Begriff Einheit, der alles umfasst. Die Eins stellt eine Welt dar, außerhalb derer nichts weiter existiert, da alles darin eingeschlossen ist. Der Begriff der Zwei, wie wir ihn kennen, der zwei verschiedene voneinander getrennte Dinge bezeichnet, ist also in der Welt der Eins ausgeschlossen. Sobald es eine Zwei gibt, entsteht eine gänzlich andere Situation, eine neue Welt; es gibt nun die Vielheit gegenüber der geschlossenen, alles umfassenden Einheit. In diesem Sinne wird ‚der Mann‘ als das Primäre, das Geistige oder das Innere angesehen und ‚die Frau‘ als das Sekundäre, das Äußerliche der materiellen Welt.
Es geht also in keiner Weise um Geschlechter, Geschlechterrollen oder unser Geschlechterverständnis. Es geht eher um gewisse Prinzipien als den beiden großen Grundkräften des Kosmos. Demnach ist bei jedem Menschen, ob Mann oder Frau, der Körper das Weibliche, die Frau; und das Innere ist das Männliche, der Mann. Diese Systematik zieht sich durch das gesamte Alte Testament und findet sich selbst im Neuen Testament, die ja beide zusammengehören und als Einheit zu betrachten sind. Wenn es bei Paulus heißt, die Frau solle nicht reden, so bedeutet dies, das Äußere solle nicht den Ton angeben, die äußere Wahrnehmung soll schweigen. Keine Spur davon, dass Paulus Frauen als weiblichen Personen das Wort verbieten will. Die Begriffe männlich und weiblich oder Mann und Frau werden also in der gesamten Bibel in einem ordnungssystematischen Sinne verwandt, meist zur Unterscheidung von Seele und Körperlichkeit.
WM: Abgesehen vom Männlichen und Weiblichen als Symbole hast du im Verlauf unseres Gesprächs andere ‚Symbolmodelle‘ erwähnt. Was ist darunter zu verstehen?
AC: Das mit den Symbolmodellen ist so eine Sache. In der Tradition der Rosenkreuzer gibt es davon mehrere, ‚einen ganzen Stall voll‘ könnte man sagen: Da gibt es zum Beispiel die mystische Welt der Zahlen, die hebräischen Buchstaben, den rosenkreuzerischen Tarot oder den so genannten Lebensbaum. Aber es gehören auch Bücher dazu, die wir gerne als ‚kryptische Werke‘ bezeichnen; hierzu gehören die Fama Fraternitatis, jenes heute schwer verständliche Buch, mit dem die Rosenkreuzer vor über 400 Jahren erstmals an die Öffentlichkeit getreten sind, aber auch die Bibel, und zwar Altes und Neues Testament, insbesondere die Genesis und die Offenbarung des Johannes.
Das sind für uns alles Symbolmodelle, einfach deshalb, weil damit etwas ausgedrückt oder offenbart wird, das zunächst einmal nicht verständlich erscheint. Man benötigt also gewisse Schlüssel, um zu einem Verständnis zu gelangen. Wir hatten das ja eben schon angedeutet, als es um die Bedeutung von Mann und Frau in der Bibel ging; auch die Bedeutung der Zahlen kam da schon zur Sprache.
Es geht also in gewisser Weise darum, die mystische Sprache zu erlernen. Was will ich damit sagen? Wie wir an dem Beispiel mit der Bruderschaft bzw. der Bedeutung von Mann und Frau gesehen hatten, geht es letztendlich immer darum, dass wir mit Begriffen dieser Welt eine ganz andere Welt beschreiben. Wir haben nur die Begriffe aus unserer materiellen Welt; und damit wird seit Urzeiten versucht, jene andere geistige oder kosmische Welt zu beschreiben. Also konkret, wir verwenden die Begriffe ‚Mann‘ und ‚Frau‘, Begriffe unserer äußeren Welt, um die Kosmische Welt und deren Prinzipien zu beschreiben, also das Primäre und das Sekundäre, das Innere und das Äußere, oder das Geistige und dessen Hülle, das Materielle.
WM: Warum braucht man dazu mehrere Symbolmodelle und nicht ein einziges, ein umfassendes?
AC: Man braucht die Symbolmodelle natürlich gar nicht. Die meisten Menschen leben ganz gut ohne solche Modelle. Aber Menschen, die höhere Erfahrungen gemacht haben oder, sagen wir, die geistige Welt berührt haben, empfanden diese Erfahrungen als so großartig, dass sie versucht haben, dem Erlebten Ausdruck zu geben, es also in eine Form zu bringen.
Immer wieder taucht die Frage nach einem einzigen Modell auf, das alles erklärt. Das ist wie mit der Suche nach der Weltformel. Diese Modelle sind einfach zu verschiedenen Epochen entstanden, drücken aber irgendwie doch alle das Gleiche aus. Man muss aber aufpassen und sollte nicht alles in ein Schema zu pressen versuchen. Diese Modelle sind lediglich die äußere Hülle für etwas Anderes; und wir hatten ja schon darüber gesprochen, dass im Außen alles der Perspektive unterliegt. So kommt es, dass sich diese Modelle auch unterscheiden und man sollte verschiedene Traditionen auch auseinanderhalten und nicht alles miteinander vermischen.
Ein Beispiel: Wir hatten vorhin im Zusammenhang mit der symbolischen Sprache der Bibel gesagt, dass ‚die Frau‘ für das Äußere steht, quasi für die materielle Hülle, ‚der Mann‘ hingegen für das Innere, die geistige Seite. Dieses Prinzip finden wir auch bei den Tarotkarten wieder, allerdings gerade umgekehrt. Hier gibt es zum Beispiel den Schlüssel 6; er heißt die Liebenden. Hier ist es so dargestellt, dass der Mann für das Äußere steht und die Frau für das Innere. Aber es geht um das gleiche Prinzip, allerdings in verschiedener Form. Man muss also schon darauf achten, in welcher Symbolwelt man sich bewegt. Wir dürfen nicht vergessen, dass wir von Symbolmodellen sprechen. Ich will das einmal so erklären, weil ich von meiner Ausbildung her Naturwissenschaftler bin. Auch in der Wissenschaft werden Modelle aufgestellt; diese Modelle dienen dazu, uns die Wirklichkeit zu erklären und daraus Schlüsse zu ziehen. Modelle sind also sehr nützlich. Aber es bleibt eine Tatsache, dass es eben Modelle sind und nicht die Wirklichkeit selbst. Modelle verweisen also stets auf etwas Anderes. Das ist in etwa so wie eine Landkarte; sie ist nützlich und hilfreich, ist aber nicht der Weg selbst. Den entdecke ich erst, wenn ich mich wirklich auf den Weg mache und aufbreche zu meiner ganz persönlichen Reise.
WM: An dieser Stelle könnte man viele weiterführende Fragen stellen, und ich glaube, wir könnten noch sehr lange weiterreden. Aber ich würde dir gerne auch noch ein paar persönliche Fragen stellen. Was hältst du davon?
AC: Von mir aus, gerne, warum nicht? Ich bin zwar der Ansicht, dass es nicht um mich als Person geht, aber wir alle wissen doch ganz gerne, mit wem wir es zu tun haben, und gerade das Persönliche und das Menschliche ist natürlich auch wichtig und gehört zu unserem Leben. Also los, frag halt mal!
WM: Die meisten Menschen sind eher im mittleren Alter, wenn sie zu AMORC kommen; wenn sie empfinden, dass die Tiefe in ihrem Leben fehlt und sie diesem eine andere Richtung geben wollen. Von dir wissen wir, dass du schon in sehr jungen Jahren zu AMORC gefunden hast. Woher kam dein frühes Interesse an Fragen der Spiritualität und der Mystik?
AC: Das weiß ich selbst nicht so genau. Vielleicht ist das ein Wesenszug von mir, oder vielleicht habe ich in meinem letzten Leben einen guten Anker geworfen. Ich kann das wirklich nicht genau sagen, es entspricht mir einfach.
WM: Warum hast du dich damals für AMORC entschieden und nicht für eine andere spirituelle oder religiöse Gemeinschaft?
AC: Auch das kann ich nicht wirklich sagen. Ich war noch sehr jung und habe bereits in frühen Jahren viel psychologische, esoterische oder spirituelle Literatur gelesen. Mich hat irgendwie alles interessiert, was über den normalen Alltag hinausweist. Irgendwann habe ich eine Anzeige von AMORC gelesen und wusste sofort: ‚Das ist es!‘ Ich war damals noch minderjährig und hätte die Unterschrift meiner Eltern benötigt, um Mitglied werden zu können. Da dies nicht möglich war, habe ich anderthalb Jahre gewartet und dann wieder da hingeschrieben, so nach dem Motto: ‚Ich bin jetzt volljährig, möchte Mitglied werden, bin allerdings Schüler und habe nicht genügend Geld für die Mitgliedsbeiträge‘. Ja, so kam das; man kam mir zunächst finanziell entgegen, und seither bin ich Mitglied. Aber da gibt es natürlich ‒ wie vermutlich bei jedem Menschen oder den meisten unserer Mitglieder ‒ verschiedene Phasen. So gab es Zeiten, da standen bei mir andere Dinge im Vordergrund, also etwa Diplomarbeit, Doktorarbeit, Familie gründen, die Kinder kommen auf die Welt. Solche ganz normalen Dinge eben.
WM: Also kein monastisches Leben, sondern eher ein sehr weltzugewandtes. Magst du etwas über deine ersten Erfahrungen mit AMORC erzählen?
AC: Da fallen mir zwei Begebenheiten ein: Die eine geht in die Richtung, in die du vermutlich mit Deiner Frage zielst, das war allerdings noch vor AMORC; die andere betrifft eher meinen ersten erfolglosen Versuch, eine Städtegruppe zu besuchen.
Also zunächst zu dem, was du vermutlich mit einer bestimmten Art von Erfahrungen meinst. Ich war damals noch in der Grundschule, vermutlich in der dritten oder vierten Klasse. Ein Klassenkamerad, der Rainer war das, mit dem war ich gut befreundet und wir waren fast täglich am Nachmittag zusammen. Sein Vater war Arzt und Rainer erzählte mir eines Tages, dass sein Vater gesagt hätte, ein Mensch könne sich nicht selbst erwürgen; er würde in Ohnmacht fallen, bevor er sterben würde. Das war offenbar so interessant für uns, dass wir das ausprobieren wollten. Wir begannen also uns selbst zu würgen und irgendwie hatte ich es wohl geschafft, dass Folgendes passierte: Ich war außerhalb meines Körpers und schwebte unter der Decke. Ich sah wie Rainer ganz aufgeregt seine Mutter holte. Mein Körper lag da am Boden und ich beobachtete von oben, wie Rainers Mutter ins Zimmer kam, sich an mir zu schaffen machte. Sie kniete sich nieder, rüttelte an mir und gab mir zwei leichte Ohrfeigen. Und dann war das Ganze auch schon wieder vorbei und ich merkte, wie ich wieder in meinen Körper kam.
Ich habe das natürlich zunächst wieder vergessen, zumindest hatte dieses Erlebnis keine große Bedeutung für mich. Später allerdings, als ich anfing zu lesen, da las ich natürlich auch irgendwann etwas über solche Dinge, außerkörperliche Erfahrungen und so was. Und da fiel mir das Erlebte wieder ein. Da ich es selbst erlebt hatte, stellte ich das Gelesene natürlich auch nicht in Frage. Oftmals werden derartige Erlebnisse ja in Frage gestellt. Unabhängig davon, wie man eine solche Erfahrung interpretieren mag, das persönliche Erlebnis lässt sich nicht leugnen. Und das war vielleicht förderlich für meine Entwicklung; ich durfte frühzeitig lernen, meinen eigenen Erfahrungen zu vertrauen. Meist sind unsere Ansichten oder Weltbilder ja bereits durch unsere Erziehung, unser total veräußerlichtes Weltbild oder unseren übertriebenen Materialismus derart festgezimmert, dass vieles außen vorbleibt und wir uns dadurch selbst begrenzen. Also die Botschaft ist, sich selbst zu vertrauen. Die Welt ist wesentlich umfassender und großartiger, als wir es vielleicht vermuten.
Das zweite Erlebnis, das ich erwähnen möchte, ist der erste Versuch, eine Städtegruppe zu besuchen. Ich war gerade erst Mitglied geworden und wollte auch in eine Städtegruppe gehen. Ich war also überpünktlich da und beobachtete die Menschen, die da in das Haus reingingen. Klar, die waren alle älter als ich; aber das war es nicht, was mich davon abhielt, da reinzugehen. Die waren alle gut gekleidet, wirkten irgendwie steif auf mich. Ich schaute an mir herunter ‒ abgerissene Jeans, lange Haare bis zum Bauchnabel. Irgendwie meinte ich, da passe ich nicht rein. Und so hat es noch viele Jahre gedauert, bis ich mich einer Städtegruppe anschloss. Klar, ich hatte mich auch verändert und traute mich da jetzt rein. Ich wurde herzlich aufgenommen, es war in keinster Weise unangenehm, eher ungewohnt. Als ich dann beim zweiten oder dritten Mal an einem Pronaos-Ritual teilnehmen konnte, wurde ich danach gefragt, wie ich das empfunden hätte. Und es war tatsächlich ein Gefühl, wie ein Nach-Hause-kommen. Ich wusste, hier bin ich richtig und auch am richtigen Platz.
Warum ich das erzähle? Nun vielleicht, weil wir zu oft vorschnell urteilen, zu sehr an Äußerlichkeiten haften. Aber ganz aus uns selbst heraus wissen wir schon, was wirklich zu uns gehört. Manchmal benötigt es einfach Zeit und Geduld, um den nächsten Schritt zu wagen. Entfaltung ist ein langsamer Prozess und oftmals so subtil, dass wir es selbst zunächst nicht bemerken.
WM: Du bist wie andere Führungspersönlichkeiten in ständigem Einsatz. Wie findest du Erholung? Wie tankst du Kraft? Nimmst du dir auch mal eine AMORC-Auszeit?
AC: Na ja, ich weiß schon, dass das Arbeitspensum derzeit viel zu viel ist, und das auf Dauer nicht wirklich gut und gesund sein kann. Ich lebe mit der Hoffnung auf das erwähnte gemeinschaftliche Miteinander und gehe davon aus, dass sich die Situation wandeln wird, dann, wenn die Bedingungen dafür geschaffen wurden. Und erste Früchte sieht man ja bereits. Du selbst gehörst ja unter anderem zu dem Team, das sich um die Podcasts kümmert. Was meinst du, wie viele Jahre das schon gärt und nicht möglich war, einfach aus zeitlichen Gründen. Nun aber ‒ gemeinsam ‒ wird vieles möglich, vieles auch, wovon wir nicht einmal zu träumen wagten.
Aber um deine Frage nach der Erholung zu beantworten. Klar ist es übermäßig viel, was es alles zu tun gibt. Aber da ich das selbst gar nicht nur als Arbeit empfinde und mit Freude meine Tätigkeiten verrichte ‒ na ja, meistens jedenfalls ‒, raubt mir dies auch keine Kraft. Ich benötige also wenig Erholung. Erholung heißt für mich, am Morgen sehr früh aufzustehen und erst mal sehr viel Zeit mit mir selbst zu verbringen ‒ bevor es dann losgeht, die Familienmitglieder aufstehen und der Tag dann nochmal beginnt, auf eine andere Art. Aber ich genieße es auch, wenn es mal einen Tag ohne Verpflichtungen gibt, sehr sogar.
WM: AMORC weist immer mal wieder darauf hin, wie bedeutend es für unsere Gedankenwelt ist, welche Informationen wir aufnehmen und in uns hineinlassen. Liest du trotzdem manchmal einen ganz normalen Krimi, schaust du ab und zu einen Tatort?
AC: Ich lese sehr gerne und sehr viel. Krimis sind allerdings nicht so mein Ding. Früher habe ich gerne immer mal wieder Romane gelesen… Doch, eine bestimmte Art Krimis habe ich auch gerne gelesen; das waren dann aber eher so Science-Fiktion Thriller, irgendwas mit Genetik, Gentechnik, so in der Art.
Tatort habe ich auch ganz gerne geschaut, aber mittlerweile seit Jahren nicht mehr. Die neuen Folgen waren mir meist zu psychomäßig, zu brutal, zu kaputt. Ich schaue seit längerer Zeit so gut wie kein Fernsehen. Das erscheint mir meist wie Zeitverschwendung; ich habe einfach andere Sachen, die ich weitaus lieber mache; Kochen zum Beispiel, da kann ich völlig abschalten; das ist dann fast wie eine Meditation.
WM: Gibt es Texte aus der AMORC-Literatur, die dir besonders am Herzen liegen? Welches Buch, welchen Text sollte man auf jeden Fall gelesen haben?
AC: Mit Buchempfehlungen habe ich es nicht so. Das liegt vielleicht daran, dass das zu oft nicht funktioniert. Was der eine gerne mag oder was ihn zum jeweiligen Zeitpunkt total anspricht, sagt dem anderen in dem Moment vielleicht gar nichts. In beide Richtungen habe ich das schon so oft erlebt. Das klappt meiner Erfahrung nach nur mit Menschen, denen man sehr nahesteht oder mit denen eine besondere Beziehung besteht.
Ein Text, den ich wunderschön finde, ist die Desiderata, und es freut mich natürlich sehr, dass dieser Text in einer der nächsten Folgen auch als AMORC-Podcast erscheinen wird.
Aber ein Zitat könnte ich vielleicht zum Abschluss mit auf den Weg geben, das zumindest mich sehr stark berührt ‒ immer wieder; es sind Worte von Novalis.
„Die höhere Welt ist uns näher, als wir gewöhnlich denken.
Schon hier leben wir in ihr, und wir erblicken sie auf das innigste mit der irdischen Natur verwebt.“
WM: Dann beenden wir mit diesen schönen poetischen Novalis-Worten dieses reichhaltige Gespräch. Herzlichen Dank, lieber Alexander, dass du dir so viel Zeit genommen hast und so ausführlich auf alle Fragen eingegangen bist!
07.04.2024
Dr. rer. nat. Alexander Crocoll
Bild und Text (c) AMORC
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Vita:
Dr. rer. nat. Alexander Crocoll, geb. 1966. Während seiner wissenschaftlichen Tätigkeit Publikation von Arbeiten zur Genetik molekularer Embryologie.
Er beschäftigt sich seit frühester Jugend mit spirituellen Fragen, ist seit drei Jahrzehnten AMORC-Mitglied, Großmeister und 1. Vorstand von AMORC e.V.
Walburga Manthey,
68 Jahre alt, ehemalige Hauptschullehrerin.
„1994, vor genau 30 Jahren, habe ich mich auf den Weg des AMORC begeben und bin diesem Weg nach anfänglichen Unterbrechungen mit stetig wachsender Überzeugung treu geblieben. Von Anfang an war ich Mitglied der Städtegruppe Freiburg und habe die gemeinsame Ritualarbeit, das Miteinander und den Austausch mit den anderen Mitgliedern immer als tiefe Bereicherung erlebt.“
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