Spirituelle Praxis – Der Moment der Not – eine Begegnung mit dem Leben
Vor einigen Wochen habe ich einen Vogel gefunden. Er war noch sehr klein und muss aus dem Nest gefallen sein. Es war vormittags und bereits brühend heiß. Er atmete noch, sein kleines Körperchen pulsierte panisch schnell. Es fehlten einige Federn und der Kopf hing schlaff auf dem Gehweg. Wie lange lebt er noch? Kann ich es schaffen, ihn zu retten? Wie? Es ist das erste Mal, dass ich ein Wildtier in Not antreffe und mich in einer Verantwortungsrolle erlebe.
Ein Mann kommt auf mich zu. Ich will ihn um Rat fragen, vielleicht weiß er mehr. Er winkt sofort ab und zuckt mit den Schultern – ihn interessiere es nicht, so etwas passiere halt. Eine Frau mit Kindern. Sie hält an und spricht mit mir. Wie schade es sei, dass sie nun nicht helfen könne, doch sie müsse leider weiter. Ich erkenne vorgetäuschtes Mitgefühl, kein wirkliches Interesse. Ich versuche eine Tierarztpraxis am Ende der Straße anzurufen. Keiner hebt ab. Einige andere Menschen laufen an mir und dem Vogel vorbei. Ich will keinen weiteren mehr fragen.
Etwas distanziert nehme ich leichtes Zittern in meinen Armen wahr. Ich fühle mich energetisch dünn und mehr nach innengezogen. Meine Haut wirkt porös. Im verkörperten Vollkontakt spüre ich es nicht. Mich jetzt mitten auf der Straße verletzlich und berührt sichtbar sein lassen? Meine Aufmerksamkeit wechselt zwischen Armen, Haut und dem oberen Zehntel meines Körpers. Ich weiß, dass es jetzt nur zwei Möglichkeiten gibt: entweder ich gehe den Weg der Kultur und drücke die aufzitternde Energie weg (sodass ich vor anderen Menschen gut dastehe) oder ich gehe den Weg der Wahrheit und lasse mich auf die unmittelbare Erfahrung ein. Die Entscheidung war schon getroffen, bevor ich auf die Straße ging.
Diese unbekannte Situation ist meine Bewusstseinspraxis, mein Vergebungsritual, mein Spiegel. Ich gebe die Kontrolle ab. Ich weiß nicht, wie sich dieser Moment in die Schöpfung einreiht. Ich trivialisiere und verkenne nicht die Möglichkeit für Lebendigkeit. Ich wende mich innerlich an Gott – was willst du das sein lassen?
Not und die Kultur der Ignoranz
Eine alte Erinnerung kommt mir lebendig in den Sinn. Es muss fast 25 Jahre her sein. Der Fernseher läuft. Ich schaue mit meiner Familie die Nachrichten. Eine ungewöhnliche Neuigkeit wird eingespielt. An einer Sparkasse ist ein älterer Mann umgekippt. Er hatte einen Herzinfarkt. Soweit wichtig für die lokale Zeitung, aber ungewöhnlich als Meldung im bundesweiten Fernsehen. Der Mann fiel direkt am Eingang um und war dort unmittelbar sichtbar. Für mehr als zehn Minuten kam keiner zur Hilfe.
Die Sparkassenbesucher schlängelten sich an ihm vorbei oder stiegen mit einem großen Schritt über ihn drüber. Ausschnitte von der Überwachungskamera wurden gezeigt. Es war ein unglaublicher Schock für mein Herz. Wie konnten die anderen Menschen die Not des Mannes so stark ignorieren?
Auch mir ist es in verschiedenen Schweregraden passiert, in Not keine Hilfe erhalten zu haben. Ich erlebte mich Menschen gegenüber, die schnell zum nächsten Businesstermin mussten, mit oberflächlichen spirituellen Sprüchen die Situation wegzureden versuchten oder schlichtweg so starke Wahrnehmungsfilter für die offensichtliche Gewalt hatten, dass sie dafür blind wurden.
Und ich bin leider Seltenheit. Die meisten Menschen haben bereits bis zum dritten Lebensjahr genügend Initiierungen in die Kultur der Ignoranz erhalten, um tiefe Not und Hilflosigkeit in die Tiefen des Unbewussten zu verbannen. Zu überwältigend, zu grausam. Es ist wohl einer der tiefsten kollektiven Schattenräume – der soziale Schmerz durch Verrat in der Not und die heftigen Gefühle von Demütigung, Unwert und Einsamkeit darin.
Dann regen wir uns meist über die anderen auf und sehen uns als Opfer dessen oder wollen als Vorbild die Welt besser machen, doch vergessen dabei, dass wir Teil dieses kollektiven Erfahrungsraumes sind. Wir ignorieren, was in der Tiefe wirklich in uns lebendig ist. Wir antworten nicht mit der ewigen Präsenz des Herzens, sondern praktizieren Selbstverleugnung mit Hoffnungsrufen an die Außenwelt.
Wenn das Bewusstsein wächst und die Not sichtbar wird
Natürlich, denn wir sind nicht mehr damit verkörpert real verbunden. Es erscheint uns als ein äußeres Problem, nicht als Zustand unseres Bewusstseins. In kurz: wir haben tausend Abwehrstrategien dem Leben gegenüber bis zur Unspürbarkeit gelernt, nicht wie wir auf das verkörperte Vibrieren von Not in uns direkt antworten können. Wir wollen die Not, Einsamkeit und Schmerzen nicht fühlen, weil wir nicht wissen, wie wir innerlich damit präsent sein können – dass man damit erlösend präsent sein kann.
Spiritualität beginnt mit Kontaktaufnahme
Durch die innere Arbeit werden wir in diese Erfahrungsräume wieder zurückgeschleudert. All die Notlösungen und Abwehrstrategien von schon Geschehenem werden stetig offensichtlicher. Die Not steigt wieder auf. Viele wundern sich oder schämen sich sogar, dass sie trotz innerer Arbeit sich so fühlen.
Doch sie haben alles richtig gemacht – genau wegen der inneren Arbeit kommen sie mit den zerreißenden Gefühlen der Ohnmacht, Einsamkeit oder Schmerz wieder in Kontakt. Genau durch die Bewusstwerdung werden die Wunden und Traumata sichtbar. All die Träume, was durch Spiritualität möglich wäre, zerplatzen. Es wird unignorierbar deutlich: diese kollektive Trance, die wir Leben nannten, war nichts als eine sehr gut inszenierte Ablenkung von dieser intensiven existenziellen Not. Der Überlebensmodus hinter den Werbeplakaten und Motivationssprüchen schreit uns plötzlich unüberhörbar ins Gesicht.
Von der Isolation in die Begegnung
Dann beginnt der eigentliche Prozess, die eigentliche spirituelle Praxis – und sie ist dreckig! Der Weg aus der Kultur der Ignoranz ist nicht glitzernd und strahlend und instagramreif. Ignoranz will glitzern, vortäuschen und ist auf die Außenwirkung bedacht. Das ist konkret körperlich. Die panischen Hilfeschreie, die niemand hören wollte. Das Zittern vor Todesangst. Die berstende Wut, die den Schweiß auf die Stirn treibt und die Nasenlöcher weitet. So nicht sichtbar sein wollen, heißt auch, Leben in dieser Form ignorieren wollen.
Wir denken, es geht darum, nicht so oder so zu wirken. Doch eigentlich geht es in der Tiefe darum, nicht mit echten Lebenserfahrungen in Kontakt zu kommen. Dann streben wir ein perfektes buddhistisches Lächeln an oder die gut liegenden Haare, statt der unberechenbaren, wilden Verkörperung von der unmittelbaren Erfahrung. Wahrheit kann schwitzen und zittern und schreien. Wahrheit kümmert sich um Wahrheit, nicht um den Applaus der Mitmenschen.
Der Weg zur Wahrheit führt uns also unweigerlich zu allem, was in der Ignoranz der Kulturwelt unterdrückt, beschämt und beschuldigt wird. All das, was unser Ego zerfetzt und unsere so wohlgemeinten Überzeugungen einschmilzt. Wollen wir nicht mehr ignorieren, müssen wir lernen, das von der Kultur ausgeklammerte Erleben wieder zu bejahen.
Die Kapazität zu leben – Du bist größer als die Not
Schwitzend hocke ich neben dem Vogel auf dem Gehweg. Mein Blick auf ihn ist der Blick in die tieferen Schichten des Unbewussten, in denen die Notfelder nach Erlösung rufen. Die Situation bringt mich energetisch in Kontakt mit der tiefen kollektiven Not menschlichen Leidens, auch wenn sie selbst nur eine Brise einer Erinnerung in sich trägt und im Vergleich harmlos ist.
So leicht können diese Momente verkannt werden und für eine Bewusstseinspraxis nicht relevant genug erscheinen. Doch wir begegnen dem Schatten, den Ängsten und Traumata jeden Tag. Nutzen wir die kleinen Momente, können wir in machbaren, realistischen Schritten Lebensenergie durch unsere Nervenbahnen vibrieren lassen und uns durch eine bedingungslose Begegnung mit dem Leben entwickeln.
Nach einigen Augenblicken läuft ein Mann mit einem Hund vorbei. Er dreht um, kommt zurück und fragt, was los ist. Wie sich nach wenigen Sätzen herausstellt, hat er schon einmal einen Vogel gefunden und konnte mir beim Helfen helfen. Nach einigen Telefonaten erreiche ich eine ehemalige Tierpflegerin aus dem Zoo, die ihn aufnehmen und versorgen kann. Wieder frage ich Menschen. Wieder einige Neins – bis ein Bewohner vom gegenüberliegenden Haus vorbeikommt und mir einen Karton von sich gibt.
Sobald das Vögelchen in der Kühle des Kartons liegt, beruhigt sich sein Atem. Später erfahre ich, dass der Federverlust, wie ein Zahnwechsel beim Kind ist. Ihm ging es also doch noch besser als zuerst gedacht.
Mein Körper brummt mit Energie, die durch das Öffnen zum Unvorhergesehenen ins Fließen gekommen ist. Für mich war diese Erfahrung reich und heilsam, weil ich mich davon berühren lassen habe. Die Praxis ist geglückt. Eine Schicht Unbewusstheit ist ausgewaschen, eine Welle von Not aus dem Nervensystem gespült, mein Bewusstsein von Bildern der Ohnmacht erlöst. Meine Kapazität, bedingungslos zu leben, ist gewachsen.
Ich fühle Gott mir zuzwinkern und mich erinnern: du bist mehr als alle Not, die jemals war. So intensiv, so zerreißend, so Furcht einflößend sie auch ist – du bist so viel intensiver und zerreißender und Furcht zerschmelzender. Lass mich dich lehren, dieser Not zu begegnen und dadurch wieder Wahrheit zu sein.
🙋♂️ FAQ – Spirituelle Perspektiven auf kollektive Not
Was bedeutet kollektives Trauma aus spiritueller Sicht?
Kollektives Trauma ist ein verdrängter Erfahrungsraum tiefen Leids, dem wir als Gesellschaft meist mit Abwehr begegnen. Spirituell gesehen ist es ein Spiegel für unsere Trennung vom wahren Selbst – und ein Ruf nach Integration.
Wie hilft spirituelle Praxis bei Ohnmacht und Not?
Indem sie uns lehrt, im direkten Kontakt mit Gefühlen zu bleiben, statt sie zu unterdrücken. So wird das Nervensystem entlastet, Heilung kann geschehen – nicht durch Verdrängung, sondern durch Präsenz.
Warum reagieren Menschen mit Ignoranz auf Leid?
Weil es Teil eines kollektiven Schutzmechanismus ist. Viele haben in der Kindheit gelernt, Schmerz zu verdrängen. Spirituelles Erwachen bedeutet, diese Konditionierungen zu erkennen und bewusst zu transformieren.
🔚 Schlussgedanke
Du bist mehr als jede Not, die dich erschüttert hat.
Dieser Beitrag lädt dich ein, das Erleben von Schmerz nicht länger als Schwäche zu sehen – sondern als kraftvollen Schritt in ein verkörpertes, wahrhaftiges Leben.
17.07.2025
Sara Gnanzou
www.tiefbewegt.blog
Mein Lebensweg hat mich zu einer detektivartigen Selbsterforschung geführt. Dabei habe ich eine innere Neugeburt durchlebt und mich innerlich auf die Wahrheit ausgerichtet. Dafür musste ich intensiver spiritueller Praxis und Reinkarnationsforschung nachgehen. Ich tauchte in die Schattenwelt, ging durch intensive Krisen und begegnete individuellem sowie kollektivem Trauma. Durch die Wandlungsprozesse öffnete sich mein Seelenweg und eine sich schrittweise entfaltende Beziehung zum Leben.
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