Wollen und Sein – die leise Revolution innerer Freiheit
Wir leben in einer Kultur des Wollens. Fast alles, was uns umgibt, ist durchzogen von Zielorientierung, Optimierung und dem Versprechen: Wenn du nur genug willst, wirst du glücklich. Doch wer genauer hinschaut, erkennt ein Paradox: Je mehr wir wollen, desto weiter entfernen wir uns oft von dem, was wir eigentlich sind.
Wollen bedeutet Bewegung – aber wohin? Sein bedeutet Gegenwärtigkeit – aber wer ist da?
Das Wollen – der Motor der Identifikation
Wollen ist per se nichts Schlechtes. Es gehört zur menschlichen Natur, Wünsche zu haben. Hunger, Durst, Neugier – ohne Wollen gäbe es keine Evolution, keine Kunst, keine Liebe. Doch im spirituellen Kontext bekommt das Wollen einen anderen Klang. Es wird zum Schleier.
Denn in dem Moment, in dem wir etwas wollen, erschaffen wir eine Trennung zwischen uns und dem Gewünschten. Wir sind nicht mehr in der Präsenz des Augenblicks, sondern in der Fiktion eines besseren Morgen. Ein Ich, das glaubt, noch nicht vollständig zu sein, macht sich auf den Weg, es irgendwann zu werden.
Das Wollen speist sich oft aus einem Gefühl des Mangels. Es entsteht aus der Vorstellung: Ich bin noch nicht genug. Genau hier liegt die Falle. Denn solange unser Wollen aus dieser inneren Unruhe geboren ist, nähren wir eine Illusion – die Illusion eines Ichs, das durch äußere Umstände erfüllt werden kann.
Sein – das Ende des Mangels
Sein ist ein anderes Prinzip. Es ist kein Zustand, den man erreichen muss. Es ist der Zustand, der immer schon da ist, bevor das Denken einsetzt. Reines Bewusstsein. Präsenz. Nicht zu verwechseln mit Passivität oder Gleichgültigkeit.
Das Sein ist nicht das Gegenteil des Wollens, sondern seine transzendente Auflösung. In Momenten tiefen Seins gibt es nichts zu erreichen, nichts zu verbessern. Es gibt nur dieses stille, unerschütterliche Dasein. Zeitlos. Frei. Und zutiefst heilsam.
Viele spirituelle Traditionen beschreiben diesen Zustand als das wahre Selbst, das Unveränderliche hinter allen Gedanken, Gefühlen und Rollen. Im Christentum klingt dies im Wort Gottes als „Ich bin, der ich bin“ an. In östlichen Weisheiten als Sat-Chit-Ananda – Sein, Bewusstsein, Glückseligkeit.
Der spirituelle Irrtum des Wollens
Ein häufiges Missverständnis spiritueller Praxis ist, das Wollen einfach „spiritueller“ zu machen. Man will dann Erleuchtung, höhere Schwingung, mehr inneren Frieden – aber das Muster bleibt dasselbe: ein egoisches Streben. Selbst die Suche nach Gott kann zur Flucht vor dem Jetzt werden.
Der spirituelle Weg beginnt, wo das Wollen endet – oder besser: wo es durchschaut wird. Wo wir nicht mehr „werdende“ Menschen sein wollen, sondern stille Zeugen unseres eigenen Seins. Wo wir die ständige Bewegung durch äußere Ziele ersetzen durch ein Ankommen in uns selbst.
Das bedeutet nicht, dass wir nichts mehr tun oder keine Visionen haben dürfen. Aber das Tun fließt dann nicht mehr aus einem Mangel, sondern aus der Fülle. Es ist ein Ausdruck des Seins, nicht sein Ersatz.
Der Mut zur Gegenwärtigkeit
Gegenwärtig zu sein, ist unbequem. Es bedeutet, sich dem Moment unverstellt zu stellen – mit all seinen Unsicherheiten, Leeren, und manchmal auch Schmerzen. Kein Ziel, keine Leistung, kein Ablenkungsmanöver.
Doch genau in dieser radikalen Gegenwärtigkeit geschieht Transformation. Wenn wir aufhören, uns über das zu definieren, was wir erreichen wollen, und uns dem öffnen, was wir in Wahrheit sind, beginnen wir zu sehen: Alles Wesentliche ist bereits da.
Die große spirituelle Arbeit besteht nicht im Werden, sondern im Ent-decken. Im Entblättern. Im Loslassen. So, wie eine Skulptur nicht erschaffen wird, sondern aus dem Stein herausgeschlagen – indem das Überflüssige entfernt wird.
Jenseits der Selbstoptimierung
Der Unterschied zwischen Wollen und Sein ist nicht nur philosophisch. Er ist existenziell. Solange wir uns mit dem Wollen identifizieren, bleiben wir in einer Schleife der Selbstoptimierung gefangen. Wir glauben, unser Wert hänge davon ab, wie weit wir gekommen sind, was wir erreicht haben, wie erleuchtet wir wirken.
Doch Sein fragt nicht nach Wert. Sein IST. Es ist das stille Zentrum inmitten der Bewegung. Es ist das, was bleibt, wenn alles andere wegfällt. Und es ist erstaunlich kraftvoll – gerade weil es nichts will.
Wenn wir aus dem Sein heraus leben, verändert sich auch unser Verhältnis zur Welt. Wir werden durchlässiger. Mitfühlender. Wacher. Weil wir nicht mehr ständig mit unserem Ego beschäftigt sind, entsteht Raum – für echte Begegnung, für Stille, für Liebe ohne Bedingungen.
Fazit: Die Kunst, sich nicht mehr verbessern zu müssen
Der Unterschied zwischen Wollen und Sein ist subtil – und zugleich revolutionär. Wollen strebt, Sein ist. Wollen erschafft Identitäten, Sein enthüllt sie. Wer den Mut hat, das Wollen zu durchschauen, entdeckt eine Freiheit jenseits aller Konzepte: die Freiheit, einfach zu sein.
Das ist keine Flucht aus der Welt – sondern eine neue Art, in ihr zu leben. Nicht als Suchender, sondern als Gegenwärtiger. Nicht als Mangelwesen, sondern als Ausdruck einer tieferen, unzerstörbaren Wirklichkeit.
Der Weg dorthin ist kein Ziel. Er ist ein Loslassen. Ein Lauschen. Ein Erinnern.
Und vielleicht beginnt er genau jetzt.
08.06.2025
Uwe Taschow
Uwe Taschow
Unser Leben ist das Produkt unserer Gedanken – eine Erkenntnis, die schon Marc Aurel, der römische Philosophenkaiser, vor fast 2000 Jahren formulierte. Und nein, sie ist nicht aus der Mode gekommen – im Gegenteil: Sie trifft heute härter denn je.
Denn all das Schöne, Hässliche, Wahre oder Verlogene, das uns begegnet, hat seinen Ursprung in unserem Denken. Unsere Gedanken sind die Strippenzieher hinter unseren Gefühlen, Handlungen und Lebenswegen – sie formen Helden, erschaffen Visionen oder führen uns in Abgründe aus Wut, Neid und Ignoranz.
Ich bin Autor, Journalist – und ja, auch kritischer Beobachter einer Welt, die sich oft in Phrasen, Oberflächlichkeiten und Wohlfühlblasen verliert. Ich schreibe, weil ich nicht anders kann. Weil mir das Denken zu wenig und das Schweigen zu viel ist.
Meine eigenen Geschichten zeigen mir nicht nur, wer ich bin – sondern auch, wer ich nicht sein will. Ich ringe dem Leben Erkenntnisse ab, weil ich glaube, dass es Wahrheiten gibt, die unbequem, aber notwendig sind. Und weil es Menschen braucht, die sie aufschreiben.
Deshalb schreibe ich. Und deshalb bin ich Mitherausgeber von Spirit Online – einem Magazin, das sich nicht scheut, tiefer zu bohren, zu hinterfragen, zu provozieren, wo andere nur harmonisieren wollen.
Ich schreibe nicht für Likes. Ich schreibe, weil Worte verändern können. Punkt.
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