Was Leben bedeutet – Zwischen Wissenschaft, Bewusstsein und Seele
Seit Jahrtausenden stellt sich die Menschheit dieselbe grundlegende Frage: Was ist Leben – und was macht es aus? Wir erleben es täglich, erkennen es intuitiv, und doch entzieht sich sein Wesen einer eindeutigen Definition. Für die einen ist Leben ein chemischer Prozess, für andere ein spirituelles Mysterium oder ein Ausdruck kosmischer Energie. Der Wissenschaftsjournalist Carl Zimmer bringt es auf den Punkt:
„No one has been able to define life, and some people will tell you it’s not possible.“
(„Niemand konnte Leben bisher definieren, und manche sagen, es sei unmöglich.“)
Dieser Beitrag nähert sich dem Thema aus drei zentralen Perspektiven: der naturwissenschaftlichen, der philosophischen und der spirituellen. Er zeigt auf, warum eine abschließende Antwort bis heute fehlt – und vielleicht nie gefunden wird.
Die naturwissenschaftliche Sicht: Leben als System aus Materie und Energie
In der Biologie gilt Leben meist als ein System, das bestimmte Merkmale erfüllt: Stoffwechsel, Wachstum, Reizbarkeit, Fortpflanzung und Evolution. Die Astrobiologie der NASA schlägt eine Definition vor, die pragmatisch, aber unvollständig ist:
„Leben ist ein sich selbst erhaltendes chemisches System, das fähig ist, Darwin’sche Evolution zu durchlaufen.“
Doch selbst diese Definition gerät bei Grenzfällen ins Wanken – etwa bei Viren, die sich zwar reproduzieren, aber keinen eigenen Stoffwechsel haben. Oder bei künstlichem Leben im Labor, das zwar „lebt“, aber ohne biologische Herkunft.
Schon der Physiker Erwin Schrödinger schrieb 1944 in What is Life?:
„Ein Organismus ‘ernährt’ sich von negativer Entropie – er saugt Ordnung aus seiner Umgebung.“
Damit meinte er: Lebewesen sind hoch organisierte Systeme, die durch den Konsum von Energie ihre Struktur aufrechterhalten – im Gegensatz zur unbelebten Materie, die zur Unordnung (Entropie) tendiert.
Trotz technologischer Fortschritte fehlt bis heute eine einheitliche Definition. Carl Zimmer spricht von „hunderten von Definitionen“ und betont, dass jede davon an Ausnahmen scheitert.
Die philosophische Perspektive: Das Leben als Erfahrung und Begriff
Die Philosophie betrachtet das Leben nicht nur als biologisches Phänomen, sondern als existenzielle Wirklichkeit. Für Aristoteles war Leben untrennbar mit der Seele verbunden – jede Lebensform habe ihre eigene Art von Psyche, von der Pflanze bis zum denkenden Menschen.
Später vertrat Descartes eine radikale Trennung von Körper und Geist. Tiere wurden als Automaten ohne Bewusstsein betrachtet – eine Sichtweise, die heute umstritten ist.
Im 19. Jahrhundert trat Xavier Bichat mit einer praktischen Definition hervor:
„Leben ist die Summe der Funktionen, die dem Tod widerstehen.“
Doch was heißt das konkret? Der deutsche Philosoph Friedrich Nietzsche dachte weiter:
„Ein lebendiges Wesen will vor allem seine Kraft auslassen – Leben selbst ist Wille zur Macht.“
Nietzsche meinte damit nicht politische Macht, sondern die innere Dynamik, sich selbst zu entfalten, zu wachsen, über sich hinauszuwachsen. Leben ist für ihn Aktivität, Schöpfung, Expansion.
Auch der dänische Existenzphilosoph Søren Kierkegaard rückte das subjektive Erleben ins Zentrum:
„Leben ist kein Problem, das gelöst werden muss, sondern eine Wirklichkeit, die erfahren werden will.“
Diese Haltung unterscheidet sich radikal von der Suche nach Definitionen: Leben ist demnach etwas, das sich im Erleben offenbart, nicht im Denken erklärt.
Die spirituelle Sicht: Leben als Ausdruck des Göttlichen
In vielen spirituellen Traditionen wird Leben nicht nur als biologischer Prozess verstanden, sondern als Erscheinungsform einer göttlichen Wirklichkeit. Der Mensch sei nicht einfach ein Körper, sondern ein geistiges Wesen in menschlicher Erfahrung, wie der Theologe Pierre Teilhard de Chardin formulierte:
„Wir sind keine Menschen, die eine spirituelle Erfahrung machen. Wir sind spirituelle Wesen, die eine menschliche Erfahrung machen.“
In östlichen Lehren wie dem Hinduismus oder Buddhismus lebt dieser Gedanke fort: Ātman, die ewige Seele, oder das Prinzip von Karma und Wiedergeburt zeigen, dass Leben als Teil eines größeren, zyklischen Ganzen verstanden wird.
Der Zen-Meister Thích Nhất Hạnh fasste es einmal so:
„Wir sind hier, um zu erkennen, dass wir niemals getrennt waren.“
Das bedeutet: Leben ist Einheit. Alles ist miteinander verbunden – Geist, Natur, Mensch, Tier. Diese Sichtweise wird auch in indigenen Kulturen geteilt. Der Blackfoot-Häuptling Crowfoot sagte kurz vor seinem Tod:
„Was ist Leben? Es ist der Schein eines Glühwürmchens in der Nacht. Der Atem eines Büffels im Winter. Der kleine Schatten, der über das Gras huscht und sich im Sonnenuntergang verliert.“
Solche Worte zeigen: In der spirituellen Sicht ist Leben heilig, vergänglich, aber auch ewig verbunden mit allem, was ist.
Widersprüche und Schnittmengen
Die drei Perspektiven sind nicht immer miteinander vereinbar:
-
Die Wissenschaft sucht nach empirischen, messbaren Kriterien.
-
Die Philosophie fragt nach Bedeutung, Bewusstsein, Dasein.
-
Die Spiritualität erkennt im Leben einen Ausdruck des Göttlichen.
Trotzdem gibt es Schnittmengen. So akzeptieren heute auch viele Wissenschaftler, dass Leben mehr ist als Moleküle – ein komplexes System, das nicht auf Einzelteile reduzierbar ist. Philosophen und spirituelle Lehrer teilen die Ansicht, dass das Erleben von Leben zentral ist – nicht seine Analyse.
Warum es keine eindeutige Antwort gibt
Leben ist kein statischer Zustand, sondern ein dynamischer Prozess. Es verändert sich, passt sich an, entfaltet sich in Formen, die sich unserer Logik oft entziehen. Jede Definition erzeugt neue Fragen.
„Die Literatur zur Definition des Lebens ist umfangreich, repetitiv und vollkommen ergebnislos.“
(S. G. Benner, Stanford Encyclopedia of Philosophy)
Vielleicht ist das die tiefste Einsicht: Leben ist ein Mysterium, das sich nicht auf eine Formel reduzieren lässt. Es muss gelebt, gefühlt, erfahren werden – und nicht nur verstanden.
Fazit: Leben ehren, nicht nur erklären
Ob wir Leben als chemisches System, geistige Kraft oder göttliches Geschenk betrachten – es bleibt das größte Wunder, das uns umgibt. Der Physiker Albert Einstein sagte:
„Das Schönste, was wir erleben können, ist das Geheimnisvolle.“
Und so ist vielleicht die beste Antwort auf die Frage „Was bedeutet Leben?“ nicht in einer Definition zu suchen – sondern in der Art, wie wir leben, fühlen und lieben.
-
NASA Astrobiology (2022): „Looking for Life“ – Definition des Lebens
-
Carl Zimmer (2023): „What is life? Scientists still can’t agree“ – Vox.com
-
Schrödinger, Erwin (1944): What is Life? – Cambridge University Press
-
Stanford Encyclopedia of Philosophy: Eintrag „Life“ (aktualisiert 2019)
-
Nietzsche, Friedrich (1886): Jenseits von Gut und Böse, §13
-
Bichat, Xavier (1800): Recherches physiologiques sur la vie et la mort
-
Kierkegaard, Søren (Zugeschriebenes Zitat): „Leben ist kein Problem…“
-
Teilhard de Chardin, Pierre: „We are spiritual beings having a human experience“
-
Crowfoot (1890): Letzte Worte des Blackfoot-Häuptlings
-
Thích Nhất Hạnh: Diverse Reden und Schriften über Verbundenheit
18.05.2025
Uwe Taschow
Uwe Taschow
Als Autor denke ich über das Leben nach. Eigene Geschichten sagen mir wer ich bin, aber auch wer ich sein kann. Ich ringe dem Leben Erkenntnisse ab um zu gestalten, Wahrheiten zu erkennen für die es sich lohnt zu schreiben.
Das ist einer der Gründe warum ich als Mitherausgeber des online Magazins Spirit Online arbeite.
“Mehr als die Vergangenheit interessiert mich die Zukunft, denn in ihr gedenke ich zu leben.”
Albert Einstein