Leben und Urquelle – Eins im Sein

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Leben und Urquelle frau wasserfall peopleDas Leben muss immer die Urquelle sein.

„Der Himmel lebt in mir. Die Art wie ich sterbe, wird den Ausschlag geben, wie ich wirklich bin. Weil uns in letzter Instanz nichts genommen werden kann, werde ich mich überall und immer in Gottes Armen fühlen. Weil nichts mein Denken und Fühlen trübt. Die Urkraft besteht vielmehr darin, dass man, auch wenn man elend umkommt, bis zum letzten Augenblick das Leben als sinnvoll und schön empfindet in dem Gefühl, dass man alles in sich verwirklicht hat und dass es gut war zu leben. Wenn man den Tod aus seinem Leben verdrängt, ist das Leben niemals vollständig, und indem man den Tod in sein Leben einbezieht, erweitert und bereichert man das Leben. Manchmal habe ich das Gefühl, dass ich Gott in mir trage. Ein Mensch weiß nicht so viel von sich selbst. In mir gibt es einen ganz tiefen Brunnen und darin ist Gott.“
Etty Hillesum (1914 – 1943)

Obwohl sie erst 27 Jahre alt ist, schreibt Etty Hillesum wie eine reife Frau, die bereits auf ein langes Leben zurückblicken kann. Ein äußerst persönliches und intimes Tagebuch, das über 40 Jahre überdauern sollte, bis es das Licht der Publikation erblicken sollte. Eine junge Ausnahmeschriftstellerin, teilt mit uns ihre intimsten Seiten, ein Buch das beginnt bei einer jungen Liebe, einer Partnerschaft und sich immer mehr wandelt, hinein in eine Liebe zu Gott oder zum Göttlichen, eine radikal ehrliche Selbstreflektion, angesichts immer mehr bedrohender äußerer Umstände. Eine junge Autorin, die von Mitgefühl und Liebe durchdrungen ist, dass man fassungslos und den Atem anhaltend, sich dem Staunen nicht mehr entziehen kann.

Vor 100 Jahren wurde im holländischen Middelburg am 15. Januar 1914 Esther Hillesum geboren.

Im Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau starb sie am 30. November 1943im Alter von fast 30 Jahren. Bekannt wurde sie durch ihr im Jahr 1981 erstmals erschienenes Tagebuch Het verstoorde leven („Das zerstörte Leben“), das seit 1985 in 25 Auflagen in deutscher Sprache mit dem Titel „Das denkende Herz“ erschienen ist. Esther „Etty“ Hillesum wuchs in Deventer auf und besuchte dort das städtische Gymnasium. Ihr Vater Louis, der zuvor in Middelburg als Lehrer für Latein, Griechisch und andere Fächer arbeitete, war damals Rektor dieser Schule. Ettys Mutter Rebecca geb. Bernstein stammte aus Russland.

Die Erziehung im Elternhaus war eher christlich als jüdisch geprägt. Etty studierte in Amsterdam Slavistik und Jura. Sie hatte zwei jüngere Brüder, Jaap (Jacob) wurde Arzt und starb mit 29 Jahren im April 1945 während einer Deportation, Michael „Mischa“ war ein begabter, aber psychisch sehr labiler Pianist, der mit 23 Jahren im März 1944 in Auschwitz sein Leben lassen musste, wo auch die Eltern umgebracht wurden.

1941 begegnete Etty Hillesum dem aus Deutschland geflohenen jüdischen Chiropsychologen Julius Spier

Spier wurde ihr Geliebter und spiritueller Lehrer, der sie ermunterte, Tagebuch zu schreiben. Die ersten Sätze lauten: „Na dann los! Dies ist ein peinlicher und kaum zu überwältigender Augenblick für mich: mein gehemmtes Inneres auf einem unschuldigen Blatt linierten Papier preiszugeben…“

Julius Spier, 1887 in Frankfurt/Main geboren, war ein von C. G. Jung ausgebildeter Psychoanalytiker, der  ein ungewöhnliches Talents für das Handlesen hatte. Jung war von Spiers Kunst fasziniert und ermutigte ihn, diese Fähigkeit professionell auszuüben. Spier eröffnete daraufhin in Berlin eine chirologische Praxis und erwarb sich sehr schnell einen Ruf als ungewöhnliche, „magische“ Persönlichkeit. 1938 floh er nach Amsterdam und betrieb auch dort eine Beratungspraxis, bis er 1942, kurz vor seiner Deportation nach Auschwitz, an Lungenkrebs starb. Sein posthum 1944 in London erschienenes Buch „The Hands of Children“, mit einem Vorwort von C. G. Jung, zählt immer noch zu den Klassikern der Handlesekunst.

Im August 1942 kam für Etty der Aufruf zur Deportation zum Durch-gangslager Westerbork. Da ihr Sonderausweis des Judenrats noch gültig war, fuhr sie von dort noch mehrmals nach Amsterdam zurück. Ihr Tagebuch konnte sie bei der befreundeten Familie Smelik in Sicherheit bringen; unter-zutauchen lehnte sie allerdings ab. Am 7. September 1943 musste sie von Westerbork auf einen Transport zum Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau, wo sie ihren 1940 von den Nazis entlassenen Vater und andere Verwandte wiedersah. Sie konnte jedoch noch einige Briefe an Freunde schreiben.

In diesen Briefen gibt sie eine genaue Beschreibung der Zustände im Lager, der Rivalitäten unter den Lagerinsassen, der Blasiertheit des Lagerleiters und den alltäglichen Grausamkeiten: „Der Mensch ist etwas Seltsames. Das Elend, das hier herrscht, ist wirklich unbeschreiblich. Wir hausen in den großen Baracken wie Ratten in einem Abwasserkanal…Das Leben und das Sterben, das Leid und die Freude, die Blasen an meinen wundgelaufenen Füßen und der Jasmin hinterm Haus, die Verfolgungen, die zahllosen Grausamkeiten, all das ist in mir wie ein einziges starkes Ganzes, und ich nehme alles als ein Ganzes hin und beginne immer mehr zu begreifen, nur für mich selbst, ohne es bislang jemandem erklären zu können, wie alles zusammenhängt…“

In einem ihrer letzten Briefe an eine Freundin beschreibt sie ihr inneres Erleben: „… Heute Nachmittag ruhte ich mich auf meiner Pritsche aus und musste plötzlich Folgendes in mein Tagebuch schreiben, ich schicke es dir: Du hast mich so reich gemacht, mein Gott, lass mich auch mit vollen Händen davon austeilen. Mein Leben ist zu einem ununterbrochenen Zwiegespräch mit dir, mein Gott, geworden, zu einem einzigen großen Zwiegespräch. Wenn ich in einer Ecke des Lagers stehe, die Füße auf deiner Erde, das Gesicht zu deinem Himmel erhoben, dann laufen mir manchmal die Tränen über das Gesicht, entsprungen aus einer inneren Bewegtheit und Dankbarkeit, die nach einem Ausweg sucht. Ich möchte zwar manchmal kleine Weisheiten und vibrierende kleine Geschichten in Worte prägen, aber ich komme immer wieder genau auf ein und dasselbe Wort zurück: Gott, darin ist alles enthalten, und dann brauche ich all das andere nicht mehr zu sagen. Und meine ganze schöpferische Kraft setzt sich um in die inneren Zwiegespräche mit dir, der Wellenschlag meines Herzens ist hier breiter und zugleich bewegter und ruhiger geworden, und mir ist, als würde mein innerer Reichtum immer größer. …

Es gibt Bücher, die schon viele Jahre auf dem Markt sind und viele Auflagen erfahren haben, doch nicht immer unser Innerstes berühren.

„Das denkende Herz“ ist eines davon.  Etty Hillesum  ist mit einem 25 Jahre älteren Mann liiert, findet es kindisch die Liebe nur mit einem einzigen Menschen zu teilen, sie liest Rilke, Augustinus und Dostojewski. Im Lager wird sie nur noch ihre Tagebücher, eine kleine Bibel, eine russische Grammatik und Tolstoi bei sich haben. Das Schreiben ist ihr innerstes Bedürfnis. Eine gelebte Lebensbejahung, die seinesgleichen sucht. Wir bekommen Einblick in ihr Innerstes als Frau, als Liebhaberin, als bekennende Frau, die Gott in sich sucht. Ihre Gedanken machen Mut, spenden so etwas wie Vertrauen ins Leben, man spürt Zuversicht, Gelassenheit, Annahme von Realität und dem was das Leben im Moment zeigt, selbst dann, wenn Alles aussichtslos erscheint.

„Das Leben muss immer die Urquelle sein, niemals ein anderer Mensch. Viele Menschen, vor allem Frauen, schöpfen ihre Kraft aus einem anderen Menschen, statt selbst wirklich zu leben, jener Mensch und nicht das Leben ist die Quelle. Das ist so verdreht und unnatürlich wie nur möglich.”

Für Etty Hillesum ist der Mensch ein seltsames Wesen. Sie will das Leben, aus den Menschen herauslesen. Dem Leben will sie seine Geheimnisse entreißen. Sie glaubte an den tieferen Sinn des Lebens und dass das Leben hohe Anforderungen stellt und Pläne mit ihr vorhat. Nicht die Menschen sind es die ausgerottet werden sollen, sondern das Böse im Menschen.

24.02.2022
Roland R. Ropers
Religionsphilosoph, spiritueller Sprachforscher, Buchautor und Publizist

www.KARDIOSOPHIE-NETWORK.de


Buchtipp

Das suchende Herz – Der innere Weg von Etty Hillesum
von Paul Lebeau
das suchende herz cover

Erst in den 80er Jahren wurde das Tagebuch bekannt, das die junge Amsterdamer Jüdin Etty Hillesum während der deutschen Besatzung von 1941 bis zu ihrer Ermordung 1943 geführt hatte.
Geschrieben im Bewusstsein der bevorstehenden Vernichtung, ist es ein bewegendes Zeugnis der Selbstsuche, des Ringens mit der Gottesfrage, aber auch der Menschlichkeit, ja der ungebrochenen Freude am Leben, das heute weltweit gelesen wird. Paul Lebeau zeichnet den spirituellen Weg Etty Hillesums nach. Er bietet eine allgemeinverständliche Einführung in ihr Leben und ihre innere Entwicklung. In zahlreichen Zitaten kommt sie selbst zu Wort.

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Über Roland R. Ropers

Leben und Urquelle Roland Ropers Portrait 2021

Roland R. Ropers geb. 1945, Religionsphilosoph, spiritueller Sprachforscher,
Begründer der Etymosophie, Buchautor und Publizist, autorisierter Kontemplationslehrer, weltweite Seminar- und Vortragstätigkeit.
Es ist ein uraltes Geheimnis, dass die stille Einkehr in der Natur zum tiefgreifenden Heil-Sein führt.
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Buch Tipp:

cover kardiosophie Roland RopersKardiosophie
Weg-Weiser zur kosmischen Ur-Quelle

von Roland R. Ropers und
Andrea Fessmann, Dorothea J. May, Dr. med. Christiane May-Ropers, Helga Simon-Wagenbach, Prof. Dr. phil. Irmela Neu

Die intellektuelle Kopflastigkeit, die über Jahrhunderte mit dem Begriff des französischen Philosophen René Descartes (1596 – 1650) „Cogito ergo sum“ („Ich denke, also bin ich“) verbunden war, erfordert für den Menschen der Zukunft eine neue Ausrichtung auf die Kraft und Weisheit des Herzens, die mit dem von Roland R. Ropers in die Welt gebrachten Wortes „KARDIOSOPHIE“ verbunden ist. Bereits Antoine de Saint-Exupéry beglückte uns mit seiner Erkenntnis: „Man sieht nur mit dem Herzen gut“. Der Autor und die sechs Co-Autorinnen beleuchten aus ihrem individuellen Erfahrungsreichtum die Vielfalt von Wissen und Weisheit aus dem Großraum des Herzens.

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