
Die Kommode mit den tausend Schubladen
Am Fuße eines hohen Berges, lebte einmal ein junges Paar in einem Häuschen aus weißem Stein. Jeden Abend saßen sie zusammen auf der Bank im Garten und blickten hinüber zu dem majestätischen Berg. „Ach“ sagte dann die Frau immer, „wie gerne würde ich einmal dort hinauf gehen und hinunter in unser grünes Tal blicken.“
Und ihr Mann antwortete dann jedes Mal: „Das wäre auch mein größter Wunsch. Lass uns doch morgen einfach aufbrechen.“
Dann seufzten beide und die Frau ging zurück ins Haus an ihre Arbeit.
Dort im Haus, stand nämlich ein altes Erbstück in Form einer prachtvoll glänzenden Kommode, die die Frau unsagbar faszinierte. Sie war geradezu davon besessen, jede einzelne Schublade zu begutachten und deren Inhalt zu sichten. Und derer gab es unzählig viele: große und kleine und sogar versteckte und sie waren allesamt mit geheimnisvollen Ornamenten verziert. Selbst die kleinen Griffe und Knäufe wirkten auf sonderbare Weise rätselhaft und höchst interessant.
Die Frau war einfach unheimlich neugierig auf all die spannenden Sachen, die es dort zu entdecken gab.
Die Schubladen selbst aber waren so voll, dass man sie entweder kaum geöffnet bekam, oder all seine Kraft aufbringen musste, um sie wieder zu verschließen.
Und jeden Abend saßen die beiden wieder auf ihrer Bank im Garten und träumten davon auf den wundervollen Berg zu steigen, um in seinem gütigen Glanz auf die Welt darunter zu blicken.
„Ich werde sicher bald fertig sein.“, versprach die Frau immer.
Aber ihr Mann zuckte dann nur traurig mit den knochigen Schultern. „Wir werden nicht jünger, meine Liebe. Vergiss das nicht!“
„Ich weiß ja!“, antwortete die Frau.“Deshalb werde ich mich jetzt auch beeilen.“
Und so machte sie sich immer wieder ans Werk, öffnete und schloss Schubladen, räumte sie aus, sortierte deren Inhalt hin und her oder verteilte ihn wieder neu. Sie fand alte Geheimnisse genauso, wie scheußliche Geschichten –von ihr selbst und von inzwischen längst verstorbenen Familienmitgliedern.
Doch meisten war sie tagelang damit beschäftigt, die eine oder andere Schublade, deren Inhalt sie grauste und den sie versucht hatte in die hinterste Ecke zu stopfen, irgendwie verschlossen zu halten. Mit ganzer Kraft stemmte sie sich dann dagegen und drückte was das Zeug hielt. Und wenn sie es bei einer gerade geschafft hatte, glitt ganz still eine andere wieder ein Stückchen auf, so als hätte die Kommode ein merkwürdiges Eigenleben. Es war wie verhext. Anstatt weniger, schien die Arbeit immer nur mehr und immer unübersichtlicher zu werden.
Bald schon hatte die Frau nicht einmal mehr Zeit, um mit ihrem Mann auf der Bank zu sitzen und so vergingen die Jahre. Ihren Mann sah sie nur noch selten und immer öfters wusste sie nicht einmal mehr, dass es ihn gab.
Aus der jungen Frau war inzwischen ein altes Mütterchen geworden, das sich immer noch jeden Tag eine Schublade vornahm, deren Inhalt sichtete, sortierte und überlegte, was damit zu tun war. Sie war so versunken in ihre Arbeit, dass sie weder zum Nachdenken, noch zum Fühlen kam. Und so schien es, als wären einige Schubladen wieder ein Stück voller und unbeweglicher geworden und die Aufgabe unüberwindbar.
Als die Frau schon sehr alt geworden war, rutschte sie eines Tages aus und stieß sich ganz furchtbar den Kopf an der Kommode, so dass sie bitterlich weinend vor Schmerz und Erschöpfung zu Boden sank. Hoffnungslos vergrub sie ihr runzeliges Gesicht in ihre faltigen Hände. „Ich werde es wohl niemals fertig bringen.“, schluchzte sie und versuchte sich wieder aufzurichten. Doch ihre Kräfte waren verbraucht und so blieb sie einfach sitzen und weinte still vor Scham und Reue in sich hinein.
Da trat ein kleines Mädchen zu ihr und sprach:
„Deine Zeit hier auf Erden ist bald vorüber. Was willst du mit deinen letzten Minuten noch anfangen?“
Die Frau erschrak, als sie erkannte, wie alt sie geworden war und blickte sehnsüchtig auf den Berg, der ihr nur noch wie ein Versprechen aus einem anderen Leben erschien.
„Wenn du hinauf auf den Berg und deinen Lebenstraum verwirklichen willst“, sprach das Mädchen weiter, „dann musst du dich nun entscheiden!“
Die alte Frau blickte traurig auf die Kommode. „Werden diese Schubladen jemals leer sein? Und werde ich sie jemals alle schließen können?“
Das Mädchen und die Alte blickte sich eine Weile stumm an.
„Du hast fast dein ganzes Leben an dieser Kommode gearbeitet. Und du hast sicher auch eine Menge geschafft. Aber ist sie es wert, auf dein Leben zu verzichten? Wo du doch im Grunde deines Herzens nur zu gut weißt, dass ihre Schubladen niemals alle schließen werden!?“
Die alte Frau seufzte. Und da sie mit dem Rücken gegen die Kommode lehnte, blickte sie direkt auf die Hintertür ihres Hauses. „Mein Mann ist schon vor langer Zeit dort hinaus gegangen. Und ich? Ich habe es nicht einmal richtig bemerkt.“ Tränen des Bedauerns liefen der Frau über ihr blasses Gesicht, während sie traurig den Kopf schüttelte.
„Komm!“, sagte das Mädchen, während es die Türe öffnete. „Es wird Zeit!“
Reglos saß das alte Großmütterchen auf dem harten Steinboden und wusste nicht, wie es sich entscheiden sollte. Ihre Arbeit war ja noch nicht getan. Andererseits blieb ihr nicht mehr viel Zeit, um sich ihren Herzenswunsch zu erfüllen.
„Was auch immer du tust. Ich werde bei dir bleiben!“, sagte das Mädchen und setze sich neben das Großmütterchen auf den harten Boden.
„Oh, nein!“, rief die alte Frau völlig erschrocken. „Das darfst du nicht tun!
Du darfst dein Leben, deine Freiheit und deine Lebendigkeit nicht opfern, um die Schubladen der anderen zu schließen!“
„Ach nein? Und warum tust du es dann?“
Erstaunt blickte die Frau zwischen der Kommode mit den vielen Schubladen und dem kleinen Mädchen hin und her. „Ich dachte, es seien meine Schubladen! Und dass es wichtig ist!“
„Was könnte denn wichtiger sein als dein eigenes Leben?“, rief das Mädchen entsetzt. „Selbst wenn es deine Schubladen wären: Reicht es denn nicht, dass du es drei oder viermal versucht hast!?“
Die Frau starrte eine Weile stumm vor sich hin. „Du meinst es reicht, sich zu bemühen?“
„Nein, ich meine, dass es Wichtigeres gibt, als sein ganzes Leben lang vor einer alten Kommode zu sitzen und noch ältere Schubladen zu sortieren!“
Da brach die Alte in lautes Gelächter aus. „Ich sollte vielleicht lieber weinen, weil ich nicht nur mein eigenes Leben verschwendet, sonder auch das meines Liebsten schwer gemacht habe. Doch ich bin so froh, noch Zeit zu haben, um auf den Berg zu steigen, dass ich einfach nur lachen möchte!“ Sagte sie, sprang auf, nahm das Mädchen an der Hand und machte sich mit ihm hinaus aus der Hintertür, geradewegs hinauf auf den Berg.
Ob die Frau jemals auf dem Gipfel ihres Berges angekommen ist? Das weiß niemand. Doch im Dorf erzählt man sich, dass wenn man oben auf dem Gipfel des Berges steht und für einen Augenblick ganz still wird, ein glockenklares Lachen hören kann.
Wie oft verpassen wir Gelegenheiten, die unser innerer Wesenskern gerne nutzen würde?
Nur, um etwas zu erledigen, von dem wir glauben, dass es wichtig(er) ist.
Dann sagen wir uns, dass wir stark sein müssen, oder kämpfen. Dass wir es schaffen und erfolgreich sein müssen. Und so erzeugen wir in unserem Inneren Druck, Angst und leben im Kampf mit uns selbst.
Doch welche Glaubenssätze leiten uns da eigentlich?
Nähren und unterstützen uns diese Glaubenssätze oder machen sie uns das Leben schwer? Was hindert uns daran das zu leben, was unserem Innersten entspricht?
Was wäre, wenn wir einmal ganz still werden, um unserer inneren Stimme zu lauschen?
Wenn wir einmal aufhören würden, die inneren Schubladen unseres Geistes zu durchstöbern, deren Inhalt wir ja meistens doch nur von A nach B sortieren?
Was würden wir brauchen, um uns diese Zeit zu gönnen? Mut? Vertrauen?
Wir alle dürfen uns frei entscheiden!
Jeden Tag. Jede Sekunde. Egal, ob es um die Kleidung geht, die wir tragen oder um den Job, den wir tun. Jede von uns entscheidet, jeden einzelnen Augenblick, ob wir vor der Kommode sitzen bleiben oder ob wir uns auf den Weg unserer Sehnsucht machen.
Das heißt nicht, dass die Schubladen unserer Kommoden nicht wichtig wären. Es heißt nur, dass es noch etwas anders gibt. Und dass wir auch das nicht vergessen dürfen, wenn wir eines Tages auf ein glückliches und erfülltes Leben zurück blicken wollen.
Was also könnte in diesen Schubladen stecken? Vergangenes? Veraltetes? Nicht gelebte Wünsche? Emotionen wie Angst? Wut? Trauer? Scham? Fremde Erwartungen?
Was von all dem lohnt sich anzuschauen? Befasse ich mich viel zu lange mit einem (alten) Thema? Mache ich das vielleicht schon zwanghaft?
Was andererseits versuche ich zu ignorieren, zuzuhalten?
Ob es sinnvoll ist, seine Schubladen zu sortieren und auszumisten, muss jede für sich entscheiden. Und wer damit beginnt, darf dabei gut für sich sorgen. Pausen machen, sich einen festgesetzten Zeitrahmen schaffen, einmal alles von einer anderen Perspektive aus betrachten, um sich einen Überblick zu verschaffen und neue Entscheidungen zu treffen. Neue Sichtweisen zu entdecken.
Eines sollten wir aber nie vergessen:
Es darf niemals auf Kosten unserer Lebendigkeit, auf Kosten unserer Lebensfreude sein. Und niemals sollten wir dafür unseren Lebensweg aus dem Blick verlieren.
Wir alle besitzen solch eine Kommode. Manche von uns räumen deren Inhalt exzessiv hin und her, sind auf den Inhalt fixiert. Andere ignorieren ihren Inhalt, leugnen ihn und schleichen um sie herum, streichen und verzieren sie oder schrauben neue Knöpfe an.
Wenn wir aber einen Schritt zurücktreten und unsere Angst alles kontrollieren zu müssen, für einen kurzen Augenblick loslassen, dann können wir sein.
Der Blick vom Berg klärt. Ja, die Kommode ist da. Es gibt sie tatsächlich. Und ich schaue nochmal in Ruhe hinein. Mit Liebe. Und mit dem Bewusstsein, dass ich mehr bin! Viel viel mehr!
27.04.2025
Namasté!
Heike Erbertz
Heike Erbertz
„Schon immer habe ich „um die Ecke“ gedacht und war sehr feinfühlig, konnte die inneren Themen der Menschen, ihre „inneren Kinder“ wahrnehmen.
Mein Weg führte von der Pädagogik zur Therapie und zur Gesundheit, weiter zur Spiritualität und wieder zurück.
Mich faszinieren Zusammenhänge, das große Ganze genauso, wie das kleinste Detail.
Zufriedenheit bedeutet für mich, Balance im sich immer wandelnden Rhythmus der Natur, im ewigen Werden.“
>>mehr erfahren
„Im Tal der goldenen Sonne –
Meditative Geschichten zur Entspannung und Selbstreflexion“
von Heike Erbertz
Hinterlasse jetzt einen Kommentar