Metanoia und Transformation

Metanoia und Transformation

Die Welt, in der wir leben, ist eine äußerst zwiespältige, um nicht zu sagen vielspältige: Grenzen teilen Kontinente und Länder, Generationskonflikte trennen Jung und Alt, egoistische Bedürfnisse ziehen Trennungsgräben um jeden einzelnen. Vieles weist darauf hin, dass die Klüfte immer größer werden. Wir haben uns seit Jahrhunderten einer urteilenden Weltanschauung verschrieben — am auffälligsten wird dies an der Kernspaltung deutlich — und viele Menschen spüren, wie sich ein Umbruch anbahnt.

„Es ist schwieriger eine vorgefasste Meinung
zu zertrümmern als ein Atom“
(Albert Einstein)

Ob es allerdings die erwartete äußere Weltkatastrophe etwa in Form des aller Orten gefürchteten Atomkrieges sein muss, bleibt dahingestellt. Die Möglichkeit eines inneren Umbruchs, einer Transformation, einer metanoia, wobei unser Weltbild von Grund auf erschüttert wird, ist ebenso gegeben. „Metanoia“ bedeutet weder Umkehr noch Reue, sondern die Überschreitung des Intellektes (griechisch: nous = Intellekt; lat.: intellectus)

Metanoia und Transformation EINSTEIN Vorurteil Atomkernspaltung

Die alte Weltsicht erscheint immer mehr Menschen überlebt,

und daraus entsteht jene Atmosphäre von Erwartung und Spannung, die sich einerseits in Schreckensvisionen vom Weltuntergang entlädt und andererseits vom alles versöhnenden Wassermannzeitalter träumt. Tatsächlich haben sich schon viele Generationen vor uns danach gesehnt, die eine, besondere, zu sein, und immer wieder haben Menschen sich in Prophezeiungen über Neue Zeitalter und Jüngste Gerichte ergangen — und doch gibt es einige ernstzunehmende Hinweise, die gerade für unsere Zeit eine entscheidende Weichenstellung erwarten lassen: mit dem Alten oder mit dem Neuen aufzuerstehen.

Das überkommene, mechanistische Weltbild, das unseren Globus als berechenbaren Lebensraum für maschinenähnlich funktionierende Menschen sieht (hierfür habe den Begriff der Entwicklung vom Homo Sapiens zum Homo Oriens geprägt), verwickelt sich zunehmend in Widersprüche und wird immer schwerer haltbar. Bemerkenswert ist, dass dieses Weltbild von den beharrenden Kräften mit Hinweis gerade auf jene Naturwissenschaften festgehalten wird, deren herausragende Vertreter sich, von den konservativen Kräften unbemerkt oder ignoriert, einer nach dem anderen ins Weltbild der Esoterik hinübergedacht und geforscht haben.

Ob wir nun einer inneren Wende zutreiben oder einem äußeren Umbruch, ist heute kaum genau vorherzusagen und wird auf lange Sicht gleichgültig bleiben. Sicher scheint nur, dass einem tieferen Rhythmus, einem inneren Gesetz folgend, eine neue Phase im Wellenmuster heranrollt. Tatsächlich wäre auch die große äußere Katastrophe ein Umkehrpunkt (die eskalierende Zahl und das gewaltige Ausmaß der Naturkatastrophen sollte zeichenhaft und bewusst wahrgenommen werden!), nichts anderes bedeutet das griechische Wort he katastrophé. Wie aus dem äußeren Zusammenbruch eine neue Welt mit einem neuen Denken entstünde, ließe ein innerer Umschwung in den Menschen ein neues Weltbild erwachsen, auf dem sich eine neue Welt aufbauen würde.

So könnten wir von einem sehr übergeordneten Standpunkt (aus der Sicht des nicht urteilenden Kosmos) ganz beruhigt sein:
Alles wird seinen richtigen Lauf nehmen.

Wir wären aber keine Menschen, würden wir nicht an unserer scheinbaren Welt hängen, genau wie wir an unserem Körper hängen. In dieser Hinsicht wird uns die Parallelität von Körper (Mikrokosmos) und Welt (Makrokosmos) sehr drastisch vor Augen geführt: Der Untergang der Welt bedeutet auch den Untergang unseres individuellen Körpers, und umgekehrt bedeutet auch unser körperlicher Tod das Ende unserer gewohnten Welt.

Tatsächlich ist die Erde unser kollektiver Körper, unser gemeinsamer Himmelskörper, den wir uns, wie den individuellen, möglichst lange erhalten wollen; auch wenn unser individuelles und kollektives Verhalten in letzter Zeit eher auf beider Zerstörung hinausläuft. Das ist eines der Paradoxa unserer Zeit. Es liegt an einem nicht nur veralteten, sondern auch gefährlich unangemessenen Weltbild, das von einem ebenso unangemessenen Denken beherrscht wird.

Erkenntnis von Einheit

Gerade aber im Denken deutet sich jetzt ein Umbruch an, nähert sich doch die Naturwissenschaft, vor allem die Physik, dem geistigen Weltbild, dem eine allumfassende statt der bisherigen trennenden und sezierenden Weltsicht zugrunde liegt.

Wir wollen uns aber nicht, wie viele Naturwissenschaftler in den vergangenen Jahrzehnten, von der Physik zur falsch verstandenen Esoterik tragen lassen, sondern, von Anfang an den zeitlosen Weisheitslehren folgend, erleben, wie die Physiker Stück für Stück dieses uralte Wissen bestätigen. Auch hier verbirgt sich eine Wellenbewegung, denn die Naturwissenschaftler waren es ja ursprünglich, welche die Weisheitslehren ins Abseits drängten, und nun ist es wiederum an ihnen, sie auf einer tieferen oder auch höheren Ebene zu bestätigen. Man kann jetzt erleben, wie sich die Vorhut der Wissenschaft mit dem zeitlosen Wissen vereinigt. Es ist der Punkt, wo sich die Schlange in den Schwanz beißt, wo sich älteste und neuestes Wisse vereinigen. Vereinigung führt zur Ganzheit.

Es geht vor allem um Ganzheit, um das Erkennen der Einheit von Mikrokosmos und Makrokosmos. Unser Ziel ist es nicht, etwas zu beweisen, der Wissenschaft ihre Arbeit abzunehmen, sondern vielmehr, auf den Grundsätzen der Weisheitslehren fußend, mit dem modernen Wissen zu spielen und dabei ein Gefühl für uns selbst zu bekommen und für unseren Platz im Kosmos. Von der uralten Basis der Weisheit aus wollen wir die Welt in unserer Zeit betrachten und dabei sehen lernen, Gefühl für die verschiedenen Ebenen der Wirklichkeit entwickeln, Analogien erkennen, die Spielregeln von Lila, dem kosmischen Spiel, entdecken, um dadurch mehr Spaß am Spiel zu finden. Denn natürlich macht ein Spiel mehr Freude, wenn wir seine Regeln kennen und aktiver Mitspieler statt frustrierter Außenseiter sind. Die Kenntnis des Spielfeldes und des Musters aber, das dem Verlauf des großen Spiels zugrunde liegt und ihn bestimmt, macht erst das Erreichen unseres eigentlichen Ziels möglich:

Die Einheit von Mikro- und Makrokosmos zu entschlüsseln

Die Spielanalogie kann uns auch den wesentlichen Unterschied zwischen dem Denken der Wissenschaft und jenem geistigen Ur-Wissen verdeutlichen. Nehmen wir ein Fußballspiel: Gerade ist ein Pfiff ertönt, und sofort stürmt ein Spieler auf den Ball los und schießt ihn am Torwart vorbei ins Tornetz. Halten wir in Gedanken das Ganze in dem Moment an, wo der Spieler den Ball trifft. Ein Wissenschaftler würde bei dem Versuch, das Spiel zu durchschauen, mit der typischen Frage beginnen: Warum ist der Stürmer losgerannt? Und irgendwann würde er den Pfiff als Ursache herausfinden. Damit hätte er für einen klassischen Naturwissenschaftler alles Mögliche erforscht, denn eine Ursache muss bei diesem Denken immer vorher, also in der Vergangenheit, liegen, und das stimmt für den Pfiff.

Ein Geisteswissenschaftler würde sich weniger um die Vergangenheit kümmern, denn er ist gewohnt, mit Absichten zu arbeiten und damit Gründe in der Zukunft zu suchen und würde also das Ziel, ein Tor zu schießen, als Ursache für das Losrennen des Spielers ausmachen. Offen-sichtlich sind beide Ursachen richtig, und ein Alleinvertretungsanspruch einer Seite ist unangemessen. Und doch spiegelt ein „Entweder-Oder“ unsere Wirklichkeit.

Die klassische Philosophie der Griechen war hier bereits einige Schritte weiter,

und so finden wir bei Aristoteles vier grundsätzliche Ursachen:

  1. eine stoffliche Ursache (causa materialis)
  2. eine Wirk-Ursache (causa efficiens)
  3. eine Zweck-Ursache (causa finalis)
  4. eine Form-Ursache (causa formalis et exemplaris).

Unsere beiden schon zitierten Ursachen erkennen wir in der Wirk-Ursache (Pfiff) und der Zweck-Ursache (Torschuss). Die stoffliche Ursache wäre in diesem Fall das Vorhandensein eines Fußballfeldes und eines Balles. Mit der vierten Ursache, der causa formalis et exemplaris, kommen wir aber zu einer ganz entscheidenden weiteren Bedingung. Sie ist in unserem Fall das Muster, das dem Spiel zugrunde liegt, das energetische Feld, das aufgebaut wird, einmal durch die formalen Spielregeln, zum anderen durch die inneren Regeln, die den Bewegungsablauf des Spielers bestimmen, und durch all die Beispiele der Gesamtheit aller Spiele und Torschüsse der Vergangenheit.

Diese formgebende Ursache ist verantwortlich für das innere Bild des Spielers von einem Torschuss, und als solche ist sie eng verknüpft mit der Zweck-Ursache (Ball im Tor). Die Zweck-Ursache liefert sozusagen das letzte Bild für die Bilderserie „formgebende und beispielhafte Ursache“.

Der englische Biochemiker und Philosoph Rupert Sheldrake

(geb. 28. Juni 1942) hat mit seiner Theorie der morphogenetischen Felder erstmals ein modernes Äquivalent für die formgebende Ursache geliefert. Inspiriert durch die Anwesenheit von und den täglichen Gespräche mit dem Mystiker, Mönch und Weisen Bede Griffiths (1906 – 1993) hat Sheldrake während eines 18-monatigen Aufenthalts im süd-indischen Saccidananda Ashram Shantivanam 1978/79 diese Felder entdeckt. Er schrieb seine Erfahrungen und Entdeckungen in dem Bede Griffiths gewidmeten Buch: „nieder. Das Schöpferische Universum – die Theorie des morpho-genetischen Feldes“

Setzen wir unser Fußballspiel in Analogie zu Lila, dem kosmischen Spiel, so haben wir ein schönes Bild unserer Wirklichkeit. Während die Naturwissenschaft die verschiedenen Frequenzen des Pfiffs erforscht und sich die Geisteswissenschaft um die Philosophie des Toreschießens kümmert, sieht der erleuchtete Weise das Muster hinter dem Spiel.

Um das Erkennen solcher Muster, ja eigentlich des einen großen Musters, geht es uns vor allem und auch darum, sich selbst als Teil des Großen Musters wahrzunehmen. Wir werden uns daher weniger um das Analysieren von Einzelheiten bemühen, sondern vielmehr den Blick offen halten für das Große Ganze. Diesem Ziel soll alles andere untergeordnet werden, auch Sprache und Logik.

Dass das Wellental, in dem die Weisheitslehren in unseren Breiten fast versunken schienen, dann doch nicht so tief war, zeigt ein Besuch im Dom von Siena/Italien: dort findet sich der Vater der Hermetischen Philosophie, Hermes Trismegistos, überlebensgroß und als zentrale Figur, den gesamten Domeingang beherrschend. Vor nicht einmal 1000 Jahren wurde also dieser große Hüter des kosmischen Gesetzes noch in Würden gehalten.

Die zugehörige lateinische Marmorinschrift lässt keinen Zweifel an seinem Rang und stellt ihn ausdrücklich an die Seite von Moses, dem anderen großen Gesetzeskünder. Während Moses` Gesetz zwar von den Christen vielfach im Munde geführt, im Wesentlichen aber ignoriert wurde, war das Gesetz des dreimal-großen-Hermes praktisch vergessen.

In diesem Zusammenhang sei an das Gesetz Moses`, das im christlichen Umfeld kaum Beachtung fand und findet, erinnert:

„Du sollst dir kein Gottesbildnis machen, das irgendetwas darstellt am Himmel droben,
auf der Erde unten oder im Wasser unter der Erde“
(Deuteronomium 5,8).

Bede Griffiths hat diese verbotene Bilderwelt als Form von Götzendienst bezeichnet und immer wieder betont, über Zeichen, Bilder und Rituale hinauszugehen. Die ZEN-Meister führen die Schüler in die Leere, in die bilderlose Welt, wo sich der Raum für den göttlichen Urgrund manifestiert.

Das hermetische Gesetz lässt sich kurz zusammenfassen:

„Wie oben, so unten.“
Und wenn wir das „Vater unser“ beten, bestätigen wir dieses Gesetz:
„Wie im Himmel so auf Erden.“

Diese Gesetzmäßigkeit enthüllt uns das Muster des Weltgefüges, indem sie den Makrokosmos zum Spiegel des Mikrokosmos erklärt und umgekehrt. Nachdem diese Analogie der Wissenschaft einige Jahrhunderte lang dazu gedient hat, die Naivität der Weisheitslehren zu belegen, haben jetzt wiederum Physiker heraus-gefunden, dass die weitreichendsten Gesetze, die heute formuliert werden können, jene der Symmetrie sind.
Mit anderen Worten:
Wie oben – so unten.

In diesem Symmetriesatz erkennen wir einen anderen klassischen Satz der östlichen Weisheitslehren wieder:
„Tat tvam asi“ (das bist du),
was besagen soll, dass der Betrachter sich in allem spiegelt und alles in ihm.
Es dies das
„Erkenne dich selbst“
(Tempel des Apollon von Delphi)
Im Westen nennen wir es:
pars pro toto.

Der Teil steht für das Ganze, enthält das Ganze — eine Erfahrung, die die Naturheilkunde zunehmend nachvollzieht, wenn sie etwa den ganzen Menschen in den Reflexzonen der Fußsohle oder den Akupunkturpunkten der Ohrmuschel wiederfindet. Die Physik belegt uns diesen Grundsatz mit dem Hologramm, wo jeder kleinste Bildabschnitt das ganze Bild enthält.

Die göttliche Strahlkraft im Menschen, das Meister-Schüler-Verhältnis, bedingungslose Liebe u.v.m. beruhen auf einem Resonanz- oder besser gesagt Konsonanzgesetz.
Beide Seiten müssen sich entsprechen, um miteinander in Konsonanz zu schwingen, oder wie Goethe es unübertroffen sagte:

„Wäre nicht das Auge sonnenhaft, die Sonne könnt es nie erblicken. Läg` nicht in uns des Gottes eigene Kraft, wie könnt uns Göttliches entzücken?“

Und der deutsche Dominikaner und Mystiker des Hochmittelalters Meister Eckart schreibt:

„Das Auge, mit dem ich Gott anschaue, ist genau dasselbe, mit dem Gott mich anschaut.“

Die Welt ist in der Tat symmetrisch, bzw. die Symmetrie scheint die nächste Annäherung an die Wahrheit zu sein, die wir finden können.

Die Wahrheit selbst ist in unserer polaren Welt nicht ausdrückbar, wiederum eine zeitlose, uralte Weisheit und eine neue Erkenntnis der Physik. Wir können uns die Wahrheit noch am ehesten als Schnittstelle vorstellen, an der die Spiegelung der Welten stattfindet. Wenn wir in einen Spiegel schauen, blickt uns unser seiten-verkehrtes Bild entgegen. Beide Bilder sind Gegenpole und bilden zusammen die eine Wahrheit. Irgendwo zwischen uns und unserem Spiegelbild liegt jene Ebene, um die gespiegelt wird, und die ist nicht wahrnehmbar. Schon geometrisch betrachtet hat eine Ebene oder Gerade keinerlei Dicke wie ein Punkt, der keinerlei Ausdehnung im Raum hat.

Damit kommen wir zu einer weiteren Erfahrung mit Symmetrie. Blasen wir solch einen dimensionslosen Punkt mit Raum auf, bekommen wir eine Kugel oder in der Ebene einen Kreis, ein Mandala. Die Kugel oder das Mandala sind sozusagen die in den Raum gespiegelte Einheit. Alles, was wir in der Kugel oder im Mandala finden, muss folglich schon im Punkt gewesen sein, wenn auch in einer sehr dichten Form.

Zum Punkt hin muss sich das Muster des Kreises immer mehr verdichten, denn der zur Verfügung stehende Raum wird ja immer kleiner. Schließlich am Punkt der größten Dichte hört dann plötzlich alles auf zu existieren und fällt in sich zusammen — ins Nichts. Nun ist das Muster aber nicht verschwunden, sondern es hat lediglich die Ebene des Materiellen, Greifbaren, verlassen. Vorhanden muss es noch sein, denn wir können es ja aus dem Punkt wieder entwickeln, indem wir Raum hineingeben. Die subjektive Erfahrung des Ebenen-Wechsels aus der Polarität von Raum und Zeit in die Einheit des Mittel-Punktes ist auch das Ziel jeder Meditation.

Punkt und Kreis (Mandala) sind graphische Symbole dafür. Auf einer rationalen Ebene haben die Atomphysiker ähnliche Erfahrungen gemacht, als sie sich in die Mitte des Atoms wagten.

Die Mitte aller Dinge mandala meer sand

In der Mitte aller Dinge liegt ihr Geheimnis, hier geschieht der Ebenen-Wechsel in eine neue Dimension, und das gilt nicht nur für das Atom, sondern auch für die Zelle und den ganzen Menschen, die Erde und letztlich wohl auch für das Universum.

Die klassische hermetische Analogie „Mensch ist gleich Mikrokosmos“ — Welt ist gleich Makrokosmos“ wollen wir dahin-gehend erweitern, dass auch der Mensch Makrokosmos sein kann, nämlich für die Zelle, und dieses wiederum für das Atom. Desgleichen kann die Erde Mikrokosmos gegenüber dem Universum werden. Diese uns ferneren Analogie-Ebenen können uns vieles verdeutlichen, da wir aus der Frosch- bzw. Vogelperspektive manche Muster und Zusammen-hänge klarer erkennen können. So werden wir erleben, wie sich all diese verschiedenen Ebenen entsprechen und einander widerspiegeln.

In der Mitte der Welt werden wir dem Absoluten, der Einheit, begegnen, wenn wir es auch nicht begreifen oder gar in Worte fassen werden. Die Unmöglichkeit des Begreifens liegt in unserem Denken begründet, die Unmöglichkeit des In-Worte-fassens liegt in der Natur der Worte. Denken und Sprache hängen äußerst eng zusammen und sind gleichermaßen ungeeignet, die Polarität zu überwinden. Die Einheit ließe sich nur von Mitte zu Mitte erleben. Dieses Erleben lässt sich aber nicht fassen.
Es gibt da nichts zu begreifen.

Unser Denken ist vollkommen in die Polarität integriert und von ihr abhängig,

beruht es doch auf der Sinneswahrnehmung, die wiederum auf dem Vergleich beruht. All unsere fünf Sinne können immer nur etwas mit etwas anderem vergleichen. Sie bedürfen notwendigerweise des Gegenpols.

Das Auge kann Hell gegen Dunkel abgrenzen (mit Hilfe der Stäbchen) und (mit Hilfe der Zapfen) eine Farbe gegen die andere. Das Ohr kann laut gegen leise, die Haut eine Empfindungsqualität wie starken Druck gegen schwächeren abgrenzen, die Geschmacks-nerven eine Geschmacksqualität gegen die andere, und ebenso funktioniert unsere Geruchswahrnehmung. Erfahrungen, wie relativ dieses System ist, haben wir alle schon gemacht durch das Phänomen der Gewöhnung.

Hat sich das Auge sehr lange an Dunkelheit angepasst, kann es plötzlich Dinge wahrnehmen, die vorher gänzlich unsichtbar waren, bis hin zu einzelnen Photonen (kleinste Lichtteilchen). Ist es andererseits stark geblendet worden, sieht es unter Umständen überhaupt nichts mehr. Nach einem scharfen Curry-Gericht kommt uns der normale Pfeffer plötzlich harmlos vor.

Unsere Wahrnehmung ist also schon in dem geringeren Bereich, für den sie ausgelegt ist, sehr relativ und situationsabhängig und bei weitem nicht so objektiv, wie unser altes mechanistisches Weltbild uns gern unterstellt. Hinzu kommt noch, dass sie tatsächlich nur ein sehr kleines Spektrum umfasst: Hunde z.B. hören viel besser und bis in ganz andere Frequenzbereiche hinein, während Fledermäuse mit Ultraschall arbeiten. Die Grenzen unserer Augen markieren die Worte „infra-rot“ und „ultra-violett“. Das zeigt aber nicht nur die Grenzen unserer Wahrnehmung, sondern gleichzeitig, dass da noch etwas ist und dieses Etwas auch wirkt, wie wir am Beispiel eines Sonnenbrandes schmerzhaft spüren können. Doch auch das Spüren hört bald auf, und hätten wir nicht Maschinen, die unsere begrenzten Sinne erweiterten, UKW oder Mittelwelle wären für uns sinnlose Ausdrücke.

Auf unsere Wahrnehmung ist viel weniger Verlass, als wir uns eingestehen.

Auf lustige Weise demonstrieren uns dies Filme: Plötzlich drehen sich in irgendeinem alten Western die Wagenräder falsch herum. Überhaupt narrt jeder Film unsere Optik.: Wo wir Bewegung sehen, sind garantiert lauter stillstehende Bilder, die einfach schnell aufeinander folgen. Wir müssen also zugeben, dass unsere Augen nicht nur relativ und in einem begrenzten Raum arbeiten, sie sind auch noch träge, sogar trügerisch, gaukeln sie uns doch, statt der in vielen einzelnen Sprüngen (den Einzelbildern) ablaufenden „Wirklichkeit“ einen gleichmäßigen, kontinuierlichen Strom von lebenden Bildern vor.

Und diese trügerischen Sinne liefern also die Grundlage unseres Denkens! Dazu kommen noch die mehr oder weniger mechanischen Erfahrungen körperlicher Art, die ebenfalls auf der Polarität beruhen. Die Worte „be-greifen“, „er-fassen“, „ver-stehen“, oder „ein-sehen“ und selbst „kapieren“ (von lat. caput = Kopf) zeigen uns den körperlichen Bezug unseres Denkens. Andere Worte haben wir nicht, um den betreffenden Sachverhalt dar-zulegen. Während in „ein-sehen“ wenigstens noch die Absicht mitschwingt, hinein-zusehen, das Eine sogar wirklich zu sehen, zeigen uns „er-fassen“ und „be-greifen“ deutlich, wo wir mit unserem Denken stehen. Um zu er-fassen und zu be-greifen, bedarf es im ursprünglichen Sinne der Hand und diese verdeutlicht uns wiederum sehr schön das polare Prinzip: Denn nur durch die Opposition des Daumens zu den übrigen Fingern, ist be-greifen möglich.

Das Be-schreiben der wirklichen Mitte ist aufgrund der Struktur unseres Denkens und unserer Sprache so gut wie unmöglich. Beide sind und bleiben Kinder der Polarität. Eigentlich bedürfte es der Formulierung des neuen ganzheitlichen Weltbildes einer Sprache, die, auch wenn sie die Einheit nie in den Griff bekommt, doch statt der polarisierenden eine vereinigende, zusammen-fassende Grundtendenz hätte.

Der 1992 in London verstorbene Physiker und Einstein-Schüler David Bohm skizziert in seinem Buch „Die implizite Ordnung“ solch eine Sprache in großen Zügen. Bohm war durch seine Gespräche mit Krishnamurti (1895 – 1986) tiefer in das Mysterium der östlichen Weisheitslehren eingestiegen und hat sein physikalisches Weltbild hierdurch wesentlich erweitert. Mit David Bohm, dem wir zuletzt im September 1990 in Amsterdam persönlich begegnet waren, war für Oktober 1992 ein Treffen mit Bede Griffiths in London geplant. Dies musste leider kurzfristig abgesagt werden, weil Bede Griffiths in nicht bester gesundheitlicher Verfassung war und in den ersten Oktobertagen von München über Rom nach Indien zurückflog.

Dieser Dialog zwischen zwei großen Wissenden wäre sicherlich hochinteressant geworden.

Bohm starb ein halbes Jahr vor Bede Griffiths und nahm sein wohl größtes Geheimnis mit ins Grab. Am 27. Oktober 1992 rief er seine Frau aus seinem Londoner Institut an, um ihr mitzuteilen, dass er soeben die wichtigste Erfahrung seines Lebens gemacht habe und er sich sofort ein Taxi rufe. Der mystische Physiker David Bohm stirbt auf dem Weg nach Hause und konnte seiner Frau sein Erlebnis nicht mehr mitteilen.

Bohm verweist in seinem oben genannten Buch darauf, dass das klassische Hebräisch eine Sprache der Verben war und erst die moderne Sprachform die Verben substantivierte und das Gesamtmuster dem heutigen Deutsch und Englisch anglich. Möglicherweise sind unsere das Subjekt betonenden Sprachen synchroner Ausdruck unseres Subjekt betonenden Denkens — Sprachen des Egos und des Patriarchats, welche die fließenden, Verb betonten Sprachen früherer matriarchaler oder ganzheitlicher Kulturen verdrängt haben.

Wendungen wie: etwas verbalisieren oder sich verbal ausdrücken, könnten in diese Richtung weisen, betonen sie doch die Verben in einer heute gar nicht mehr angemessenen Weise.
Auch das Grundmuster unserer Grammatik: „Subjekt, Prädikat, Objekt“ verdeutlich die Trennung des Beobachters (Subjekt) von der Welt (Objekt) und betont die dominierende Stellung des Subjekts. Kein Satz darf zum Beispiel ohne deutlich abgetrenntes Subjekt sein, selbst wenn eigentlich gar keines erforderlich ist:
Es stürmt. Es regnet usw..
Wer sollte denn dieses „es“ sein ?
Diese Trennung von Beobachter und Objekt, bislang eine unerlässliche Voraussetzung wissenschaftlicher Forschung, ist in letzter Zeit von der Quantenphysik als ein der Wirklichkeit ebenso unangemessenes wie unmögliches Vorgehen erkannt worden. Die Spaltung von Subjekt und Objekt ist das Hindernis, um zur Erleuchtungs-Erfahrung zu kommen. Die Verschmelzung in der Nicht-Dualität (Sanskrit: Advaita) ist das Ziel unseres Lebens.

Sprache war niemals und kann niemals etwas vom vermittelten Inhalt Unabhängiges sein.

Sie beeinflusst das Besprochene. Früher wurden Dinge noch im wahrsten magischen Sinne be-sprochen und natürlich dadurch beeinflusst. Es wurde den Menschen etwas ein-geflößt, ein Energiestrom in sie hineingeleitet. Auch die Buchstaben gaben ihr ursprüngliches Geheimnis noch bereitwillig preis; wurden die Buchenstäbe doch in der Frühzeit verwendet, um in divinatorischen Ritualen den Götterwillen zu lesen. So diente auch die Schrift anfangs nicht der Zerteilung der Welt, sondern vielmehr ihrem Zusammenschluss. In dem Ausdruck „jemand sein Wort geben“ schwingt noch die ursprüngliche Bedeutung, die das Wort hatte, mit.

Unser Denken beruht neben dem Vergleichen zweier Pole vor allem auf deren Bewertung. Nun ist aber Wertung etwas der Mitte (Einheit) völlig Fremdes. In der Einheit kann es keine Wertung mehr geben. Schwarz und weiß, gut und böse sind hier eins. In der Wertung liegt allerdings auch ein hoffnungsvoller Same:
Im antiken Griechenland bedeutete „ratio“ nicht nur „Vernunft“, sondern auch „Verhältnis“ und „Proportion“. Das Denken der Antike zielte auf diese ratio, auf Vernunft und das rechte Maß.

Pythagoras formulierte, der Mensch sei das Maß aller Dinge.

Er meinte damit offensichtlich, dass das Maß nichts dem Menschen Äußerliches ist, sondern ganz wesentlich von ihm abhängt, ja, aus ihm kommt. Für Pythagoras ging das rechte Maß über äußere Zahlenverhältnisse weit hinaus. Es galt ihm als Schlüssel für Harmonie im individuellen menschlichen Verhalten, auf gesellschaftlicher Ebene und im spirituellen Bereich. Es bestimmte die bildenden Künste im Griechenland der damaligen Zeit, der goldene Schnitt der Renaissance mag noch als Erinnerung daran gelten. Auch in der klassischen Musik ging es vor allem um rechte Verhältnisse. So war das Maß weit mehr als ein äußerer Maßstab, um äußere Dinge abzumessen. Es war ganz entscheidend mit dem inneren Ermessen der Menschen verbunden.

Erst im Laufe der Zeiten kam es dann zu einer Verarmung des Begriffes, wodurch er immer unabhängiger vom menschlichen Ermessen und dafür „objektiver“ wurde, bis er schließlich zum Schlüsselwort für Wirtschaft und Wissenschaft geriet. Wenn wir den Begriff des „Er-Messens“ aus seinem modernen Gefängnis befreien, ihn wieder mehr in jene Richtung rücken, in der er als rechtes Maß ein Schlüsselbegriff der pythagoräischen Harmonik war, kann er uns zum wichtigen Hilfsmittel werden.

Wir müssen nämlich auf dem vor uns liegenden Weg wieder lernen, nicht mehr nur äußere Abmessungen miteinander zu vergleichen, sondern inneren, wesensmäßigen Übereinstimmungen zwischen Mikrokosmos und Makrokosmos zu ermessen. In seinem alten Sinn hat das Messen und Werten viel mehr mit Erkennen und Erfühlen zu tun.

Es geht weniger um Quantität als um Qualität,

und in diesem Sinne wird es für uns wesentlich – soll es doch bei unserem Werten mehr um einen inneren Wert, um Sinn und Symbol, als um äußeres Maß gehen.

In diesem Zusammenhang mag es auch einleuchten, dass das lateinische Wort für heilen, „mederi“, auf messen zurückgeht. Heilen hat viel mit messen gemein, weniger was äußere Werte (Laborwerte, Blutdruck etc.) angeht, als was das Ermessen der richtigen Verhältnisse, das Finden des rechten Maßes und damit der Mitte anbelangt. So ist auch Meditation mit der Medizin über diese gemeinsame sprachliche Wurzel verbunden.

Noch deutlicher wird die englische Sprache, wo das Wort für Heilmittel „remedy“, sogar das Zurück-zur-Mitte ausdrückt, ebenso wie das lateinische Wort „re-medium“. Eine meditative Haltung auf dem Weg zur Erkenntnis der Entsprechungen zwischen Mikro- und Makrokosmos ist die beste Begleitung auf unserem Weg.

Wenn sich unser drittes Auge, das Auge der Weisheit öffnet, werden alle Sinneswahrnehmungen in eine neue Dimension verwandelt, die Trennung, Polarität, Dualität transzendiert.

30.05.2024
Roland R. Ropers
Religionsphilosoph, spiritueller Sprachforscher, Buchautor und Publizist

www.KARDIOSOPHIE-NETWORK.de


Über Roland R. Ropers

Ehrfurcht vor dem Leben Roland Ropers

Roland R. Ropers geb. 1945, Religionsphilosoph, spiritueller Sprachforscher,
Begründer der Etymosophie, Buchautor und Publizist, autorisierter Kontemplationslehrer, weltweite Seminar- und Vortragstätigkeit.
Es ist ein uraltes Geheimnis, dass die stille Einkehr in der Natur zum tiefgreifenden Heil-Sein führt.

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Weg-Weiser zur kosmischen Ur-Quelle

von Roland R. Ropers und
Andrea Fessmann, Dorothea J. May, Dr. med. Christiane May-Ropers, Helga Simon-Wagenbach, Prof. Dr. phil. Irmela Neu

Die intellektuelle Kopflastigkeit, die über Jahrhunderte mit dem Begriff des französischen Philosophen René Descartes (1596 – 1650) „Cogito ergo sum“ („Ich denke, also bin ich“) verbunden war, erfordert für den Menschen der Zukunft eine neue Ausrichtung auf die Kraft und Weisheit des Herzens, die mit dem von Roland R. Ropers in die Welt gebrachten Wortes „KARDIOSOPHIE“ verbunden ist. Bereits Antoine de Saint-Exupéry beglückte uns mit seiner Erkenntnis: „Man sieht nur mit dem Herzen gut“. Der Autor und die sechs Co-Autorinnen beleuchten aus ihrem individuellen Erfahrungsreichtum die Vielfalt von Wissen und Weisheit aus dem Großraum des Herzens.

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