LEBENSRICHTUNG – Quelle und Strom
„Die Welt ist voller Gegensätze.
Hinter der Trauer verbirgt sich Glück,
und hinter dem Glück Trauer.
Wo die Sonne scheint, ist auch Schatten.
Wo Licht ist, ist auch Dunkel.
Wo Geburt ist, das ist auch Tod.
Loslösung von allem besteht darin,
von diesen Gegensätzen nicht mehr
berührt zu werden.
Die Methode, über sie zu obsiegen,
besteht nicht darin, sie auszulöschen,
sondern darin, sich über sie zu erheben
und vollkommen frei zu sein von
jeder Gebundenheit an sie.“
(Mahatma Gandhi, 1869 – 1948)
Ein chinesisches Sprichwort sagt:
„Wer an die Quelle will, muss gegen den Strom schwimmen!“
Im Sanskrit wird die uranfängliche Schöpfung, aus der alles hervortritt und in dem weiten Ozean mündet, mit „Sarga“ bezeichnet. Alle fühlenden Wesen auf unserem Planeten – ob Mensch, Tier oder Pflanze – entspringen einer Quelle und entwickeln sich individuell verschieden auf einer unendlichen Lebensreise, die durch prägende Umstände stets neue Formen annehmen können, in ihrem Ur-Wesen aber unveränderlich bleiben.
Die uns allen gemeinsame Quelle, Ursprung und ewige Heimat zugleich, können wir auch mit Religion bezeichnen. Religiös verschiedene Überzeugungen existieren nicht, wohl aber eine Vielfalt von Konfessionen, von Bekenntnissen zu Glaubenstraditionen, die man nicht mit Erkenntnis und Wissen (griechisch: „theoria“ und „gnosis“) verwechseln darf.
Wenn eine frei fließende Gebirgsquelle in eine Richtung gebracht werden soll, wird sie durch die Schaffung von zwei Ufern zunächst zu einem Bach, später zu einem großen Fluss und Strom, der dann in uferloser Freiheit im weiten Ozean mündet. Auf ähnliche Weise vollzieht sich auch das Leben des Menschen. Sehr starke Uferbegrenzungen werden zu dogmatischen Gefängnissen, aus denen sich jeder gern befreien möchte. Jeder möchte Dirigent sein, aber niemand möchte dirigiert werden (lat.: rigere, dirigere).
Alle unsere Bemühungen richten sich auf das gemeinsame Ideal mit dem Ziel der fortwährenden Aufhebung aller Sorgen und der Erfahrung unendlicher Glückseligkeit (Sanskrit: Ananda). Das höchste Ziel von Wissen (griech.: theoria = Wesensschau) ist die Verwirklichung des Absoluten. Moksha (Sanskrit: Befreiung) ist die höchste Ausdrucksform des Wesens, des urgründigen Seins in seiner ursprünglichen Natur der reinsten Vollkommenheit.
Wahre Emanzipation (Befreiung) ist das Bewusst-Sein
von der Wirklichkeit und ist weder das Gefühl, irgendetwas zu werden, was vorher nicht vorhanden war, noch in eine andere Welt der größeren Freude zu reisen. Es ist die Erkenntnis der Ewigen Existenz, die Bewusstheit der innewohnenden Natur des Reinen Seins, der Urquelle unseres unbegrenzten Lebens.
Es ist die Freiheit, die durch das Wissen, dass wir immer frei sind, gewonnen wird. Wissen ist nicht nur die Ursache für Freiheit. Es ist die Freiheit selbst. Da Bewusstsein allein die Gesamtheit des Wesens ist, gibt es im höchsten Zustand kein Bewusstsein von irgendetwas Objektivem.
Der legendäre Jesuitenpater Professor Dr.Dr. Michael Windey (1921 – 2009),
der mehr als 60 Jahre in Indien jenseits aller Medienpräsenz Großes bewirkt hatte, war u.a. mit Mahatma Gandhi besonders verbunden; er wurde mit dem Gandhi-Prize ausgezeichnet. Für Michael Windey, der bewusst nie ein Buch geschrieben hat, war die Freiheit des Menschen sein zentrales Anliegen.
„Wir sind bereits inkarniert – nur vielen fehlt dafür noch die Wahrnehmung. Für mich – ich habe in 60 Jahren meines Lebens in Indien sehr viel erfahren – gibt es eine Reinkarnation nicht. Sie ist eine Flucht aus der göttlichen Wirklichkeit und der kontinuierlichen Schöpfung Gottes. Ich denke wirklich an nur ein Leben. Meine Ewigkeit hat angefangen, ich komme von der Ewigkeit und nicht von der Zeitlichkeit. Ich bin von ewig geschaffen, muss diese Ewigkeit inkarnieren. Nicht umsonst sind die Gurus auf die Berge gegangen, nicht umsonst sind die Leute von den großen Städten weggegangen. Sie haben realisiert, dass die Ewigkeit dort ist, wo die universelle, die offene Natur und nicht ein fester Punkt auf der Erde ist. Gott ist schon im Zentrum, und der konkrete Unterschied, den wir jetzt nicht ganz erfahren und realisieren können, ist der Unterschied zwischen unserer beschränkten Seele und der Anwesenheit Gottes. Das ist, glaube ich, was wir am besten über den Tod sagen können: so wie ein Schmetterling, der aus der Raupe kommt.“
Michael Anthony Windey wurde am 28. April 1921 in der flandrischen Stadt Buggenhout/Belgien als viertes von 12 Kindern geboren. Ein hochbegabter – künstlerisch wie sprachlich – Junge einer deutschen Mutter und eines englischen Vaters. Bereits mit 17 Jahren trat er in den Jesuitenorden ein, studierte in Belgien und Frankreich Philosophie und Theologie.
Michael Windey hatte in Paris bei Henri Bergson Philosophie studiert und über ihn promoviert. Bergson erhielt für sein Hauptwerk „Schöpferische Entwicklung“ 1927 den Nobelpreis für Literatur. Windey’s beispielhafte Tätigkeit in den indischen Dörfern ist von schöpferischer Entwicklung geprägt. In seinem Heimatland promovierte Michael Windey in Theologie über den Freiheitsbegriff bei Jesus Christus. Zweifach promoviert und in 6 europäischen Sprachen zu Hause, ging Michael Windey 1946 als 25-jähriger Pionier nach Indien – sein Lebensziel war von Anbeginn, die Menschen in ihre individuelle Freiheit zu führen.
Er begegnete wiederholt Mahatma Gandhi, der in inspirierte, sich um die Dörfer Indiens zu kümmern. Am 15. August 1947 erlebte der junge Jesuitenpater das Fest der Unabhängigkeit Indiens. Nur wenige Monate später wurde Mahatma Gandhi am 30. Januar 1948 ermordet. Gandhis Worte wurden Windey’s Lebensinhalt.
Nach über 2 Jahrzehnten Professorentätigkeit an der Universität von Ranchi, gründete Michael Windey eine Organisation zum Wiederaufbau von Dörfern, eine bis heute beispiellose Bewegung.
Es gibt kaum jemand, der den Subkontinent Indien so intim kannte wie Michael Windey.
Er sprach 9 indische Sprachen. Tag und Nacht war er unterwegs, eine Leuchtgestalt von geradezu seltener Qualität. Er bewegte sich kraftvoll im Stillen. Michael Windey hatte die tiefe Grundstruktur des Universums erkannt und hielt sich nicht in postmodernen Spekulations-räumen auf, wo über Bewusstseinsstrukturen sehr viel phantasiert wird.
Er hatte über 11.000 Dörfer besucht, an deren Namen er sich erinnern konnte. Für seine ständigen Reisen auf dem gesamten Subkontinent Indien hatte er nur selten eine Straßenkarte benötigt. In der Regel war „Father Dynamo“, wie man ihn nannte, 3-4mal in der Woche mit den Nachtzügen unterwegs, am Tag wurde intensiv gearbeitet. Wer mit ihm jemals in den entlegensten Gebieten unterwegs war, kann ein Lied von den Strapazen, denen er ständig ausgesetzt war, singen.
Nahezu täglich verfasste er Gedichte in verschiedenen Sprachen, aber publizierte aus guten Gründen kein einziges Buch. Die Reflektion seines Egos war für ihn überflüssig. Seine Theologie basierte nicht auf einem dogmatischen Lehrgebäude, sondern auf einer authentisch gelebten Ur-Christlichkeit, von dem der amtierende Papst und viele seiner Bischöfe viel lernen könnten.
Eine aufwendige Verkleidung war ihm völlig fremd. Wer mit Michael Windey Eucharistiefeiern erlebt hat, konnte seine unterschiedslose Liebe zu jedem Menschen spüren. Er machte keinen Unterschied zwischen Christen, Hindus, Muslimen, Buddhisten und Anhängern anderer Religionen.
Über 3 Millionen Bäume hatte er pflanzen lassen.
Der Baum des Lebens und des Lichts war für ihn immer von größter Bedeutung.
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Bei einer der größten Überschwemmungen betrug der Tidenhub des Flusses 18 Meter. Zahlreiche Dörfer waren bis zu 2 Metern unter den reißenden Wassermassen begraben. Bei Katastrophen war Pater Windey bis ins hohe Alter stets über Wochen und Monate Tag und Nacht im Einsatz.
Nach einem erfüllten Leben starb Michael Windey im Alter von 88 Jahren am 22. September 2009 in seiner belgischen Heimat.
Im 50. Kapitel des „Tao Te King“ von Lao Tse lesen wir:
„Wenn die eine Richtung Leben bedeutet
und die andere Richtung Tod,
so ist ein Drittel der Menschen für das Leben
und ein Drittel für den Tod.
Dann gibt es noch diejenigen,
die das Leben hochschätzen
und sich folglich auf das Reich des Todes zu bewegen.
Auch sie bilden ein Drittel.
Warum ist das so?
Weil sie übermäßig am Leben hängen.
Wer es versteht, richtig zu leben,
kann überall hingehen,
ohne Angst vor dem Nashorn oder dem Tiger.
Er wird auch nicht verwundet werden im Kampf.
Das Nashorn findet an ihm keine Stelle,
wo es sein Horn hineinstoßen könnte,
und der Tiger findet keinen Platz für seine Pranken.
Ebenso finden auch andere Waffen keine Stellen,
wo sie treffen könnten.
Warum ist das so?
Weil es für einen solchen Menschen
kein Reich des Todes gibt.“
03.12.2020
Roland R. Ropers
www.KARDIOSOPHIE-NETWORK.de
Über Roland R. Ropers
Roland R. Ropers geb. 1945, Religionsphilosoph, spiritueller Sprachforscher,
Begründer der Etymosophie, Buchautor und Publizist, autorisierter Kontemplationslehrer, weltweite Seminar- und Vortragstätigkeit.
Es ist ein uraltes Geheimnis, dass die stille Einkehr in der Natur zum tiefgreifenden Heil-Sein führt.
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