Keine Angst vor deiner Wut

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Hab keine Angst vor deiner Wut
Negative Emotionen als Wege zur Transformation annehmen

Wie begegnest du negativen Emotionen, wie intensiver Wut, Angst, Trauer, Einsamkeit, Kummer und Verwirrung? Wenn wir von diesen schwierigen Gefühlen überwältigt werden, entscheiden sich die meisten von uns bewusst oder unbewusst für eine oder zwei der folgenden beiden Reaktionen:

1. Vollkommene Identifikation. Du wirst zu deinen Emotionen und lässt sie die Oberhand gewinnen. Dazu zählt auch sie ausdrücklich zu auszudrücken (manchmal auf ungezügelte Weise).
2. Unterdrückung. Du tust dein Bestes um diese Emotionen zu vermeiden, indem du sie in irgendeine dunkle Ecke deines Wesens verdrängst und weiterziehst.
3. Selbstanalyse. Du versuchst den Ursprung deiner Gefühle zu begreifen und sie durch dein Verständnis zu regulieren.
4. Ein gegensätzliches Denken kultivieren. Du versuchst so „spirituell“ oder „positiv“ wie möglich zu bleiben, in dem du an tröstenden oder glücklichen Gedanken festhältst.
5. Sich Techniken oder Meditation zuwenden. Du nutzt kognitive oder physische Methoden, wie Selbsterforschung oder Atmung, die dir in ähnlichen Momenten der Not geholfen haben.

Die Gründe einen oder zwei dieser Ansätze zu nutzen, sind vielfältig. Vielleicht wirst du von dem verständlichen Wunsch geleitet, dich gut zu fühlen. Oder du machst dir Sorgen, dass deine Emotionen außer Kontrolle geraten, oder du ziehst es vor Emotionen auszuweichen, bei denen du glaubst, dass du keine Werkzeuge hast, um mit ihnen umzugehen. Es gibt jedoch auch eine sechste mögliche Antwort auf deine sogenannten dunkleren Momente: Der Weg tantrischer Transformation.

Licht im Herzen der Dunkelheit

Es gibt unzählige Wege spirituelle Ansätze zu klassifizieren. Eine wichtige Unterscheidung ist die Art und Weise, wie du die Inhalte deiner inneren Welt wahrnimmst und versuchst, mit ihnen in Beziehung zu gehen. Der konventionelle Ansatz ermutigt dich deine Gedanken und Emotionen von einer neutralen, losgelösten Position aus zu beobachten. Der weniger konventionelle, tantrische Weg ist davon überzeugt, dass du, wenn du dich furchtlos in das Herz der Dunkelheit bewegst, entdecken wirst, dass sie tatsächlich eine unglaubliche Quelle der Erleuchtung ist. Anstelle der Transzendenz wählst du also den Weg der Transformation.

Das gilt für alle deine negativen Zustände und Erfahrungen im Leben, einschließlich deiner schlimmsten Traumata: Wenn du dich mit Mitgefühl und Weisheit in sie hineinbegibst, kannst du aus deinem direkten Erleben heraus erkennen, das jedes einzelne von einen eine spezifische Energie enthält, die dich, wenn sie freigesetzt wird in ein erweitertes Bewusstsein führt, eine erhöhte Präsenz und ein kraftvolleres Handeln in der Welt.

Tantra, ein radikaler spiritueller Ansatz der in verschiedenen Religionen und mystischen Schulen vom Hinduismus über den Buddhismus bis hin zum Taoismus zu finden ist, zeigt sich von seiner besten Seite, wenn es um unsere „dunkelsten“ Elemente geht. Während der neutrale Weg der Meditation danach strebt, sich dem Licht zuzuwenden, zeigt Tantra uns, dass Dunkelheit nicht das Gegenteil von Erleuchtung ist.

Wie der tantrische Buddhist Lama Yeshe einst schrieb,

manipuliert ein geübter tantrischer Praktizierender Energien wie Begierde oder Wut auf die gleiche Weise zu seinem Vorteil, wie ein Kräuterkundiger giftige Pflanzen zu einer kraftvollen Medizin verwandelt. All diese Materialien, die dir die Existenz zur Verfügung stellt, sind wertvoll, bedeutungsvoll und manchmal sogar potentiell nützlicher als viele deiner positiven Momente. Deswegen solltest du deine Sexualität, Anhaftungen oder deinen Liebeskummer als Chance zu Transformation annehmen und nutzen.

Ich glaube, dass das ein frischer und realistischer Ansatz ist: Als Menschen müssen wir durch diese scheinbaren Dämonen hindurchgehen. Wir mögen uns selbst als makellose Buddha-Statuen sehen, aber was uns zu Buddhas macht, ist nicht unbedingt die Abwesenheit bestimmter Gefühle und Situationen – es liegt vielmehr an der Art und Weise, wie wir ihnen begegnen. Natürlich sind sich alle spirituellen Traditionen, Tantra inbegriffen, darin einig, dass wir uns nicht zu sehr mit diesen Zuständen identifizieren sollten. Aber der Mehrwert des Tantra besteht darin, dass du lernst die Welle zu reiten, indem du ohne Vorbehalte oder Vermeidung, vollkommen zustimmst in einem herausfordernden Zustand zu sein. Wenn die Welle vorbei ist bleibst zu so nicht nur unbeschadet zurück, sondern auch erleuchteter.

Die Kunst, sich in die Dunkelheit zu entspannen

Probiere dies einmal aus: Wenn du mit Gefühlen wie Einsamkeit oder Trauer konfrontiert wirst, oder wenn die Dinge in deinem Leben sogar aus den Fugen zu geraten scheinen, stimme zu, dich in diesen Zustand hineinzubegeben und still und entspannt in ihm zu sitzen, anstatt die Intensität des Zustands auflösen zu wollen. Das mag sich zunächst seltsam anfühlen, eine seltsame Mischung aus Vertrautheit mit deinen Gefühlen, während du gleichzeitig nicht vollständig mit ihnen identifiziert bist. Lade den emotionalen Zustand ein an die Oberfläche deines Gewahrseins zu kommen und sich wie eine Blume vor deinem geistigen Auge zu entfalten. Mache dies ohne Selbstverurteilung: Nur das Mitgefühl für deinen Zustand kann zu einem Verständnis für die wahre Natur und das Potenzial dieses Zustands führen.

Anstatt das unangenehme Gefühl zu verdrängen, halte es in dir und lass es sich ausdehnen. Du wirst überrascht sein, dass wenn du einer scheinbar unkontrollierbaren negativen Energie erlaubst, sich in deinem Wesen auszubreiten, sie auch dein Bewusstsein erweitert. Wir befürchten oft, dass Emotionen wie Frustration oder Wut ein Fass ohne Boden sein könnten. Aber selbst der schlimmste Zustand hat eine Grenze, und wenn du ihn diese Grenze erreichen lässt, wird er zu etwas anderem.

Ein guter Ausgangspunkt kann deine Wut sein.

Entweder du identifizierst angestaute und unterdrückte Wut oder du wartest auf den nächsten Moment, indem sie natürlich ausgelöst wird. Wut ist unser letzter Ausweg angesichts unserer schmerzhaften Machtlosigkeit in der Welt. Durch Wut versuchen wir, unseren vereitelten Willen gegen unnachgiebige Menschen und Umstände durchzusetzen. Daher müssen wir uns zunächst des Schmerzes der Machtlosigkeit bewusstwerden, der sich hinter unserer Wut versteckt, während wir einfühlsam anerkennen, dass es menschlich verständlich ist, dass wir versuchen kraft- und machtvoll zu sein, wenn wir absolut keine Kontrolle haben.

Dein nächster Schritt ist, zu bemerken, dass du, wenn du wütend bist, mit einer Quelle der Kraft in dir verbunden bist. Durch die rote, konzentrierte Energie der Wut wirst du wie zu einem brüllenden Löwen oder einem ungezähmten Pferd. Ein Zustand, der deutlich besser ist als dein gewöhnlicher schwacher oder schläfriger Zustand. In anderen Worten macht Wut dich vollkommen präsent: Du beanspruchst und füllst den Raum um dich herum und das bedeutet, dass Wut die Grundlage für Präsenz ist. Zu versuchen auf der Grundlage deiner guten und sanften Energien präsent zu sein, reicht vielleicht nicht aus.

Deswegen erscheinen die Gottheiten im tantrischen Buddhismus, die deine Buddha-Natur repräsentieren sollen, nicht nur liebevoll sondern auch zornig. Die Botschaft ist klar: Wut ist das brennende Material, aus dem du als das großartige Wesen, das du bist, hervorgehst.

Wenn du in deine Wut hineinatmest und ihre konzentrierte Energie in deinem ganzen Wesen ausbreitest, ohne sie zu zerstreuen oder auszudrücken, wird sie schließlich dein Gefühl der Kleinheit und dein begrenztes Selbstbild durchbrechen. Deine Wut wird dich größer machen. Wenn du das Gefühl hast, dass du sie nicht im Zaum halten kannst, erweitere einfach dein Wesen. Was dich wirklich beunruhigt hat, war dieses Gefühl des Kleinseins: nicht dein Versagen, die Realität um dich herum zu zähmen, sondern deine eigene erdrückende Identität. Und wenn du endlich dein Bedürfnis nach Präsenz und Kraft gestillt hast, wirst du dich auch in der Lage fühlen, in die Welt zurückzukehren und nach deinen neuen Maßen zu handeln.

06.09.2023
Shai Tubali

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Alle Beiträge des Autors auf Spirit Online

Auch das Redaktionsteam bedankt sich bei dem Übersetzer des Autors Carlos Stickel für seine hervorragende Arbeit.


 

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Shai Tubali

Shai Tubali, PhD, ist eine herausragende Autorität auf dem Gebiet der Selbstentfaltung und Selbstermächtigung. In seinen Büchern und Lehren verbindet er gekonnt Psychologie, Philosophie, yogische Traditionen und fernöstliches Denken und Praktiken zu kraftvollen Prozessen der inneren Transformation. In seinem neuesten Buch “Llewellyn’s Complete Book of Meditation”, das im Januar 2023 erschienen ist, …
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