
Erwartungen im Leben, zwischen Illusion und spiritueller Klarheit
„Erwartung ist die Wurzel allen Herzschmerzes.“ – William Shakespeare
In einer Welt, die sich durch Schnelllebigkeit, Leistung und Kontrolle definiert, scheint es beinahe unvermeidlich zu sein, Erwartungen an sich selbst, andere Menschen und das Leben im Allgemeinen zu haben. Erwartungen strukturieren unser Denken, sie verleihen der Zukunft eine scheinbare Sicherheit, formen unsere Beziehungen, Hoffnungen und Ängste. Doch aus spiritueller Sicht stellen Erwartungen oft eine subtile Form der Anhaftung und Illusion dar – und können uns von unserer wahren inneren Freiheit entfernen.
Was bedeutet es also, Erwartungen im Licht spiritueller Weisheit zu betrachten? Wie lassen sich Erwartung und Vertrauen, Wille und Hingabe miteinander in Einklang bringen? Und was geschieht, wenn wir lernen, unsere Erwartungen loszulassen?
Die Natur der Erwartung
Erwartungen sind mentale Projektionen in die Zukunft. Sie basieren auf Erfahrungen aus der Vergangenheit, inneren Wunschbildern oder gesellschaftlichen Konditionierungen. Wir erwarten Anerkennung für unsere Leistung, Liebe für unser Geben, Glück als Ergebnis harter Arbeit, ein „gutes Leben“, wenn wir uns an bestimmte Regeln halten.
Oft geschieht dies unbewusst – wir bauen auf Vorstellungen, wie die Welt „zu sein hat“, wie Menschen „sich verhalten sollten“, wie „das Leben laufen muss“. Diese Gedankenmuster schaffen ein mentales Konstrukt, das uns Sicherheit suggeriert. Doch sobald das Leben anders verläuft als geplant, fühlen wir uns betrogen, enttäuscht, verletzt.
Erwartung ist damit ein Spiel mit der Zukunft – und gleichzeitig ein subtiler Ausdruck des Mangels im Jetzt.
Spirituelle Perspektive: Leben im Jetzt statt Leben im „Was wäre wenn“
Im Zentrum nahezu aller spirituellen Traditionen steht der Gedanke des gegenwärtigen Augenblicks. Eckhart Tolle formuliert es prägnant: „Es gibt nur das Jetzt. Die Zukunft ist eine Illusion.“
Indem wir Erwartungen an eine hypothetische Zukunft knüpfen, verschieben wir unser Bewusstsein fortwährend aus dem Hier und Jetzt. Wir verlieren uns im „Was wäre, wenn …“ oder im „Ich hoffe, dass …“. Dies erzeugt Leid – weil wir etwas greifen wollen, das (noch) nicht existiert.
Der Buddhismus spricht in diesem Zusammenhang von Anhaftung (tanha) – einem der drei Ursachen für menschliches Leid. Erwartungen sind eine Form der Anhaftung an bestimmte Ergebnisse, die unsere innere Balance empfindlich stören können, wenn sie nicht erfüllt werden.
Spirituelle Reife bedeutet deshalb auch, die Fähigkeit zu kultivieren, im Moment zu leben – ohne an zukünftige Ereignisse Bedingungen zu knüpfen.
Erwartungen an andere – der Beginn von Enttäuschung
Ein häufiger Nährboden für inneres Leiden sind die Erwartungen, die wir an andere Menschen stellen: Wir wünschen uns, verstanden, geliebt, unterstützt, gesehen zu werden. Wir hoffen, dass sich andere so verhalten, wie wir es für richtig halten.
Doch der andere ist ein freies Wesen. Die spirituelle Weisheit mahnt: Jeder Mensch steht auf seinem eigenen Seelenweg. Die Erwartungen, die wir an ihn stellen, haben mehr mit uns zu tun als mit ihm.
Wer einem anderen seine Erwartung überstülpt, nimmt ihm die Freiheit – und sich selbst den inneren Frieden.
Die Mystikerin und Autorin Byron Katie lehrt in ihrer Methode „The Work“, dass der einzige Bereich, über den wir wirklich Kontrolle haben, unsere eigenen Gedanken und Reaktionen sind. „Wenn du deine Erwartungen an andere loslässt, erfährst du, was Liebe wirklich ist.“
Das bedeutet nicht, sich alles gefallen zu lassen oder grenzenloses Verständnis zu zeigen, sondern vielmehr, in sich selbst zu klären: Ist meine Erwartung berechtigt – oder entspringt sie einer inneren Leere, die ich im Außen zu füllen versuche?
Erwartungen an sich selbst – der spirituelle Burnout
Auch der Blick nach innen ist entscheidend. Unsere stärksten und oft härtesten Erwartungen richten sich an uns selbst: perfekt zu sein, stark zu sein, spirituell „richtig“ zu leben, alles zu meistern, immer positiv zu denken.
Diese inneren Ansprüche können zu einem spirituellen Burnout führen. Statt Selbstmitgefühl kultivieren wir einen subtilen Leistungsdruck, auch auf dem Weg des Bewusstseins.
Doch wahre Spiritualität kennt kein „Besserwerden“. Sie ist ein Weg des Erkennens, nicht des Erreichens. Es geht darum, Schichten von Konditionierung, Erwartungen und Vorstellungen abzulegen, um zum Wesenskern vorzudringen.
Jesus sagte im Thomasevangelium: „Wenn ihr das Äußere zum Inneren macht … dann werdet ihr das Reich erkennen.“ Das Äußere – unsere Erwartungen, Masken, Rollen – muss transparent werden, um die innere Essenz freizulegen.
Zwischen Wunsch und Hingabe
Ein häufiger Einwand lautet: „Soll ich also nichts mehr wollen? Keine Ziele haben, keine Wünsche?“ – Nein. Spiritualität ist kein Nihilismus. Wünsche sind Teil des menschlichen Erlebens. Doch der entscheidende Unterschied liegt in der inneren Haltung.
Eine Erwartung sagt: „Es muss so kommen, sonst bin ich nicht zufrieden.“
Ein Wunsch in Hingabe sagt: „Ich wünsche mir dieses oder jenes, aber ich vertraue darauf, dass das Leben mir das bringt, was meiner Entwicklung dient.“
Diese Haltung ist zutiefst transformierend. Sie verbindet das Herz mit dem großen Strom des Lebens. Sie öffnet uns für Synchronizitäten, Zeichen, überraschende Wege – jenseits dessen, was unser Verstand erwartet hätte.
Vertrauen statt Kontrolle
Erwartungen sind auch ein Ausdruck von Kontrolle. Wir wollen wissen, was kommt, planen, sichern, uns absichern. Spirituelle Weisheit lehrt jedoch Vertrauen – nicht in eine naive Form, sondern in ein tiefes Wissen, dass das Leben eine weise Intelligenz in sich trägt.
Ob in der Taoistischen Philosophie, im Christentum, im Sufismus oder in indigenen Weisheitslehren: Überall findet sich der Gedanke, dass das Leben nicht „gegen“ uns geschieht, sondern für uns.
Rumi schreibt: „Versuche nicht, alles zu verstehen. Manches ist nicht dazu da, verstanden zu werden, sondern erfahren.“
Dieses Vertrauen öffnet eine Tür zur Demut: Wir müssen nicht alles wissen. Wir müssen nicht alles kontrollieren. Wir dürfen uns führen lassen.
Das Geschenk der Enttäuschung
Jede Enttäuschung ist – wie das Wort sagt – das Ende einer Täuschung. Wenn eine Erwartung sich nicht erfüllt, fällt ein Bild, das wir vom Leben oder von anderen gemacht haben, in sich zusammen.
Auch wenn dieser Moment schmerzhaft ist, liegt darin eine große Chance: Wir kehren zur Wirklichkeit zurück. Wir sehen klarer. Und wir lernen, nicht länger unsere Zufriedenheit an äußere Umstände zu knüpfen.
In vielen spirituellen Erweckungserfahrungen geht ein „Zerbruch“ voraus – eine Phase der Orientierungslosigkeit, des Abschieds von alten Erwartungen, Rollen und Sicherheiten. Erst durch diesen inneren Tod kann neues Leben entstehen.
Was bleibt, wenn Erwartungen gehen?
Wenn wir beginnen, unsere Erwartungen zu erkennen und loszulassen, eröffnet sich ein neuer Raum. Dieser Raum ist still, klar, offen. Es ist ein Raum der Präsenz.
Hier geschieht etwas Wundervolles: Wir werden empfänglich. Für das, was ist. Für das, was kommt. Für das, was wir sind – jenseits aller Bilder.
In dieser Offenheit können wir echte Dankbarkeit kultivieren – nicht für das, was wir „bekommen“, sondern für das, was ist. Jeder Atemzug wird zum Geschenk. Jeder Augenblick wird heilig. Jeder Mensch, der uns begegnet, wird Spiegel und Lehrer.
Spirituelle Übungen zum Umgang mit Erwartungen
Wer sich bewusst von der Macht der irrigen Annahmen lösen möchte, kann folgende Übungen in den Alltag integrieren:
1. Achtsamkeitsübung: „Was erwarte ich gerade?“
Setze dich am Abend oder nach einer Begegnung ruhig hin und frage dich:
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Was habe ich in dieser Situation erwartet?
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Was davon war realistisch?
-
Was entspringt einem inneren Bedürfnis?
-
Was kann ich loslassen?
2. Atemübung: Hingabe atmen
Atme tief ein mit dem Gedanken: „Ich lasse los …“
Atme aus mit dem Gedanken: „… und vertraue dem Leben.“
Diese einfache Praxis stärkt dein Vertrauen ins Jetzt.
3. Dankbarkeitstagebuch
Statt dich auf das zu konzentrieren, was (noch) nicht eingetreten ist, fokussiere dich täglich auf drei Dinge, für die du dankbar bist. Dies wandelt Erwartung in Anerkennung des Vorhandenen.
4. Affirmation
Verwende Affirmationen wie:
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„Ich bin offen für das, was kommt.“
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„Ich gebe meine Erwartungen frei und vertraue auf den göttlichen Plan.“
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„Ich bin genug, so wie ich bin.“
Fazit: Jenseits der Erwartung beginnt das wahre Leben
Erwartungen sind wie Nebel – sie trüben unseren Blick auf das, was wirklich ist. Sie binden uns an Vorstellungen, statt uns der Tiefe des Moments zu öffnen. Doch wenn wir sie bewusst erkennen und liebevoll loslassen, geschieht etwas Magisches: Wir kehren zurück zu uns selbst. Zu unserer Essenz. Zu unserem Vertrauen.
Spirituelle Weisheit lehrt nicht, alles aufzugeben – sondern in Freiheit zu leben. Und Freiheit beginnt dort, wo Erwartungen enden.
Quellen und Impulse:
-
Eckhart Tolle: Jetzt! Die Kraft der Gegenwart
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Byron Katie: Lieben was ist
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Rumi: Gedichte
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Pema Chödrön: Wenn alles zusammenbricht
-
Anthony de Mello: Bewusst leben
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Tao Te King (Lao Tse)
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Matthäus-Evangelium, Bibel
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Buddhistische Lehre von Anhaftung (tanha)
23.02.2022
Uwe Taschow
Uwe Taschow
Als Autor denke ich über das Leben nach. Eigene Geschichten sagen mir wer ich bin, aber auch wer ich sein kann. Ich ringe dem Leben Erkenntnisse ab um zu gestalten, Wahrheiten zu erkennen für die es sich lohnt zu schreiben.
Das ist einer der Gründe warum ich als Mitherausgeber des online Magazins Spirit Online arbeite.
“Mehr als die Vergangenheit interessiert mich die Zukunft, denn in ihr gedenke ich zu leben.”
Albert Einstein
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