Pilgern Jenseits von Grenzen

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Pilgern Jenseits von Grenzen

Der Brenner: Für Durchreisende das Tor zum Süden, doch auch einer der trostlosesten Orte, an denen man leben könnte, einer der Hinterhöfe Europas. Auch ein hypermodernes Shoppingcenter kann nicht viel daran ändern.

Wir parken am Rande des Dorfes, um von hier zum Pilgern aufzubrechen. Hier sieht man allerhand, was den meisten Touristenaugen verborgen bleibt. Menschen aus allen möglichen Ländern, in denen es wärmer ist als hier, leben in grauen Mietshäusern aus der Faschismuszeit, die an Kasernen erinnern. Gleich daneben sind in etwas modernisierten Gebäuden aus der gleichen Epoche die Büros von Grenzpolizei und Zoll untergebracht sind. Ein paar dunkelhäutige Kinder in zerschlissenen Wollpullovern spielen auf dem Parkplatz Ball und schauen uns zugleich schüchtern und neugierig an. Der Stacheldraht in der Umzäunung des Polizeigebäudes weckt unangenehme Erinnerungen an die gar nicht so weit zurückliegende Zeit, als diese Grenze noch scharf bewacht war, damals wegen dem politischen Streit um Südtirol. Schlimm ist es, dass in diesen Tagen wieder neue Barrieren aufgerichtet worden sind, dieses Mal wegen dem Krieg gegen einen Virus.

Unter dem Lärm von Autobahn, Staatsstraße und Eisenbahn, die sich allesamt durch dieses Nadelöhr zwängen, steigen wir zu zweit in dichtem Morgennebel durch einen bewaldeten Steilhang auf. Es ist eigentlich immer kalt hier, sogar im Sommer, und heute lässt mich die feuchte Luft frösteln. Periodisch durchbrechen das „Ding-Dong“ und die Lautsprecheransagen vom Bahnhof her das eher gleichmäßige, unablässige Rauschen des Verkehrs. Obwohl Nebel Geräusche dämpft, sind sie hier immer noch aufdringlich.

Ich befinde mich zwischen zwei Welten, als ich mich bemühe, meine Aufmerksamkeit der Landschaft zuzuwenden.

Es erfordert viel Konzentration, die gnadenlos hektische, maschinendominierte Realität dort unten auszublenden, um mich den Wesen der Natur zuzuwenden. Eine verwirrende Situation, die so lange andauert, bis sich der Hang etwas zurücklegt und der Lärmpegel allmählich abflaut.

„Hiää“ – der Schrei eines Bussards setzt sich gegenüber den menschengemachten Geräuschen durch. Erleichtert atme ich auf; jetzt bin ich im „Pilgerzustand“ angekommen; meine Antennen sind offen. Ich gelange zum Rand einer Wiese, auf der ein Rudel Gämsen ungestört grast. Einen Moment lang bleiben wir stehen, um die seltene Gelegenheit zu nutzen, sie aus der Nähe und in Ruhe zu beobachten. Auch als wir ganz langsam weitergehen, bleiben sie noch eine Weile. Erst allmählich setzen sie sich nacheinander in Bewegung, laufen und springen mit der ihnen eigenen Eleganz davon, doch für ihre Verhältnisse immer noch in gemächlichem Tempo.

Bald erreichen wir einen breiten, langweiligen Forstweg, der in unzähligen Windungen bis zum Grenzgrat hinauf und dann an ihm entlang führt. Im Volksmund wird er „Mussolini-Straße“ genannt, und ich mag ihn überhaupt nicht, so technokratisch-monoton wie er ist. Also versuche ich, in der Landschaft, durch die er führt, Anregung für meine Seele zu finden.

Zunächst gehen wir noch durch lichten Lärchen- und Fichtenwald, dann wird die Bergflanke immer kahler.

Bewachsen ist sie hauptsächlich mit Alpenrosen und Wacholder. Dazwischen finden sich auch Heidelbeerstauden und Flecken von dünn halmigem, hartem Gras, das schon teilweise dürr ist. Dadurch ist es geradezu stachelig geworden und kitzelt mich an der nackten Haut um die Knöchel herum. Die Kühe, die es im Sommer abfressen, weiden jetzt schon ein Stück weiter unten.

Es ist eine ziemlich raue Gegend hier oben am Alpenhauptkamm. Dichte Erlengehölze wachsen an den vielen sumpfigen Stellen, weshalb man sich seinen Weg sorgfältig suchen muss, sobald man die ungeliebte Schotterstraße verlässt. Das ist auch der einzige Grund, wieso wir so lange auf ihr bleiben! Heute ist dies umso mehr ratsam, da die spärliche Vegetation durch den Nebel, der sich immer noch nicht aufgelöst hat, überall nass ist.

Warum haben wir genau hier oben einen heiligen Ort geschaffen?

frage ich mich immer wieder, wenn ich mich hier heraufmühe. Wo doch die Dolomiten so schön sind!
Der Antworten sind mehrere: Weil hier einer der großen Flüsse entspringt, die durch unser Gebiet fließen, ist eine. Weil das Lichtnetz der „Bleichen Berge“ bis in die Landschaften nördlich der Alpen hineinreichen soll, ist eine andere.

Weil hier ein Signal gesetzt werden soll, um die Grenzen der unheilvollen jüngeren Vergangenheit – und der Gegenwart – zu überwinden, ist wieder eine andere. Und nicht zuletzt, weil die Ruta de Wiraqocha, die große neue Pilgerroute von Nordwesten nach Südosten, die der göttlich weiblichen Kraft den Weg in die Welt hinein bereitet, genau hier durchgehen soll. Die Vision dafür will ich heute wieder stärken, und diese Intention zieht mich weiter, obwohl es immer feucht-kälter wird und dazu noch ein wenig Wind aufkommt, der das Klima noch unangenehmer macht.

Inzwischen haben wir den höchsten Punkt der Straße erreicht, nur wenige Meter von der österreichischen Grenze entfernt. Die verlassenen Betonbauten der einstigen Grenzbefestigung, die mich hohläugig anstarren, jagen mir in diesem grauen Szenario einen Schauer über den Rücken. Schnell gehe ich vorbei.

Doch da, etwas Rundliches Hellbraunes bewegt sich im Gras – ein Murmeltier!

Als es sich aufrichtet, scheint es die Wehrsteine zu imitieren, die den Straßenrand säumen. Mir wird ganz warm ums Herz. Wenn unsere geliebten Verbündeten hier leben, dann gibt es noch Hoffnung für diese Gegend! Schon zeigt es sich ein zweites Mal; es scheint nicht allzu scheu zu sein. Außerdem sind die Murmeltiere als Winterschläfer jetzt im Frühherbst schon so wohlgenährt, dass sie sich nicht mehr allzu schnell bewegen. Es ist erstaunlich, wie sie sogar den unsensiblen menschlichen Eingriff, den diese Straße darstellt, für ihre Zwecke zu nutzen wissen: Die betonierten Abflusskanäle, die in regelmäßigen Abständen unter der Straße durchführen, sind ideal als schnelle Verstecke bei drohender Gefahr.

Zweifel kommen auf: Werde ich bei diesem Nebel den Platz, an dem die Apacheta steht, überhaupt finden können? Es sind schon bei gutem Wetter nur wenige Anhaltspunkte in dieser weitläufige Landschaft, an denen man sich orientieren kann. Ich kann nur auf kurze Aufhellungen mit genügend Sichtweite und im Übrigen auf meinen siebten Sinn vertrauen.

Wieder ist es ein Murmeltier, das mir die Stelle zeigt, an der ich die Straße verlassen muss.

Wie ein Wegweiser hat es sich genau dort aufgestellt, rennt nicht weg und lässt auch keinen Warnpfiff ertönen. Es ist ein großer alter „Bär“, eine eindrucksvolle Erscheinung.

Wir folgen einer schwach ausgeprägten Talmulde ein Stück hinab, ganz in der Nähe der Quellen, aus denen sich der Eisack speist, der dort unten, wo wir unsere Wanderung begonnen haben, bereits zu einem ansehnlichen Bach geworden ist. Auf einmal wird es heller und zugleich kommt neuerlich ein leichter Wind auf. Ich schaue auf – und sieh da, an einer Stelle reißt die Nebeldecke auf und ein makellos blauer Himmel kommt zum Vorschein. Als ich mich umdrehe, sehe ich, dass sich auch an anderen Stellen Wolkenlöcher zeigen.

Die ersten Sonnenstrahlen tun wohl, und nun bin ich unbesorgt:

Natürlich werde ich den heiligen Ort finden. Als wir ihn erreichen, wird auch der Blick auf die Gletscherberge auf der gegenüberliegenden Talseite frei, und ein Hochgefühl stellt sich bei mir ein. Jetzt ist es so gut, hier zu sein! Alle Zweifel und Bedenken sind vergessen.

Ich weiß wohl, dass es mir jedes Mal so geht, sobald ich hier, bei der kleinsten Apacheta unseres ganzen Lichtnetzes, angekommen bin. Selbstbewusst steht sie da, wie auf einer Insel von größeren Steinen mitten in dem bewachsenen Hang postiert, und ist eigentlich immer vollkommen unversehrt. Wir haben ihr viele Blumen mitgebracht und sie mit ihnen geschmückt, was ihre Erscheinung noch liebenswürdiger macht. Es ist Balsam für die Wesen dieses Ortes, unseren Gesang in sich aufzunehmen und Worten des Preisens zu lauschen.

In der Zeremonie verleihe ich meiner Absicht Ausdruck, eine neue Pilgerbewegung in Schwung zu bringen,

welche diese unselige Grenze, an der wir hier stehen, endlich überwinden wird. Ein Falke steigt über den Bäumen weiter unten auf, fliegt dann ganz nahe zu uns heran und steht rüttelnd einen Moment in der Luft, bevor er wieder weiterfliegt, fast als wolle er meine Worte bekräftigen.

Der Abstieg bringt uns zurück zum Status Quo am Brenner, doch jetzt bedrückt er mich nicht mehr so sehr; er kann mich nicht mehr in dem Maße vereinnahmen wie heute Morgen. Zu wissen, dass es ganz in der Nähe ein kleines, aber feines Refugium des Heiligen gibt, das harmonisch in die Landschaft eingebettet ist, nimmt dem, was sich hier abspielt, seine überwältigende Macht. Mein kristallenes Herz ist gestärkt: Die Vision von der “Rayeta* ist viel realer als die Illusion, die wir für die Wirklichkeit halten. Sie führt uns in Bereiche jenseits der Barrieren, die wir selbst aufgerichtet haben, denn in der lebendigen Landschaft schaffen Pässe Übergänge und nicht Grenzen. Überschreiten wir sie mit einem geklärten Herz und begegnen uns als Pilger für das Wohl der lebendigen Erde!

*Die Rayeta ist der unvergleichlich strahlende Stein aus dem Neuen Mythos von Fanes, der im Inneren der Erde heranwächst und aus ihr geboren werden wird, um in der prophezeiten Verheißenen Zeit die ganze Welt zu beleuchten und aus den Herzen aller Menschen zu strahlen, nachdem das große Wiederzusammenkommen im kristallenen Herz stattgefunden hat.”

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21.09.2022 Logo waltraud hoenes
Waltraud Hönes
www.waynafanes.org


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Waltraud Hönes, Pilgern Jenseits von Grenzen waltraud hoenes Portrait


Jahrgang 1964, Curandera (schamanische Heilerin), zeremonielle Künstlerin und Buchautorin, ist die Gründerin der Wayna Fanes-Tradition und der Gruppe Dolomiten Ayllu. Nach Abschluss ihres Psychologiestudiums an den Universitäten Würzburg und Konstanz bildete sie sich in Kalifornien (USA) bei führenden Vertreter/-innen der transpersonalen Psychologie fort. Bei dem peruanischen Meisterzeremonialisten und Curandero Don Oscar Miro-Quesada absolvierte sie eine zehnjährige Lehrzeit. Waltraud Hönes lehrt und heilt europaweit in Form von zeremoniellen Workshops und Pilgerseminaren, vor allem in den Dolomiten, wo sie lebt. Als Pilgerin für die Erneuerung unserer Beziehung mit der Erde betreut sie zusammen mit dem Dolomiten Ayllu ein Netzwerk von über hundert heiligen Orten.
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Buchtipp Cover vorn waltraud Hoenes pilgern

Das neue Pilgern: Begegnung mit der lebendigen Erde
von Waltraud Hönes
Ist es nicht mehr als Zeit, andere Wege einzuschlagen? Aufzubrechen und zu gehen anstatt abzuwarten, was weiter geschieht? Doch wohin wollen wir gehen?
Bei dieser neuen Art des Pilgerns die Erde als lebendiges Wesen zu erfahren und mit ihr in einen wechselseitigen Austausch zu treten, ist richtungsweisend für eine lebenswerte Zukunft von uns Menschen auf und mit der Erde. Es gilt, ein größeres Selbst zu entdecken, das um die Verbundenheit von allem in der einen Weltseele weiß. Sich selbst zu erweitern und dazu beizutragen, dass wir Menschen wieder in „rechte Beziehung“ mit der Erde kommen und ihre Heiligkeit empfinden können, wird tatsächlich etwas bewegen, in uns und in der Welt. Wenn wir in diesem Geist pilgern, bringen wir etwas zu den bezaubernden Plätzen, die wir besuchen, anstatt nur etwas für uns mitzunehmen. Wir geben ihnen aus purer Freude am Geben, und dadurch wird unser Herz allmählich kristallklar. Das ist das Neue an diesem Pilgern!
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