Tantra ist eine spirituelle Disziplin

Morgennebel

Tantra ist eine spirituelle Disziplin

1. Tantra – mehr als nur „spiritueller Sex“

Tantra war und ist nicht bloß „Geheimlehre der Erotik“ – es ist ein umfassendes spirituelles System, das Mystik, Philosophie, Rituale und Körperarbeit verbindet. Es entstand in Indien, verbreitete sich über Jahrhunderte in Hinduismus, Buddhismus und Jainismus und erreichte im Westen meist nur seine erotisch-sexuelle Kurzfassung. Doch für Eingeweihte ist Tantra ein vielschichtiger geistiger Weg der Bewusstseinserweiterung.

2. Historische und religiöse Ursprünge

2.1 Frühzeit bis 7./8. Jahrhundert

Proto-tantrische Elemente finden sich bereits in vedischer Zeit mit magischen, rituellen Praktiken – Heilrituale, Wetterzauber, Dämonenbeschwörungen. Ab dem 5. Jahrhundert wurden diese Ansätze unter schamanisch-asketischen Shaiva-Avataren wie den Kapalikas integriert – inklusive Aktivitäten auf Friedhöfen und rituellen Transgressionen. Ab dem 7./8. Jahrhundert etablierten sich vollständige tantrische Texte – die sogenannten Tantras, Agamas und Samhitas.

2.2 Hochblüte der „Tantra-Ära“ (8.–14. Jh.)

Im sogenannten Tantric Age verfassten tantrische Bewegungen ihre Lehren in großer Vielfalt – im hinduistischen Shaiva- und Shakta-Kontext wie auch im buddhistischen Vajrayana. Zentrum dieser Transformation war insbesondere Kashmir, aber auch Bengal, Nepal und Südindien hegten Kulte, die in komplexe Riten, Visualisierungen, Mantra-Übungen, Tempelarchitektur und philosophische Werke mündeten.

2.3 Tantra außerhalb des Hinduismus

Tantra ist eine spirituelle Disziplin eine Frau in Meditation mit sichtbaren Chakren
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Tantrische Praktiken fanden Eingang in buddhistisches Vajrayana, Jainismus, regionale Volksreligionen und sogar islamische Strömungen. Drei große Linien bildeten sich aus: das hinduistische Shaiva- und Shakta-Tantra, das buddhistische Tantra und das Kaula, das sich um Shiva/Shakti-Verehrung mit erotischen Ritualen wand.

3. Kultureller Kontext und gesellschaftliche Rolle

3.1 Integrierendes Weltbild

Es war nie nur Paranormales – es verstand sich als Brücke zwischen dem Absoluten (Brahman, Shiva) und dem Relativen (Materie, Alltag). Es negierte nicht, sondern transformierte alles – Essen, Sex, Emotionen – in spirituelle Praxis.

3.2 Rituale, Tempel, Macht

Rituelle Praktiken richteten sich gezielt auch an Herrscher. Königstitel wurden häufig durch tantrische Hochrituale legitimiert. Auch die Tempelarchitektur entsprach tantrischen Symbolschemata und Visualisierungen.

3.3 Transgression bewusst eingesetzt

Die berühmten fünf Ms (Madya – Alkohol, Mañsa – Fleisch, Matsya – Fisch, Mudra – Tantrischer Sex, und andere) waren bewusst gewählte Mittel, um bewusste Achtsamkeit über gesellschaftliche Tabus zu üben – im sogenannten linkshändigen Pfad. Der rechts-händige Pfad verzichtete meist symbolisch auf solche Entgrenzungen.

3.4 Guru-Schüler-System

Initiationen durch einen befugten Guru waren zentral – tantrische Philosophie wurde traditionell nicht autodidaktisch mittels Büchern erlernt.

4. Essenz, Zielsetzung und Ausrichtung

4.1 Nicht-Dualität & Verschmelzung

Ziel ist die Einswerdung mit dem Absoluten, die Einsicht, dass Relativität und Absolutes nicht getrennt sind. Transformierte Alltagshandlungen werden zum Spiegel des Bewusstseins.

4.2 Siddhis & Weltkraft

Viele tantrische Schulen streben nach erweiterter Präsenz, Überwindung leidvoller Begrenzungen – bis hin zu übernatürlichen Fähigkeiten und zur „Befreiung im Leben“.

4.3 Körper, Energie & Ritual

Tantra integriert:

  • Mantras, Yantras, Mudras, Nyasa
  • Kundalini- und Chakra-Übungen
  • Visualisierungen, Verehrungsrituale,
  • oft auch Mithuna (als Symbol der nicht-dualen Einheit)

4.4 Alltag als Praxis

Tantrische Philosophie war kein monastischer Rückzug, sondern umfasste Haushalt, Sexualität, Essen etc., gelebt mit Bewusstheit und Hingabe.

5. Was Tantra nicht ist – Aufräumen mit Missverständnissen

5.1 Mythos: Tantra = Sex

Westliche „Neotantra“-Workshops propagieren meist Sexualpraktiken, Orgasmusbewusstsein und Beziehungsservices – echte tantrische Linien dagegen sehen Sex als Bewusstseinspraktik, nicht als Selbstzweck.

5.2 Missverständnis: moralisch frei, riskant

Linkshändiger Tantra wurde nie als Freibrief für Zügellosigkeit verstanden. Die transgressiven Elemente zielten auf bewusste Grenzüberschreitung – unter strenger ethischer Kontrolle.

5.3 Neotantra ≠ authentisches Tantra

Neotantra entstand im 20. Jahrhundert als Mischung aus Tantra, New Age und Psychotherapie. Es ignoriert oft Initiation, Autorität, tiefe Symbolik und philosophische Kontexte.

5.4 Keine Therapie, kein Sexhexenkult

Es ist keine Therapieform und nicht primär sexualmagisch. Viele heutige westliche Anbieter verkaufen sensationelle sexuelle oder energetische Verheißungen – das widerspricht den traditionellen Grundprinzipien.

5.5 Nicht beliebig spirituell „frei“

Es fordert Disziplin, Einweihungsstruktur, ethische Grenzen, Wissen über Körper und Psyche. Ohne diese führt es nicht zwangsläufig zur Befreiung, kann im Gegenteil entgleisen.

6. Tantrische Praktiken im modernen Indien

6.1 Fortbestehen bis heute

Tantrische Kulte existieren noch, vor allem in Regionen wie Assam, Bengal, Odisha, Kaschmir und Südindien. Sie beeinflussen populäre Kulte und regionale Volksreligiosität.

6.2 Renaissance & wissenschaftliche Rehabilitierung

Indische und internationale Gelehrte ordnen Tantra heute wieder in seine historische Kulturtradition ein – jenseits von Skandalen und Sexualfantasien.

7. Im Westen: Weg und Herausforderungen

7.1 Frühe Vermittler

John Woodroffe war mit seinem Werk „The Serpent Power“ ein früher Wegbereiter im Westen. Aleister Crowley verband tantrische Praktikenmit westlicher Okkultmagie.

7.2 Neotantra & New Age

In den 1960er bis 1990er Jahren wurde Tantra in esoterischen Szenen neu interpretiert – häufig als Werkzeug zur sexuellen Selbstoptimierung.

7.3 Risiken & Entgleisungen

Ohne ernsthafte Linie und Gurustruktur besteht Missbrauchs‑, Ausbeutungs- und Manipulationsgefahr – wie zahlreiche Skandale belegen.

7.4 Für westliche Suchende

Empfohlene Haltung:

  1. Ausbildung bei seriösen Lehrern mit traditioneller Linie.
  2. Achtsame Abgrenzung zu oberflächlichen Erotikansätzen.
  3. Verständnis der Philosophie (Nicht‑Dualität, Dharma, Energiearbeit).
  4. Körper‑, Atem‑, Energiearbeit ernst nehmen.

8. Tantrische Aspekte heute: Zweck und Ausrichtung für moderne Praktizierende

  • Ganzheitlicher Weg: Bewusstseinserweiterung durch Meditation, Ritual, Energiearbeit.
  • Transformation von Begierde: Integration statt Repression.
  • Alltagsintegration: Beziehung, Arbeit, Ernährung als spirituelle Praxis.
  • Initiation & Gemeinschaft: Lehrer-Schüler-Verhältnis bleibt zentral.
  • Ethik & Verantwortung: Spirituelle Praxis braucht Fundierung.

9. Fazit

Es ist eine uralte, vielschichtige, integrale spirituelle Praxis. Es arbeitet bewusst mit Materie, Körper, Energie, Emotionen und Ritual als Weg zur Nicht-Dualität. In seiner traditionellen Ausrichtung ist Tantra tiefgehend, initiatorisch, ethisch klar und nicht sexfixiert – das Gegenteil von vielen populären Neotantra-Formaten.

Wenn man Tantra heute ernsthaft praktizieren will, bedeutet dies:

  • sich mit dem philosophischen Hintergrund zu befassen,
  • sich auf eine Linie mit vertrauten Lehrern einzulassen und
  • begierdefrei zu erkunden, ob sich transpersonale Qualität entfaltet.

Weiterführende Literaturhinweise (ohne aktive Links):

  • David Gordon White: “Kiss of the Yoginī”
  • André Padoux: “The Hindu Tantric World – An Overview”
  • Georg Feuerstein: “Die Yoga-Tradition”
  • John Woodroffe (Arthur Avalon): “The Serpent Power”
  • Jan-Ulrich Sobisch: diverse Podcasts und Fachveröffentlichungen zu Tantra

Überarbeitet am

20.06.2025
Heike Schonert

HP für Psychotherapie und Dipl.-Ök.

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Heike SchonertPerlen Zauber Heike Schonert

Heike Schonert, Heilpraktikerin für Psychotherapie, Diplom- Ökonom. Als Autorin, Journalistin und Gestalterin dieses Magazins gibt sie ihr ganzes Herz und Wissen in diese Aufgabe.
Der große Erfolg des Magazins ist unermüdlicher Antrieb, dazu beizutragen, dieser Erde und all seinen Lebewesen ein lebens- und liebenswertes Umfeld zu bieten, das der Gemeinschaft und der Verbindung aller Lebewesen dient.

Ihr Motto ist: „Wenn wir ehrlich zu uns selbst sind, uns als Ganzheit begreifen und von dem Wunsch erfüllt sind, uns zu heilen und uns zu lieben, wie wir sind, werden wir diese Liebe an andere Menschen weiter geben und mit ihr wachsen.“

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3 Kommentare

  1. Hallo, ich danke dir sehr für diesen Beitrag. Ich finde mich hier vollkommen wieder. Ich glaube unbewusst und unwissend lebte ich Tantra. Ständig war da etwas, was ich finden wollte. Seit ich mich auf dem Weg der Transformation befinde, beschäftige ich mich mit allem möglichen . Nie fühlte sich etwas völlig stimmig an. Gerade befinde ich mich in einer Krise. Danke für deine wunderbare Erklärung, auch wenn noch sehr viel Unsicherheit da ist, fühle ich mich im Tantra angekommen. Vielleicht kannst du mir Informationen geben, wie und wo ich hingehen kann, um endlich das zu leben was ich bin. Welche Bücher kann ich lesen?
    Ich danke dir für den Wegweiser . In Liebe Sandra

    • Liebe Sandra,
      Gerade bin ich zufällig auf deinen Kommentar gestoßen.
      Wenn du noch immer Fragen hast, auf meiner Website http://www.synthese-is-love.de kannst du meine Email-Adresse und meine Telefonnummer finden.
      Herzliche Grüße
      Nika

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