Geburt des Endlichen und Ihre Wurzeln in der Oberen Welt

AMORC Geburt des Endlichen

AMORC Geburt des EndlichenDie Geburt des Endlichen und Ihre Wurzeln in der Oberen Welt

Wenn es einen Anfang gab, so muss es etwas geben, das „vor“ dem Anfang war, so zumindest unsere äußere rein rationale Logik innerhalb der Welt von Zeit und Raum. Vor dem, was als Beginn der Schöpfung bezeichnet wird, bestand die ungeheure, unendliche, schöpferische Dunkelheit ‒ die so genannte unsichtbare alchymische, immaterielle Welt als kosmische Prima Materia.

Diese unsagbare Einheit an der Grenze zwischen der ewiglich verborgenen Welt und jenen sich entwickelnden und schließlich sich offenbarenden Welten enthielt bereits alle nachfolgend im Zeitlichen erscheinenden Emanationen als spätere Ausdrucksmöglichkeiten der Schöpfung in sich ‒ und zwar als Dreiheit eines Schöpferischen Nichts in der unsagbaren Einheit jenseits allen menschlichen Begreifens.

Diese namenlose schöpferische Dunkelheit erfüllte allen Raum mit einem unendlichen Ozean strahlenden, aber unsichtbaren Lichtes. Das Unerschaffene dieser namenlosen schöpferischen Dunkelheit begann sich zunächst unmerklich zu rühren, um langsam Formen bildend sich zu erschaffen. Die unsichtbare alchymische Ursubstanz stieg dadurch als Ur-Erde die Stufenleiter der Skala ihrer Wirkungsmöglichkeiten hinab, und das Unendliche bereitete so die Geburt des Endlichen. Der unendliche, bewusste, schöpferisch strahlende Ozean des unsichtbaren Lichts verdichtete sich zu einem Punkt ‒ ein Geschehen, das von den Qabalisten als Zimzum bezeichnet wird.

Dieser mystische Punkt entspricht quasi einer Art Selbstkontraktion der Gottheit, die die Existenz des Seins erst ermöglicht.

Dieser Ursprung allen Seins als bewusste, schöpferisch lenkende Ur-Energie wurde von den Alchymisten der Vergangenheit als der universale Mercurius bezeichnet. Der eigentliche Schöpfungsakt hin zu einer unteren Ordnung konnte nun stufenweise zum Vollzug gelangen. So enthüllt der alchymische Mercurius als offenbarte Eins des Ursprungs seine in ihm verborgen liegende Polarität oder Zweiheit. Und aus der Eins entfalten sich die Zwei und die Drei als das Positive und das Negative und treten so in Erscheinung. In der Begriffswelt der Rosenkreuzer entspricht die Zwei der Vitalen Lebenskraft und die Drei der Geist-Energie. Die Alchymisten bezeichnen die positive Vitale Lebenskraft als Sulphur, die negative Geist-Energie als Sal.

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©AMORC- DREIECK MERCURIUS, SULPHUR UND SAL

Die gesamte Schöpfung wird nach alchymischer Auffassung durch das Zusammenwirken dieser drei Prinzipien ermöglicht. Mercurius (Quecksilber), Sulphur (Schwefel) und Sal (Salz) bilden eine Einheit, eine Trinität als vollkommenes Ganzes. Diese verborgene Wurzel in der Oberen Welt ermöglicht die Schöpfung durch Widerspiegelung, durch die Emanation weiterer Trinitäten durch alle Welten hindurch, bis hinein in unsere materielle Welt. Die Rosenkreuzer sprechen im Hinblick auf diese Trinität der Oberen Welt auch von den drei Göttlichen Prinzipen von Licht, Leben und Liebe. Mit dieser heiligen Trinität als dem göttlichen Dreieck ist der Ausgangspunkt für die Entstehung der Schöpfung gelegt, der erste Schritt hin zur weiteren Verdichtung durch die nachfolgenden Welten.

Aus dem unendlichen unsichtbaren schöpferischen Nichts erscheint also Mercurius, von den Rosenkreuzern auch als Nous verstanden. Dieses erste schöpferische Prinzip entspricht der Eins als einer in sich selbst ruhenden vollumfänglichen Ganzheit ‒ dem schöpferischen Überbewusstsein, immer in Bewegung, alles durchdringend und Wandel und Entfaltung hervorrufend. Als erste Widerspiegelung von Mercurius als der Krone der Schöpfung ist Sulphur das zweite schöpferische Prinzip, ein aktives Zentrum als Quell der Vitalen Lebenskraft ‒ schöpferisches Selbstbewusstsein. Als drittes schöpferisches Prinzip erscheint Sal als ein Zentrum passiver Aufnahmefähigkeit. Sal ist somit Ur- und Wurzelsubstanz und birgt in seinem Mutterschoß den unendlichen Ozean des schöpferischen Unbewussten.

Diese drei grundlegenden philosophischen Prinzipien gebären schließlich als Einheit der unteren Welt jene Tätigkeit, welche die Erde versinnbildlicht ‒ mit ihren sich auch im Irdischen manifestierenden vier mystischen Elementen.

DREI UND VIER

Auch die traditionelle qabalistische Darstellung der zehn Sephiroth lässt eine Obere Welt als Dreiergruppe erkennen, sowie eine Untere Welt in der Gestalt einer Siebener-Gruppe als die sechs Tage der Schöpfung mit dem siebenten Tag, der als Frucht der vorangegangenen Tage heranreift. Wir neigen dazu, uns dieses Geschehen als einen linearen Prozess vorzustellen, und doch geht es weniger um eine zeitlich gedachte Abfolge von Ereignissen. Das Werden jeglicher Schöpfung entspricht eher einem zeitlosen Prinzip der Emanation. Aus der verborgenen Quelle als dem Ursprung allen Seins erfolgt die Emanation durch vier Welten hindurch. Wir denken dabei gerne an eine zunehmende Verdichtung und erkennen eine Beziehung dieser vier Welten zu den vier mystischen Elementen.

Hierbei fällt uns die merkwürdige Verbindung zwischen der Drei und der Vier auf. Die Drei scheint stets in der Vier zum Ausdruck zu kommen. Man könnte auch von einem eigentümlichen Prinzip sprechen, nach dem die Drei in einer Art Doppelung zum Ausdruck kommt. Zum Beispiel ist das Dritte in der Reihe der Tierkreiszeichen ein Doppeltes, die Zwillinge, also zwei. Oder, um den alchymischen Bezug zu Beginn dieser Ausführungen aufzugreifen: Die drei Prinzipien von Mercurius, Sulphur und Sal offenbaren sich in den vier Elementen Feuer, Wasser, Luft und Erde. Aus den beiden primären alchymischen Elementen Feuer und Wasser entsteht eine Doppelung der Drei, die beiden zusammengesetzten Elemente Luft und Erde. In Bezug zu den erwähnten vier qabalistischen Welten fällt auf, dass in der unteren Vierten Welt die Qualitäten und Essenzen der drei anderen Welten zum Ausdruck kommen und wirksam werden. Wir erkennen auch hier wiederum eine Dreiheit, die durch eine Vierheit nach Außen tritt, in die Welt der Erscheinung von Zeit und Raum. Dieses Prinzip reicht bis hinein ins Konkrete; bei der Vereinigung von Mann und Frau entsteht das Kind, wiederum etwas Doppeltes, denn es kann Sohn oder Tochter sein.

Symbolmodelle und die „Sprache der Zweige“

Im Wesentlichen ist dies die Erzählung der Entfaltung der Schöpfung ‒ beginnend mit dem Abstieg in die materielle Welt der Erscheinungen und schließlich die Rückkehr, die Reintegration in die kosmische Ordnung. Wichtig erscheint, sich der Unterschiede in den traditionellen Denkmodellen gewahr zu sein, auch wenn in der hier gegebenen Beschreibung des Unsagbaren die alchymische Tradition gewissermaßen als Ausgangspunkt dient. Bereits in der Reihenfolge der Nennung der Vier Mystischen Elemente erkennen wir deutliche Unterschiede in den Traditionen. Doch selbst innerhalb einer gegebenen Tradition ist die Zuordnung nicht immer einheitlich; dies gilt besonders für die Alchymie.

So wird in der Tradition der Rosenkreuzer Mercurius häufig mit dem alchymischen Element Luft als Schöpfungslenker versinnbildlicht, Sulphur mit dem alchymischen Element Feuer und Sal mit dem alchymischen Element Wasser. So erscheint das Element Luft gewissermaßen über den beiden grundlegenden Elementen von Feuer und Wasser angesiedelt, die doch auch als die primären Elemente der Alchymie betrachtet werden. Selbst bei dieser oberflächlichen Anschauung erkennen wir, dass es hier weniger um richtig oder falsch gehen kann; eine rein intellektuelle Zuordnung mag vielleicht helfen, die unterschiedlichen Modelle in rationalen Schubladen abzulegen, ermangelt jedoch jedem darüber hinaus gehenden inneren oder besser höheren Erfassen der die Wirklichkeit begründenden Kräfte.

Um die intellektuelle Verwirrnis zu vervollständigen, können wir auf den Beginn dieser Ausführungen zurückgreifen.

So hieß es, dass Sulphur dem Selbstbewusstsein als dem äußeren Bewusstsein entspräche und Sal dem Unbewussten oder Inneren Bewusstsein, über das uns der Weg zum Höheren offen steht.

In der jüdischen Tradition gilt das Männliche als das Innere Bewusstsein und das Weibliche als das Äußere gewissermaßen als Hülle, als Gefäß für das Geistige. Im Tarot wiederum erscheint es uns genau umgekehrt; betrachten wir beispielsweise die Karte mit dem Titel „Die Liebenden“, so sehen wir hier, dass der Mann als das äußere Bewusstsein erscheint, der auf die Frau blickt, die auf das Höhere ausgerichtet ist. Vordergründig erscheint uns die Welt der klassischen Symbolmodelle zunächst vermutlich als unlogisch für unser diskursives Denken, und doch geht es um persönliche Erfahrungen mit denselben und weniger um einheitliche rationale Zuordnungen.

Das Unternehmen erinnert an die sog. „Sprache der Zweige“, denn die mystische Sprache steht vor der Herausforderung, mit Worten dieser Welt die andere verborgene Welt zu beschreiben ‒ jene Welt, in der alles in Erscheinung Tretende seinen Ursprung hat. Diese verborgene Quelle allen Seins mag sich zwar in persönlichem Zugang offenbaren, die Übermittlung kann jedoch ausschließlich über dasjenige erfolgen, was als die den reinen Intellekt übersteigende höhere Vernunft bezeichnet werden könnte. Und dennoch, um auf dieser Seite unseres Lebens verstanden zu werden, bedarf es einer Interpretation, die aber stets nur eine persönliche sein kann und zahlreichen Prägungen unterliegt.

In diesem Sinne entstammt das Wort ‘Symbol‘ dem Griechischen ‘symbolon‘ und bedeutet soviel wie etwas Zusammengefügtes.

In der lateinischen Sprache bedeutete es soviel wie ‘ein Abbild‘. J.W. von Goethe, der dem Rosenkreuz sehr zugetan war, bezeichnete ein Symbol im mystischen Sinne als eine “aufschließende Kraft“, was der ursprünglichen rosenkreuzerischen Tradition sehr nahe kommt. Im mystischen Sinne können die klassischen esoterischen Symbolmodelle daher zwar in einer äußeren Form dargestellt werden ‒ und dennoch lassen sich diese kaum erschöpfend beschreiben.

Erst wenn der Mensch sich diesen Symbolmodellen nicht nur auf einer rein äußeren Ebene zuwendet und diese in seinem Inneren gewissermaßen aufzuschließen in der Lage ist, wird jedes dieser Modelle zu einem Füllhorn, da es uns aus jener geistigen Ebene etwas mitzuteilen vermag, dem sich der äußere Geist nur annähern kann. Ähnlich verhält es sich auch mit der äußeren Wissenschaft, die stets nur Modelle liefern kann, die jedoch keineswegs mit der Wirklichkeit zu verwechseln sind. Es ist daher nicht verwunderlich, wenn AMORC empfiehlt, über solche Symbole zu meditieren. Denn sie eröffnen ihre unerschöpfliche Fülle erst, wenn man den inneren Zugang dazu gefunden hat.

07.05.2022
Dr. rer. nat. Alexander Crocoll
Bild und Text (c) AMORC
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Vita des Autors:Dr. rer. nat. Alexander Crocoll

Dr. rer. nat. Alexander Crocoll, geb. 1966. Während seiner wissenschaftlichen Tätigkeit Publikation von Arbeiten zur Genetik molekularer Embryologie.
Er beschäftigt sich seit frühester Jugend mit spirituellen Fragen, ist seit drei Jahrzehnten AMORC-Mitglied und arbeitet heute als Sekretär in der deutschen AMORC-Zentrale.




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