Der Mensch an der Schwelle– Bewusstseinsführung durch Loslösung und Neuanfang
In der heutigen Zeit ist zu beobachten, dass sich viele Menschen an einem Punkt befinden, an dem sie nicht mehr weiter wissen: diejenigen Strukturen, Prägungen und Glaubenssätze, die ihnen bisher eine gewisse Sicherheit vermittelt haben, scheinen nicht mehr tragfähig zu sein und brechen immer mehr weg.
Gleichzeitig ist jedoch noch keine Grundlage für einen wirklichen Neuanfang gegeben. In diesem Spannungsverhältnis zwischen Vergangenheit und Zukunft, Gewordenem und Werdendem steht der Mensch an der Schwelle: aufsteigende Ängste wollen ihn zu einem Zurückgreifen auf altbekannte, scheinbar sichere Gewohnheiten und Strukturen verführen und ihn in der eigenen engen und kleinlichen Welt gefangen nehmen. Das so stark in der Gesellschaft lebende Sicherheitsdenken fixiert den Menschen an die Materie und hindert ihn an der Entwicklung wirklicher Perspektiven.
Für einen Neuanfang, eine Neugeburt ist es jedoch nicht möglich, irgendetwas „hinüberzuretten“.
Bei einem sinkenden Schiff wird man auch nicht mehr versuchen, die undicht gewordene Kajüte auszubessern, sondern wird alle Zeit und Kraft darauf verwenden, an einem neuen, tragfähigen Schiff zu bauen.
Hierzu muss der Mensch in sich die Fähigkeit ausprägen, zwischen dem Bisherigen, unbrauchbar Gewordenem und dem, was sich entwickeln möchte zu unterscheiden. Was besitzt einen bleibenden Wert und was ist vergänglich? Was ist wesentlich und was ist unwesentlich?
Diese differenzierte Unterscheidung ist notwendig, um eine Vermischung von Altem und Neuem zu vermeiden, damit sich das Zukünftige in seiner besten Wirkungskraft entfalten kann. Man kann dies vergleichen mit dem Prozess der Konzentration: je besser die Unterscheidung zwischen Wesentlichem und Unwesentlichem gelingt, desto reiner und kraftvoller wird die Essenz. Heinz Grill, spiritueller Lehrer schreibt zur Konzentration:
„Die Konzentration ist die feine Scheidewand, die das Licht von der Finsternis trennt.“(1)
Ein wesentlicher, von Angst motivierter Denkfehler, der immer wieder korrigiert werden muss ist der, dass der Mensch meint, er müsse sich zunächst um sich selbst kümmern, bevor er seine Fähigkeiten und Leistungen der Welt zur Verfügung stellen kann. Gerade in Krankheitsphasen stellt es eine große Versuchung dar, die Krankheit und den Körper in die Mitte zu stellen und das Leben danach auszurichten.
Der Erfolg auf Heilung wird hierbei jedoch nicht groß sein, im Gegenteil: es entwickeln sich falsche Schonhaltungen, die sogar mit der Zeit ernstere Krankheiten heranziehen.
Je besser es gelingt, sich selbst in Ruhe zu lassen und in einem größeren Ganzen anzusetzen, sich beispielsweise zu fragen, was der Mensch generell zu einer wirklichen Gesundheit benötigt , desto größer ist auch die Chance auf Erfolg. Das menschliche Bewusstsein bleibt nicht auf das eigene, kleinliche Selbstverständnis reduziert, sondern entwickelt eine Weite und Freude mit der Auseinandersetzung für ein größeres Ganzes.
Zunächst gilt es jedoch, den beschriebenen Spannungszustand zwischen Vergangenem und Zukünftigem längere Zeit ertragen zu können, ohne schnellfertig auf bereits Vorhandenes zurückzugreifen, denn das Heranreifen und Entwickeln neuer zukünftiger Werte durch inhaltlich gedankliche Arbeit benötigt Unterscheidungsvermögen, Ausdauer und Konzentration.
Übungsanleitung zur Bewusstseinsführung:
der Weg von oben nach unten oder von außen nach innen
In der Regel wird unser Bewusstsein von verschiedenen Einflüssen geführt, die meist aus körperlichen Impulskräften aufsteigen, also von unten nach oben wirken. Sympathie und Antipathie sind zwei starke Pole, die unser Bewusstsein lenken, aber auch bestimmte Prägungen aus Erziehung und Gesellschaft oder unbewusst aufgenommene Glaubenssätze und Suggestionen haben eine große Wirkung.
Um das eigene Bewusstsein vom Menschen und ausgehend von Kriterien höherer Vernunft zu führen, bedarf es einer kontinuierlichen Schulung. Hierfür bildet die Entwicklung einer freien, objektiven Außenwahrnehmung eine wesentliche Grundlage. Denn erst durch diese entwickelt sich ein Bild zur realen Situation, zu der das eigene Handeln in der Folge vernünftig und angemessen ausgerichtet werden kann. Dies könnte man auch den Weg von oben nach unten oder von außen nach innen nennen.
Der Übende muss lernen, seine Emotionen, bisheriges Wissen und Assoziationen zurückzuhalten und das Objekt in eine freie Wahrnehmung zu führen. Durch Wiederholung und dem Hinzunehmen einer Fragestellung gestaltet sich die Wahrnehmung immer differenzierter und es öffnet sich ein Raum zwischen Betrachter und dem betrachteten Objekt. Je länger und aktiver sich der Mensch in dieser fragenden und forschenden Haltung aufhält und nach diesen Kriterien das Objekt wahrnimmt, ohne zu schnell zu einer abschließenden Antwort kommen zu wollen, desto mehr kann sich der Gegenstand in seinem Wesen zeigen und offenbaren.
Für diesen Prozess ist es notwendig, jegliche Konsumtendenz und Nutzgedanken in sich zum Schweigen zu bringen und sich ganz auf die Fragestellung in Bezug auf das Gegenüber zu konzentrieren.
Nach dem Außenbezug folgt rückwirkend ein besserer Innenbezug,
d.h. das in Beziehung treten mit einem äußeren Objekt bewirkt einen besseren Bezug zu sich selbst. Es besteht eine klare Gliederung zwischen Subjekt und Objekt und dadurch eine bessere Selbstwahrnehmung.
Beim Betrachter selbst entsteht eine Ruhe bei gleichzeitiger Wachheit und er findet sich in einer angehobenen beziehungsvollen Atmosphäre. Er fühlt sich ruhig und zentriert im Körper und verbunden mit der Umgebung. Das emotionale Leben beruhigt sich und der Mensch kann seinem Umfeld freier gegenüber treten.
Wahrnehmungsübung anhand eines Stadtbesuchs
Solange der Mensch seine Sinne eher unbewusst umher schweifen lässt, nimmt er auch unbewusst die verschiedensten Stimmungen auf. In der Stadt, in der beispielsweise eine Atmosphäre der Geschäftigkeit und des Konsums vorherrscht und weniger eine Ruhe und wache, gegenseitige Wahrnehmung, wird der Mensch nach einer Weile erschöpfen.
Nimmt er sich jedoch vor, die vorherrschende Stimmung durch Fragen zu erforschen, begegnet er den Bedingungen bewusst und bringt eine gewisse Führung hinein. Sein Bewusstsein ist aktiv und wach in der Gegenwart, sodass dadurch weniger schnell Fremdeinflüsse unbewusst aufgenommen werden können. Er kann sich Fragen stellen wie: Wie wirken die Menschen? Wie ist ihr Blick? Ist er wach und nach außen wahrnehmend oder in sich gekehrt und verschlossen? Wie erscheint die Körperhaltung? (2)
Dabei ist es wichtig, alle vorschnellen Interpretationen, Sympathien oder Antipathien zurückzuhalten und ganz aktiv immer wieder mit der entsprechenden Fragestellung die Umgebung zu beobachten. Der Blick wird dadurch wacher und öffnet sich mehr nach außen. Der Mensch tritt intensiver mit seinem Umfeld in Beziehung und er kann in der Folge die Eindrücke bewusst erfassen und verarbeiten. Gleichzeitig erbaut er durch seine Aktivität die Umgebung, der durch das bewusste Wahrgenommen werden eine Kraft zufließt.
Der Mensch hat es nun nicht mehr nötig, etwas für sich „herauszunehmen“, sondern gewinnt die Fähigkeit, in jedem Moment etwas Aufbauendes hineinzugeben.
Es lohnt sich also, diese Art der Aktivität auszuprobieren, da sie für alle einen Aufbau bringen kann.
(1) Heinz Grill (2022), „Übungen für die Seele – Die Entwicklung eines reichhaltigen Gefühlslebens und das Erlangen erster übersinnlicher Erkenntnisse“, S. 101, Roßdorf, Synergia Verlag
(2) In meinem Blog „Der Sinnesprozess – Grundlage für Entwicklung und Regeneration“ werden in kurzen Beiträgen verschiedene Übungen und Aspekte dargestellt, wie der Mensch in den verschiedenen Lebenssituationen eine objektive Wahrnehmung und einen generellen Aufbau entwickeln kann. Gleichzeitig besteht die Möglichkeit zu einem Erfahrungsaustausch:
https://heilsamer-sinnesprozess.blogspot.com/
25.07.2023
Lisa Quispe Ureta
Lisa Quispe Ureta
Heilpädagogin und Waldorflehrerin Lisa Quispe Ureta, Jahrgang 1987 strebt danach, durch universell gültige Gesetzmäßigkeiten und Ideen in eine vertiefte Auseinandersetzung mit dem Leben und den oftmals herausfordernden Umständen zu gehen und dadurch die bisher bestehenden Situationen Stück für Stück zu verwandeln und zu erheben. Ihre jahrelange Erfahrung in der Pädagogik und Heilpädagogik und sowohl das Studium der Anthroposophie Rudolf Steiners als auch des von Heinz Grill entwickelten Neuen Yogawillens und dessen Hintergründe regten sie an, vor knapp zwei Jahren gemeinsam mit anderen Menschen ein Kulturprojekt in Italien, Piemont zu gründen, die sogenannte „Villa Angela“ und dort Menschen einen Ort zu bieten, an welchem sie neue Perspektiven und Kulturbausteine für die Zukunft entwickeln können.
Die pädagogisch-therapeutische Arbeit richtet sich an zum Teil traumatisierte, depressiv gestimmte oder psychisch erkrankte Menschen, die im Moment keinen Sinn mehr im Leben entdecken können. Um aus dem Teufelskreis des um-sich-selbst-Kreisens auszubrechen ist es notwendig, eine gute Außenwahrnehmung zu entwickeln. Der eigene Lebensauftrag steht immer in Zusammenhang mit einem größeren Ganzen, mit der gesamten Weltensituation, die erforscht werden möchte, um im Folgenden den eigenen Platz darin zu finden.
Das eigene Tun einem Gesamten zu widmen vermittelt einen höheren Sinn und auf diese Weise erleben beide Bereiche, derjenige der individuellen Entwicklung und jener der Gemeinschaftsbildung eine sinnvolle Einordnung. Neben der Begleitung pädagogisch-therapeutischer Aufenthalte in der Villa Angela richtet sie gemeinsam mit ihrem Mann Lorenzo Quispe Ureta Kurse zu verschiedenen Themen aus. Im Sinne des Ausspruches von Rudolf Steiner „Jede Erziehung ist Selbsterziehung“ geht es in allen Kursen darum, wie der einzelne Mensch so an sich arbeiten kann, dass er aufbauend und erkraftend auf sein Umfeld wirken kann, sei es im Thema der Pädagogik, der Ernährung oder allgemein in der Begegnung und dem Zusammenwirken mit anderen Menschen.
Hinterlasse jetzt einen Kommentar