Was ist ein guter Mensch?
„Tu Gutes!“ „Sei ein besserer Mensch!“ Wer kennt diese Sätze nicht! Und wer kennt nicht das schale Gefühl dahinter, das sich einstellt, wenn man nicht sicher ist, ob man genug Gutes getan hat … – Dann fragen wir uns: “Sind wir ein guter Mensch?”
Kürzlich habe ich einen Menschen an seinem Bett besucht, der die letzten Tage seines Lebens verbrachte. Er wirkte recht angespannt und es schien mir, als würde ihn etwas quälen. Auf meine Fragen hin gab er mir Einblick in das, was ihn so beschäftigte. Es war nicht die Angst vor dem Tod. Aber es war die Angst, kein guter Mensch gewesen zu sein.
Inneres Gericht
Er machte sich Vorwürfe und es schien mir, als säße er in seinem Inneren vor Gericht. Auf mich wirkte er wie ein Staatsanwalt: „Du warst ein Feigling, du hast gelogen,“ sagte er anklagend.
Ich übernahm nun die Rolle der Verteidigerin und argumentierte: „Wahrscheinlich hattest du Angst?“
Der Angeklagte nickte kaum merklich. „Feigheit und Lügen entstehen aus Angst. Angst vor Verachtung, vor Bestrafung. Wer kennt sie nicht, diese Angst? Wir alle lügen, wenn wir glauben, uns dadurch einen Vorteil verschaffen zu können. Nur ist es so, dass diese Lügen von sogenannt hochgestellten Leuten als Wahrheit durchgehen, obwohl jeder weiß, dass es nicht die Wahrheit sein kann. Aber die gewöhnlichen Leute werden dafür bestraft.“
Der Angeklagte entspannte sich ein wenig und der Staatsanwalt schwieg. Dann begann er von Neuem:
„Du hast den Leuten um dich herum und dir selber etwas vorgespielt. Du hast dich als etwas Besseres ausgegeben als was du wirklich bist.“ Der Angeklagte nickte schuldbewusst.
“Wir alle spielen etwas vor, wenn uns die Realität nicht befriedigt,“ sagte die Verteidigerin. „Wäre es denn besser gewesen, sich schlechter hinzustellen, als man ist?“
„Im Grunde bist du ein elender Versager. Ein Nichtsnutz,“ schimpfte der Staatsanwalt verächtlich.
Anklage und Verteidigung
„Was hat er denn genau getan? Worin hat er versagt?“, wollte die Verteidigerin wissen.
„Er hat nicht gehorcht und deshalb seine moralischen und spirituellen Ziele nicht erreicht. Er hat genug Unterweisung erhalten, eine gute religiöse Erziehung und gute Chancen bekommen. Er hätte nur danach leben müssen. Aber das tat er nicht!“
Die Verteidigerin blickte zum Angeklagten, der wie ein Häufchen Elend die Anklage über sich ergießen ließ.
„Gibt es etwas, das du tatsächlich hättest besser machen können? Vorausgesetzt, unter denselben Bedingungen, mit deinem damaligen Wissen und deinen damaligen Möglichkeiten?”
Es entstand eine lange Pause.
Dann schüttelte der Angeklagte den Kopf.
Oft versuchen wir, ein guter Mensch zu sein
Nach einer Weile fügte er hinzu: „Ich habe es so sehr versucht. Ich wollte wirklich dieser gute Mensch sein, den meine Eltern, meine Umgebung und ich von mir erwarteten. Aber… es war zu schwierig, ich konnte es nicht, also habe ich oft so getan, als ob“, fügte er unter Tränen hinzu.
Die Verteidigerin blickte ihn lange an. Dann sagte sie: „Offenbar waren diese Erwartungen einfach zu hoch.“
„Aber er hatte doch das Wissen dazu!“ fuhr der Staatsanwalt dazwischen.
„Das Wissen…“, begann nun die Verteidigerin, „ist nichts wert, wenn es nur im Kopf einen Platz findet. Spirituelles Wissen, religiöse Gebote und Verbote… sie alle entspringen der Idee eines einzelnen Menschen, der sich aus der Masse hervorheben konnte und für sich selbst Lösungen gefunden hat. Weil er so überzeugend war, haben die Leute ihm nachgeeifert, wollten alles genau so machen, wie er und erhofften sich dadurch einen Platz im Himmel oder ein besseres Karma oder sonst irgendwie eine Belohnung. Aber, dieser Mensch, der so genial hervorstach, war einzigartig.
Wir sind einzigartig
Wie wir alle es sind.
Jeder hat ureigenste Begabungen und Fähigkeiten, eigene Möglichkeiten, die eine individuelle Entwicklung benötigen. Es ist schlichtweg nicht möglich, so zu werden, wie jemand anders.“
Der Staatsanwalt verzog verächtlich seinen Mund: „Wo kämen wir denn hin, wenn jeder Mensch seine individuelle Entwicklung vorantriebe?“
Die Verteidigerin fuhr fort: „Gute Frage! Dann kämen wir zu einer Gesellschaft, in der Menschen nicht mehr dazu erzogen würden, die Erwartungen anderer erfüllen zu müssen. Sie hätten somit keine Schuldgefühle und keine Versagerängste mehr.“
„Nein, ein Mensch braucht straffe Führung! Die Regierungen, die Religionen und spirituellen Wissenschaften sind dazu eingerichtet worden, ohne diese hätten wir Anarchie… ein heilloses Durcheinander!“, warf der Staatsanwalt ein.
Brauchen wir Führung?
„Es hat sich aber gezeigt,“ fuhr die Verteidigerin fort, „dass diese Führungen, ganz egal aus welcher spirituellen Richtung sie stammen, mehr Unheil als Nutzen gebracht haben.”
Wie hier an unserm Angeklagten deutlich wird, war es ihm schlicht und einfach nicht möglich gewesen, so zu sein, wie seine Vorbilder. Er hatte es ja versucht und es gelang ihm nicht. Nicht, weil er es nicht wollte, nein, im Gegenteil, er hat sich selber ja so enorm unter Druck gesetzt, möglichst alles richtig zu machen. Weil er es aber nicht konnte und weil ihm das so schrecklich peinlich war, versuchte er, sein Versagen zu verheimlichen, erfand Lügen und erweckte bei einigen den Anschein, als hätte er das Ziel erreicht. Aber nun plagen ihn entsetzliche Schuldgefühle.
Meines Erachtens, lieber Herr Staatsanwalt, liegt die Anklage nicht auf meinem Mandanten, sondern auf denjenigen, die ihn dazu gedrängt haben, etwas anderes aus sich selbst zu machen, als was er war.“
Schweigen im Gerichtssaal.
Der Angeklagte hob vorsichtig den Kopf und blickte gespannt um sich. Wurde er etwa freigesprochen?
Wie weit können wir gehen?
„Jetzt gehen Sie aber zu weit“, ereiferte ich der Staatsanwalt. „In unserer zivilisierten Welt hat doch jeder die Chance, das zu sein und zu werden, was er will. Wir leben schließlich in einer freien Welt!“
„Tun wir das tatsächlich?“, erwiderte die Verteidigerin. „Es ist doch viel eher so, dass über Generationen hinweg bestehende Wertmaßstäbe weitergegeben werden. In den sogenannten zivilisierten Kreisen besteht doch eine klare Vorstellung davon, was ein guter Mensch ist und wer sich nicht daran hält, wird nach wie vor verurteilt. Von Chance auf Freiheit keine Spur!“
Dann wandte sie sich an den Angeklagten: „Würden Sie wieder geboren, was würden Sie gerne sein?“
„Ein besserer Mensch“, antwortete der Angeklagte spontan.
Die Verteidigerin lächelte und antwortete: „Ach herrjeh…! Und wie soll der sein, dieser bessere Mensch?
Soll er sich vermehrt an moralische und religiöse Gebote halten? Soll er vor allem sogenannt Gutes tun, möglichst vielen Menschen helfen?“
Der Angeklagte nickte.
Wie können wir tatsächlich ein guter Mensch sein?
„Und, woher soll er nun wissen, was gut ist?“, fragte die Verteidigerin, dann sagte sie: „Die Religionsstifter wollten auch Gutes tun…, aber sie haben dabei übersehen, dass jeder Mensch nur seiner eigenen Beschaffenheit folgen kann. Jeder Mensch, der noch identifiziert ist mit dem, was man ihm beigebracht hat, ist zum Scheitern verurteilt. Was er als gute Tat an jemandem betrachtet, kann für den Betroffenen ein Unglück bedeuten. Wer im guten Glauben Hilfe anbietet, kann unter Umständen größeren Schaden anrichten, weil er die Zusammenhänge nicht sieht.“
„Dann denken Sie also, man soll gar nicht versuchen gut zu sein?“, feuerte der Staatsanwalt dazwischen.
„Was ich sagen will, Herr Staatsanwalt, ist die Tatsache, dass wir unsere Vorstellungen von einem guten Menschen ändern sollten. Gut kann nicht heißen, Erwartungen zu erfüllen. Es kann nicht gut sein, wenn wir uns aufopfern, uns hintenanstellen, unsere Bedürfnisse verneinen. Es kann nicht gut sein, wenn wir ungefragt möglichst viel Hilfe und Unterstützung anbieten. Ganz allgemein gesprochen: Es kann nicht gut sein, wenn wir den menschlichen Vorstellungen von Gott gefallen wollen. Denn, alle diese Vorstellungen sind falsch.“
„Nun, dann befürworten Sie also eine Gesellschaft von rücksichtslosen Egoisten?“, forderte sie der Staatsanwalt heraus.
„Nein, ganz und gar nicht“, fuhr die Verteidigerin in ruhigem Ton weiter, „wobei ich Ihnen in einem Punkt Recht gebe: Ich sehe tatsächlich eine Gesellschaft von rücksichtslosen Egoisten. Aber das ist deshalb so, weil sie im Tiefschlaf des angelernten Verhaltens dahintorkelt und gar nicht merkt, dass eben all dieses Angelernte das Ego bildet. Solange die Identifikation mit dem Ego besteht, gibt es nur Egoisten.“
Sie ließ ihre Worte wirken und fuhr dann fort: „Ein besserer Mensch, wäre in meinen Augen, eben jemand, der sich selbst am Nächsten steht.
Sich selbst nah sein
Ein Mensch, der sich erlaubt zu spüren, was er tatsächlich fühlt, was er möchte, was er braucht.
Ein Mensch, der seine angeborenen Fähigkeiten als Chance betrachtet, sie zu erweitern und zu vertiefen. Weil es ihn erfüllt!
Ein besserer Mensch wäre einer, der sich klar ist darüber, dass alles, was er ist, aus der Urquelle stammt, und dass diese Urquelle gar nicht anders als gut sein kann!
Er würde begreifen, dass sein Leben ein Ausdruck von Schöpferkraft ist, den er stets mitgestalten kann. Meines Erachtens wäre er einer, der dankbar dafür ist, durch die Inkarnation in seinen Körper alle möglichen Erfahrungen machen zu können! Vor allen Dingen würde er einsehen, dass Fehler unbedingt dazu gehören!
Das Leben ist Veränderung
Er würde begreifen, dass Leben ständige Veränderung bedeutet und deshalb nichts und niemand perfekt sein kann. Wenn es perfekt ist, ist es abgeschlossen, vorbei, tot.
Er würde lernen, dass alles vorüber geht und deshalb jeden Moment auskosten. Er würde verstehen, dass sein Leben ein Geschenk ist, das er wertschätzen und sich daran freuen darf!
Ein solcher Mensch wäre tatsächlich ein besserer Mensch als einer, der in seinem Ego verhaftet ist.“
Der Staatsanwalt schien nachdenklich zu sein. Der Angeklagte hatte gespannt zugehört und nickte nun kaum merklich.
Dann setzte die Verteidigerin erneut an: „Herr Richter, Herr Staatsanwalt, wenn Sie meinen Äußerungen gefolgt sind und nun sehen, dass unser Angeklagter einfach Opfer seiner kulturellen und religiösen Erziehung war, erkennen Sie gewiss, dass er unschuldig ist. Er war ein Gefangener, Gefangener seines Glaubens, seiner Vorstellungen von sich selbst. Er wusste nicht, dass das Lügen sind. Darum plädiere ich auf Freispruch.“
Der Staatsanwalt ergriff das Wort: „Nach den Ausführungen der Verteidigerin sage ich, dass der Angeklagte zwar schuldig ist gemäß der Anklage. Ein Versager, ein Lügner, ein Hochstapler. Aber, da ich die Hintergründe zu diesem Verhalten berücksichtige und sehe, dass die gesamte Menschheit sich so verhält, plädiere ich für mildernde Umstände.“
Mildere Umstände walten lassen
Nun wandte sich der Richter, der bisher schweigend den Ausführungen der Staatsanwaltschaft und Verteidigung gelauscht hatte, dem Angeklagten zu und fragte: „Haben Sie verstanden, was hier vorgetragen worden ist?“
Der Angeklagte nickte und ein Lächeln huschte über sein Gesicht.
Darauf sprach der Richter: „Sie haben in Ihrem Leben versucht, den Vorbildern und Erwartungen zu entsprechen und konnten dieses Ziel nicht erreichen. Das war nicht Ihre Schuld, dafür sind Sie als unschuldig zu erklären.
Was Sie damit aber angerichtet haben, ist nicht belanglos. Sie haben sich selbst verachtetet und für minderwertig gehalten. Sie haben sich selbst nicht wertgeschätzt. Sie haben sich selbst gequält mit Forderungen und Vorwürfen und Sie haben durch diese Ausstrahlung auch andere Menschen beeinflusst.
Da Sie sich aber nicht im Klaren waren darüber und es nicht absichtlich geschah, lasse ich milde Strafe walten. Eigentlich sollte Strafe aber einfach dazu dienen, die begangenen Fehler der Selbstverachtung nicht zu wiederholen.
Wiedergeburt
Also: Sie werden wiedergeboren als Mensch. Die Menschen um Sie herum werden wieder allerlei Vorstellungen davon haben, wie Sie sein sollten und werden wieder versuchen, Sie dazu zu drängen, sich anzupassen. Aber Ihre Aufgabe besteht darin, ganz allein Ihren Weg zu finden und nur der Stimme Ihres Herzens zu vertrauen. Wenn Sie als unschuldiges, neugieriges, lebensfrohes Wesen, das sich, gemäß den Ausführungen der Verteidigerin, am Leben erfreut, werden Sie das für Sie Richtige tun. Verlangen Sie nichts, erwarten Sie nichts. Genießen Sie einfach, was Ihnen geschenkt wird mit Ihrer neuen Inkarnation.
Und vor allem: Hören Sie auf, sich zu bemühen, ein guter Mensch sein zu wollen, sondern seien Sie einfach, wer Sie sind! Sie werden sehen, diese angebliche Strafe kann zur höchsten Freude werden, denn alles ist umkehrbar!“
Mit diesen Worten beendete der Richter sein Urteil.
Der Staatsanwalt und die Verteidigerin schüttelten sich die Hände, denn es gab keinen Verlierer in diesem Prozess. Das Urteil schien gerecht zu sein.
Dankbarkeit
Der Angeklagte erhob sich mit einem erleichterten, freudigen Ausdruck auf seinem Gesicht. Große Dankbarkeit stieg in ihm auf, denn er erkannte nun, dass sein Leben doch wertvoll gewesen war. Es war eine der wichtigsten Lektionen gewesen! Und, auf die sogenannte Strafe freute er sich! Neugierig und zuversichtlich näherte er sich langsam der Türe, welche in eine andere Dimension führte.
In liebevolle Anteilnahme versunken saß ich noch eine Weile am Bett dieses Menschen, der im Begriff war, sich selber völlig anders wahrzunehmen.
Aussöhnung.
Ein tiefer Wunsch stieg in mir auf: Möge es immer mehr Menschen möglich sein, noch zu Lebzeiten Minderwertigkeits- und Schuldgefühle abzulegen und zu erkennen, wie einzigartig jeder ist.
Nicht besonders… aber einzigartig!
In diesem Sinne, herzliche Grüße
Navyo Brigitte Lawson
26. Dezember 2023
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Mein Name ist Navyo Brigitte Lawson. Ich wurde 1948 in der Schweiz geboren. Bereits seit frühster Jugend war ich auf spiritueller Suche, denn die christliche Religion, in der ich erzogen worden war, erfüllte mich nicht, auch nicht mein Psychologiestudium, das ich mit 30 Jahren begann. …
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