Muss man Kinder erziehen?
„Ja natürlich“, wirst du sofort denken, „sonst machen sie ja was sie wollen“. Na ja, das wäre ja eigentlich wünschenswert. Aber klar, Kinder sollen lernen, dass sie nicht stets Mittelpunkt sind. Sie sollen lernen, dass auch andere Menschen Bedürfnisse haben und respektiert werden wollen. Dazu gehört natürlich, dass sie die wichtigsten Benimmregeln lernen, die in der jeweiligen Familie gelebt werden und natürlich auch in der Öffentlichkeit. Rücksichtnahme, Ehrlichkeit, Zuhören und Regeln befolgen sind wohl die Grundpfeiler, um ein einigermaßen harmonisches Zusammenleben zu ermöglichen. Und was, wenn das Kind das nicht befolgt, wenn es nicht gehorcht?
Was ist mit Strafe?
Strafe ist in meinen Augen immer etwas Demütigendes. Eine Haltung von oben herab. Und ob sie nützt, ist fraglich. Viel sinnvoller ist es doch, das Kind erfahren zu lassen, was das Nichtbefolgen für Konsequenzen hat. Damit lernt es, dass alle unsere Handlungen Konsequenzen haben.
Aber, wie sieht es denn aus, wenn auch die Eltern diese Eigenschaften nicht leben? Wenn sie ihre Kinder, den Partner und sich selbst belügen? Wenn sie nicht gelernt haben, dass Respekt im Umgang mit allen Lebewesen Grundlage eines harmonischen Zusammenseins ist?
Dann haben wir das, was wir jetzt auf der Welt haben.
Oft staune ich darüber, wie unaufmerksam, egozentrisch und manipulativ sich Erwachsene untereinander und mit ihren Kindern benehmen. Dementsprechend verhalten sich dann auch ihre Kinder. Da frage ich mich dann, warum diese Menschen überhaupt Kinder in die Welt gesetzt haben.
Das ist ohnehin eine wichtige Frage.
Warum Kinder haben?
Es gibt unzählige Menschen, die wollen unbedingt Kinder haben. Warum? Weil sich das so gehört? Weil sie in ihren Nachkommen weiterleben wollen? Weil sie Angst haben, allein zu sein? Weil sie glauben, ohne Kinder sei man unglücklich oder nicht vollständig? Weil sie hoffen, von ihren Kindern stets geliebt und womöglich im Alter versorgt zu werden?
Aus meiner Sicht gibt es eigentlich nur einen einzigen Grund, Kinder zu haben. Nämlich dann, wenn die Liebe zwischen zwei Menschen so groß ist, dass sie in ein anderes Lebewesen überfließt. Ist das der Fall, dann sind die Kinder nicht dazu da, die Bedürfnisse der Eltern zu befriedigen. Sie werden als Geschenk betrachtet!
Ist das nicht der Fall, dann wäre es wirklich am besten und am ehrlichsten, wenn diese Menschen auf Kinder verzichteten. Es gibt genug andere Möglichkeiten, ein erfülltes Leben zu leben! Und es gibt mehr als genug Kinder!
Aber wie sieht es denn nun mit der viel diskutierten Erziehung aus?
Muss man Kinder erziehen?
Normalerweise geben Eltern den Kindern das mit, was sie selbst erlebt haben. Man kann ja nur geben, was man selber hat.
Damit geben sie alle ihre unreflektierten Prägungen mit, ihre Wertvorstellungen von einem „anständigen“ Kind. Sie haben Vorstellungen davon, welchen Beruf ihr Kind erlernen und später ausüben soll, wie der Partner oder die Partnerin später sein soll – daran, dass jemand ohne Partnerschaft leben möchte, wollen sie schon gar nicht denken! – Im Grunde genommen möchten sie, dass die Kinder verjüngte Ausgaben der Eltern sind.
Und dann kommt unter Umständen die Rebellion. Das Kind entwickelt sich anders. Hat andere Wertvorstellungen, andere Prioritäten. Streit, Verachtung auf beiden Seiten, Verurteilung sind die Folgen. Im Extremfall wird der Kontakt völlig abgebrochen.
Enttäuschung, Hass und vermindertes Selbstwertgefühl bilden dann den Nährboden des jungen Menschen. Wie sich das auf sein Leben und seine Beziehungen auswirkt, erleben wir täglich in unserer gestörten Gesellschaft.
Ist das vermeidbar?
Ja, das ist es.
Es ist vermeidbar, dass wir unsere Kinder erziehen. Es genügt, wenn wir sie begleiten. Denn Erziehen heißt manipulieren!
Erziehen heißt manipulieren
Begleiten heißt, sie gut zu beobachten und zu spüren, was sie brauchen.
Manchmal ist es Unterstützung und Hilfestellung, manchmal ist es einfach gewähren lassen, selten ist es eingreifen und niemals ist es vorschreiben!
Es geht vor allem darum, einem Kind Vertrauen zu schenken.
Dem Kind Vertrauen schenken
Vertrauen, dass es bewerkstelligen kann, was es gerne möchte. Vertrauen, dass es intelligent genug ist, sein Leben zu meistern. Vertrauen, dass seine eigene Sicht und seine eigene Welt so sind, wie es diesem Menschen entspricht.
Wir können durchaus Talente fördern, solange das wirklich dem Wunsch des Kindes entspricht. Aber es ist völlig unsinnig, einem Kind alle möglichen Fähigkeiten beibringen zu wollen, es in Unterrichtsstunden und Schulen zu schicken, wenn das nicht seinem echten Bedürfnis entspricht.
Was ist also nötig im Umgang mit Kindern?
Beobachten ohne Vorurteile und ohne oberflächliche Interpretationen.
Unsere voreiligen Schlüsse, die wir gerne ziehen, werden dem Kind meistens nicht gerecht. Es ist anders. Es ist ein eigener Mensch mit eigenen Bedürfnissen, eigenen Fähigkeiten, eigenen Ansprüchen an das Leben. Es geht darum, diesen noch sehr kleinen, jungen Menschen als vollwertig anzusehen. Ein Mensch mit seinen berechtigten Gefühlen.
Alle Gefühle sind berechtigt!
„Aber“, wirfst du vielleicht ein: „Ich kann doch bei einem Kind nicht alles durchgehen lassen. Was ist mit seinen Wutanfällen?“
Wutanfälle gehören dazu. Aber sie sollen nicht zum Manipulationsinstrument werden. Wie oft ist es doch leichter, dem lauten und nervigen Drängen eines trotzigen Kindes nachzugeben anstatt es „austrotzen“ zu lassen! Ja, es ist schwierig, als Eltern einfach da zu bleiben, das Kind in seiner Wut zu akzeptieren, aber nicht seinem Wollen nachzugeben. Gelingt das nicht, dann wird das Kind auch als Erwachsener lernen, dass es mit seinen Gefühlen (egal mit welchen), seine Umwelt manipulieren kann.
So verhält es sich auch mit Krankheiten, mit anderen Herausforderungen: Sobald wir Eltern uns dazu verleiten lassen, das Kind in seiner „Not“ zu verhätscheln und ihm die Last abnehmen wollen, entwickelt es ein manipulatives Verhalten, mit dem es sich selber sehr schaden kann.
Begleiten heißt, da sein
Anteil nehmen. Vertrauen schenken. Das genügt.
Eigentlich geht es ja darum, einem Kind zu ermöglichen, dass es natürlich aufwachsen kann. Natürlich im Sinn von: seiner Natur entsprechend.
Es ist natürlich, seine Gefühle zu äußern. Es ist natürlich, neugierig zu sein und selbst ausprobieren zu wollen, was einen lockt! Es ist natürlich, zu allen Lebewesen, zu den Tieren, Pflanzen, dem Wasser und den Steinen eine Verbindung zu haben. Und es ist natürlich, seiner eigenen Stimme zu vertrauen. Und es ist natürlich, auch durch schmerzhafte Erfahrungen den eigenen Weg zu finden.
Viele Kinder leben in ihrer Fantasiewelt und die meisten Erwachsenen glauben, sie müssten sie früher oder später da herausholen, ihnen zeigen, was real ist. Aber, was ist denn real? Was ist Fantasie? Vielleicht sind ja die Fantasiewelten der Kinder genau jene Welten, in denen das Leben liebevoller, harmonischer und erfüllter abläuft als in unserer, wie wir glauben, realen Welt?
Wir können durchaus von Kindern lernen, wenn wir beobachten, mit welcher Neugierde, Hingabe und Unvoreingenommenheit sie sich den verschiedenen Lebewesen nähern. Natürlich kann man sie auf Gefahren aufmerksam machen, aber bitte nicht als „Spielverderber!“
Kinder begleiten
„Das alles ist ja schön und gut, aber wie sollen Eltern denn diese wohlwollende Begleitung hinkriegen?“, fragst du dich vielleicht.
Das ist der springende Punkt!
Die Art, Kinder zu begleiten, wie ich sie beschreibe, können wir, wenn wir bereit sind, unsere eigene Erziehung, die verinnerlichten Werte und Strukturen, die uns als normal erschienen sind, in Frage zu stellen.
Wir können das, wenn wir bereit sind, aus der Masse heraus zu treten und das zu tun, was wir, tief in uns drinnen, für richtig erachten.
Wir können das, wenn wir bereit sind, uns in unsere Kinder einzufühlen und ihre Einzigartigkeit erkennen.
Das setzt natürlich voraus, dass wir bereit sind, uns selbst zu erlauben, der oder diejenige zu sein, die wir wirklich sein wollen. Es setzt voraus, dass wir uns nicht mehr kleiner machen, als wir sind und aufhören, an uns selbst zu zweifeln. Es setzt voraus, dass wir begreifen, wie jeder von uns einzigartig ist und überhaupt nicht perfekt sein muss.
In dieser Haltung wird es uns gelingen, unsere Kinder zu begleiten, so lange sie es brauchen und sie gehen zu lassen, wenn sie reif sind dazu. Sie gehören uns nicht!
Je mehr Menschen sich darüber bewusst werden, desto mehr Kinder werden zu innerlich gesunden Menschen heranwachsen. Und diese verwirklichen vielleicht tatsächlich Vieles, was uns von einer friedlichen, liebevollen Welt vorschwebt.
Herzliche Grüße
04.09.2024
Navyo Brigitte Lawson
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Mein Name ist Navyo Brigitte Lawson. Ich wurde 1948 in der Schweiz geboren. Bereits seit frühster Jugend war ich auf spiritueller Suche, denn die christliche Religion, in der ich erzogen worden war, erfüllte mich nicht, auch nicht mein Psychologiestudium, das ich mit 30 Jahren begann. …
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