
Stille als radikale Praxis: Warum innere Ruhe heute Widerstand ist
In einer Welt, die sich selbst ununterbrochen übertönt, ist echte Stille ein subversiver Akt. Sie ist keine Flucht, sondern eine bewusste Gegenbewegung. Ein Leitartikel über die unterschätzte Kraft innerer Ruhe.
1. Der Lärm der Gegenwart
Wir leben in einer Zeit der Dauerstimulation. Push-Nachrichten, Hintergrundmusik, Talkshows, Podcasts, Werbetafeln: Unsere Sinne werden rund um die Uhr bespielt. Doch der Preis für diese ununterbrochene Beschallung ist hoch. Der kollektive Geist wird flatterhaft, die Seele nervös, der Körper überreizt. Wir nennen es Fortschritt – aber es ist oft bloß Dauerablenkung.
In dieser akustisch und informativ überladenen Welt erscheint Stille als Anomalie. Doch gerade sie könnte der rettende Kontrapunkt sein.
2. Was Stille wirklich bedeutet
Es ist mehr als die Abwesenheit von Lärm. Sie ist ein innerer Zustand. Nicht das Verstummen der Welt, sondern das Stillwerden in uns. Diese Unterscheidung ist zentral.
Neurobiologisch zeigt sich: Bereits wenige Minuten echter Stille aktivieren das sogenannte “Default Mode Network” im Gehirn – jenen Zustand, in dem Reflexion, Kreativität und Selbstverarbeitung stattfinden. Spirituell betrachtet ist Stille der Raum, in dem das Hören beginnt – das Hören auf das, was unter dem Oberflächenlärm unseres Denkens liegt.
3. Der Verlust der Stille ist ein zivilisatorisches Problem
Wir verlernen das Stillsein. Das ist kein Zufall, sondern ein Symptom unserer Zeit. Wer still wird, spürt plötzlich: Da ist Leere. Oder Schmerz. Oder Sehnsucht. Diese Gefühle dulden keine Ablenkung – also flüchten wir in den Lärm zurück.
Der permanente Lärm hat Folgen: Unsere Intuition verkümmert. Unsere Kreativität wird fragmentiert. Unser Denken verliert an Tiefe. Der Verlust der Stille ist auch ein Verlust der inneren Integrität.
4. Stille als kreative und spirituelle Ressource
Die großen Denker:innen, Künstler:innen und Mystiker:innen der Geschichte wussten: Wer etwas erschaffen will, muss leer werden. Räume schaffen. Hören lernen.
Der Komponist Arvo Pärt sprach von der “erhabenen Nacktheit der Stille”. Hildegard von Bingen empfing ihre Visionen in der Zurückgezogenheit. Selbst Steve Jobs praktizierte meditative Spaziergänge in der Natur, um auf Ideen zu kommen. Stille ist keine Pause vom Leben – sie ist das Labor des Geistes.
5. Praktiken für eine neue Kultur der Stille
Ruhe muss überübt werden wie ein Instrument. Dazu braucht es keine Askese – sondern bewusste Rituale:
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Digitale Fastenzeiten: Abends eine Stunde ohne Bildschirm
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Morgendliche Atempraxis: Drei Minuten achtsames Atmen vor dem Tag
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Ruhige Räume schaffen: Zuhause, in Organisationen, in Schulen
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Spaziergänge ohne Ziel: Gehen als geistige Entleerung
Diese einfachen Rituale sind kein Luxus. Sie sind Notwehr.
6. Wer die Stille meidet, meidet sich selbst
Ruhe ist unbequem. Sie konfrontiert uns mit uns selbst. Aber gerade deshalb ist sie heilsam. In ihr erkennen wir, was wir wirklich denken, was wir wirklich wollen – und wer wir unter all dem Lärm sind.
In einer Zeit kollektiver Zerstreuung ist Stille keine Flucht. Sie ist Widerstand. Und vielleicht der letzte verbliebene Zugang zur Quelle wirklicher Inspiration.
27.01.2023
Uwe Taschow
Uwe Taschow
Als Autor denke ich über das Leben nach. Eigene Geschichten sagen mir wer ich bin, aber auch wer ich sein kann. Ich ringe dem Leben Erkenntnisse ab um zu gestalten, Wahrheiten zu erkennen für die es sich lohnt zu schreiben.
Das ist einer der Gründe warum ich als Mitherausgeber des online Magazins Spirit Online arbeite.
“Mehr als die Vergangenheit interessiert mich die Zukunft, denn in ihr gedenke ich zu leben.”
Albert Einstein
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