Nach dem Erdbeben in der Türkei: Wie Kultur, Kunst und Spiritualität Gemeinschaft wiederaufbauen
Die Katastrophe war erschütternd – doch was daraus wächst, ist Hoffnung: In den vom Erdbeben 2023 betroffenen Regionen der Türkei entstehen neue Formen des gemeinschaftlichen Wiederaufbaus. Dabei spielen Kunst, Kultur, Spiritualität und Gemeinschaft eine zentrale Rolle. Ein Modell mit Strahlkraft.
Der Wendepunkt: Was das Beben zerstörte – und freisetzte
Am 6. Februar 2023 erschütterten zwei schwere Erdbeben den Südosten der Türkei und den Nordwesten Syriens. Mit einer Stärke von 7,8 und 7,5 erschufen sie eine der verheerendsten humanitären Katastrophen des Jahrzehnts. Über 56.000 Tote, Hunderttausende Verletzte und massive Zerstörung von Häusern, Schulen, Moscheen und Infrastruktur【1】.
Neben dem materiellen Verlust war es vor allem der seelische Schock, der Millionen Menschen lähmte: Angst, Trauer, Ungewissheit. Doch genau aus dieser Leere heraus entstanden erste Initiativen – getragen von Menschen, die trotz allem verbunden blieben.
Der Earthquake Solidarity Fund: Gemeinschaft als Kompass
Ein Jahr nach dem Beben rief die Allianz Foundation gemeinsam mit der European Cultural Foundation den Earthquake Solidarity Fund ins Leben【2】. Ziel war es, kulturelle und gemeinschaftsbildende Projekte zu fördern – dort, wo der Wiederaufbau nicht nur Beton, sondern Sinn braucht.
Die Grundidee: Kultur heilt. Musik, Kunst, Rituale und kreative Prozesse helfen dabei, kollektive Traumata zu verarbeiten und neue Identität zu stiften. Besonders in Städten wie Hatay, Adıyaman und Gaziantep wurde diese Idee Wirklichkeit.
Heilung durch Kunst und Spiritualität: Die Projekte vor Ort
„Faces of Antakya“ – Identität neu erzählen
Eine Gruppe lokaler Kunsthandwerker, Musiker:innen und Videokünstler:innen porträtiert in Antakya (Hatay) Menschen, die ihre Geschichten erzählen. Dabei geht es um mehr als Dokumentation: Es ist ein Akt der Rückgewinnung. Die Porträts werden in Schulen, Zelten und an Hauswänden ausgestellt – als Zeichen von Würde und Widerstandskraft.
„Gärten der Hoffnung“
In Ruinenzonen entstehen kleine, gemeinschaftlich gepflegte Permakulturgärten. Dort wird nicht nur angepflanzt – es wird gemeinsam gegossen, meditiert, gesungen. Kinder erhalten einen eigenen Pflanzbereich und gestalten Schilder mit Namen, Gedichten oder Symbolen. Das Wachstum wird zum Zeichen der Lebenskraft.
Musik- und Theaterzirkel für traumatisierte Kinder
Mobile Teams reisen in Flüchtlingslager und Notunterkünfte. Mit Trommeln, Puppentheater und traditionellen Geschichten schaffen sie sichere Räume. Kinder dürfen Gefühle ausdrücken, ohne Angst. Dabei werden auch einfache Achtsamkeitsübungen eingebaut – Atem, Stimme, Stille. Ein Beispiel: Das „Herzklopf-Lied“, das Angst in Verbindung verwandeln soll.
Begegnungsorte für Gemeinschaft und Geist
Die NGO Postane aus Istanbul unterstützt den Aufbau neuer Begegnungsräume in Adıyaman. Diese Räume beherbergen kulturelle Aktivitäten, Bildungsangebote – und bieten zugleich Rückzugsorte für Stille, Gebet oder spirituellen Austausch. Es gibt offene Gesprächskreise über Verlust, Schmerz und Hoffnung.
Einige dieser Orte nutzen Sufi-Traditionen wie gemeinsames Dhikr (repetitive Gebetsformeln), andere bauen auf interreligiöse Begegnungen: Alevitische, sunnitische, christliche und säkulare Menschen kommen zusammen – vereint durch Mitgefühl.
Wissenschaftliche Perspektive: Heilung braucht Seele
Studien belegen: Nach Katastrophen wirkt psychosoziale Hilfe dann am nachhaltigsten, wenn sie kulturelle und spirituelle Elemente einschließt【3】. Gemeinschaftsbildung, künstlerischer Ausdruck und spirituelle Rituale stärken Resilienzfaktoren wie:
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soziale Bindung
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Selbstwirksamkeit
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emotionale Regulation
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existenzielle Sinnfindung
In der Türkei zeigt sich dies praktisch: Frauen berichten, dass ihnen die Tanzkreise mehr geholfen hätten als Medikamente. Männer sagen, das gemeinsame Singen habe ihnen erstmals Tränen erlaubt.
Stimmen der Hoffnung
„Ich hatte nur Trümmer vor Augen. Jetzt sehe ich Blätter, Farben, Kinderlachen.“
– Selda, 41, aus Antakya
„Ich dachte, das Leben ist vorbei. Aber dann durfte ich meine Geschichte aufmalen – und sie war noch da.“
– Hasan, 12, Teilnehmer eines Kunstprojekts
„Die Zeremonie mit den Kerzen hat mir den Mut gegeben, meinen Bruder loszulassen.“
– Meryem, 33, Notunterkunft in Gaziantep
Spirituelle Perspektive: Wiederaufbau beginnt im Herzen
In vielen Traditionen heißt es: Nach dem Beben kommt das Lied. Die spirituelle Kraft der kollektiven Rituale, der geteilten Tränen, der Heilpflanzen, der Kinderzeichnungen – all das ist mehr als Symbolik. Es ist Transformation.
Spiritualität wird hier nicht als Religion verstanden, sondern als Rückverbindung mit dem Leben – dem eigenen und dem gemeinsamen. Die Menschen sagen: Wir haben unsere Häuser verloren – aber nicht unsere Menschlichkeit.
Wie geht es weiter?
Der Earthquake Solidarity Fund wurde 2025 um neue Mittel erweitert. Lokale Gruppen sollen langfristig gestärkt, neue Zentren in ländlichen Gebieten aufgebaut und Traumaausbildung mit Kunstpädagogik verbunden werden.
Geplant ist ein „Haus der kulturellen Resilienz“ in Hatay – ein Modellzentrum für Integration von Kultur, Heilung und Bildung.
📚 Quellen:
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WHO Turkey Earthquake SitReps, Feb 2023
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UNDP Resilience Report Turkey, 2024
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Studie: Spirituality and Collective Trauma Recovery (Heinrich Böll Foundation / Berlin School of Mind & Brain, 2023)
✨ Fazit:
Die Türkei zeigt nach der Katastrophe, dass Resilienz nicht nur mit Baggern entsteht – sondern mit Begegnung. Kultur, Kunst und Spiritualität erweisen sich als Schlüssel zur seelischen Heilung. Was hier entsteht, ist ein Modell für die Welt: Ein Wiederaufbau, der nicht nur Mauern hebt, sondern Herzen verbindet.
30.05.2025
Heike Schonert
HP für Psychotherapie und Dipl.-Ök.
Alle Beiträge der Autorin auf Spirit OnlineHeike Schonert
Heike Schonert, Heilpraktikerin für Psychotherapie, Diplom- Ökonom. Als Autorin, Journalistin und Gestalterin dieses Magazins gibt sie ihr ganzes Herz und Wissen in diese Aufgabe.
Der große Erfolg des Magazins ist unermüdlicher Antrieb, dazu beizutragen, dieser Erde und all seinen Lebewesen ein lebens- und liebenswertes Umfeld zu bieten, das der Gemeinschaft und der Verbindung aller Lebewesen dient.
Ihr Motto ist: „Wenn wir ehrlich zu uns selbst sind, uns als Ganzheit begreifen und von dem Wunsch erfüllt sind, uns zu heilen und uns zu lieben, wie wir sind, werden wir diese Liebe an andere Menschen weiter geben und mit ihr wachsen.“