Aus der Krise in die Wandlung – die weibliche Heldenreise als Heimkehr der Göttin
Mythen und Legenden gehören zum nichtmateriellen Erbe der Menschheit. Sie erzählen uns von den zeitlosen Geschichten unzähliger Generationen, die den Weg des »Großen Geheimnis« vor uns gegangen sind und uns Fackeln entlang des Wegs hinterlassen haben, damit wir uns in der Dunkelheit nicht verlieren.
Sie helfen uns, uns zu entwickeln und zu transformieren, sie verleihen unserem Leben und auch unserem Leiden Sinn.
Mythen sind seit Anbeginn der Menschheit ein wichtiger Bestandteil der menschlichen Kultur. Sie sind Geschichten, die von Generation zu Generation weitergegeben wurden und oft übernatürliche Wesen, Götter und Helden als Charaktere haben. Mythen haben eine tiefgründige Bedeutung und sind oft eng mit der Spiritualität, Religion und Philosophie verbunden.
Warum aber gibt es so wenig Mythen und Legenden, die von weiblichen Erfahrungen, von weiblicher Transformation und Kraft erzählen? Wo sind die Geschichten unserer Mütter und Großmütter?
Es gibt sie, diese Mythen und Geschichten, die von archetypischen Frauen erzählen, die mutig vorangingen, Herausforderungen bewältigten und sich selbst fanden. Sie sind nur nicht Teil unseres tradierten Kanons an Geschichten. Wir lesen von der Ilias, vom Gilgamesch-Epos, von Shakespeare, Star Wars und Harry Potter, doch wo sind die Frauen? Sind sie seit Jahrtausenden unsichtbar, ist das, was sie erleben, fühlen und gestalten so unwichtig, dass niemand es zu Geschichten gesponnen hat?
Die klassische Heldenreise als mythischer Archeplot
Der Mythenforscher Joseph Campbell ist der Entdecker dieser mythischen Erzählstruktur, die zu Disneys Erfolgsgeheimnis wurde. In 12 Schritten reist der Held in die Unterwelt und kehrt mit einem Elixier in die Oberwelt zurück, deren Herrscher er wird. Im Wort »Herrscher« liegt schon der erste Hinweis, womit wir es hier zu tun haben – mit männlichem Größenwahn. Die Unterwelt, die eigene Psyche, als Ort der Machtaneignung des Männlichen. Drehbuchautor Christoph Vogler passte die Heldenreise für Drehbuchautoren und den Film an.
Seither fasziniert die Heldenreise Geschichtenerzähler ebenso wie Suchende und Psychonauten. Sie gilt als der Schlüssel zu unserer Seele und zu unserer Selbstheilung.
Doch was hat es mit der Heldenreise auf sich, die doch per se schon an Männer gerichtet ist? Wo sind sie, die Heldinnen?
Einige Versuche hat es bereits gegeben, die Heldenreise auch für Frauen zu übersetzen, etwa von Maureen Murdock, eine Schülerin Joseph Campbells, doch dieser Versuch kann als gescheitert betrachtet werden. Die Frau wird darin nicht zur Heldin der Reise, sondern zur Prinzessin, die vom Helden erobert wird. Die Frau als Preis für den männlichen Sieger – mehr sollen weibliche Erfahrungswelten nicht zu bieten haben?
Die Krise als Ruf
Als Biografin begegnen mir viele Frauen und mir fiel auf, dass sie alle in ihrem Leben von einer großen Krise sprachen, die ihnen aber letztlich dabei half, zu sich selbst zu finden und sich von patriarchalen Rollenmustern zu befreien.
Oft sind es Frauen um die 40, die auf einmal feststellen, dass all das, was man ihnen mit Anfang 20 als »Glück« versprach, seine Versprechen nicht eingelöst hat. Partnerin, Mutterrolle, Karrierefrau, all das sind Rollen, die uns von außen vorgegeben werden und wir übernehmen sie ungefragt, weil sie uns »natürlich« erscheinen, sind sie doch ein Teil unserer gelebten Kultur und finden sich als solche auch millionenfach in unserer Umwelt – Werbung, Filme, Bücher, Vorbilder.
Nie haben wir uns gefragt, ob diese Rollen wirklich zu uns passen, ob sie überhaupt dazu geeignet sind, uns glücklich zu machen. Und was bedeutet Glück für uns Frauen überhaupt?
Diese Frauen sind oft erfolgreich, kreativ, schön, sie sind unabhängig und selbstbestimmt, sie erfüllen alles, was man ihnen äußerlich abverlangt, um in diese Gesellschaft zu passen, sie streben nach Selbstverwirklichung und Glück, doch genau das will sich einfach nicht einstellen.
Zwischen der männlichen Heldenreise und der weiblichen Heimkehr der Göttin
gibt es einen entscheidenden Unterschied. Frauen kämpfen, ob bewusst oder unbewusst, immer gegen einen zusätzlichen Gegner, der in der männlichen Erfahrungswelt nicht existiert: die mal subtilen, mal deutlicheren patriarchalen Strukturen, die Männer bevorzugen und Frauen abwerten.
Das kann sich in Sexismus, in Benachteiligung, in sexueller und emotionaler Gewalt oder in anderen Formen äußeren, doch es bedeutet, dass es in der Geschichte von Frauen immer noch einen zusätzlichen Faktor gibt, der berücksichtigt werden muss und der sich entsprechend im weiblichen Archeplot wiederfindet.
Der Beginn der weiblichen Heldenreise ist eine Krise,
in die die Protagonistin gerät, weil sie spürt, dass die nach wie vor männlich geprägte Welt das Versprechen von Glück und Selbstverwirklichung nicht einlöst, dass sie einem Betrug aufgesessen ist.
Die Krise kann eine Trennung sein, ein Konflikt mit dem Vorgesetzten, eine schwere Krankheit oder ein anderes Lebensereignis.
Die Krise führt dazu, dass die Frauen eine vielfach schmerzhafte, aber auch befreiende und lehrreiche Reise nach innen antreten und sich selbst finden. Mit ihrem authentischen Selbst kehren sie dann im besten Fall zurück und leben dann ein Leben ohne faule Kompromisse, im Einklang mit sich selbst, weil sie die Lügen durchschaut haben, die ihnen das patriarchale Erbe unserer Kultur aufgetischt hat.
Gerade weil es sich um eine Rebellion gegen dieses kulturelle Erbe handelt, muss diese Heldenreise nicht immer erfolgreich sein. Es kann sein, dass die Frau an den Widerständen scheitert. Sylvia Plaths »Die Glasglocke« ist das Paradebeispiel dafür.
Die Heldenreise der Hauptfigur Esther Greenwood besteht darin,
dass sie erkennt, dass sie ein psychisches Problem hat und niemals in ein »normales« Leben passen wird, aber dass dieses psychische Problem nicht allein »ihr« Problem ist, sondern auch mit den Lebensumständen zusammenhängt, die ihr, als junge Frau, Anfang der 1950er Jahre, aufgezwungen werden. Ihre Depression und ihr Suizid sind eine Art Rebellion dagegen. Als einzelne Frau kann sie diese nicht ändern, aber allein ihr Weiterleben und die Bewusstmachung dieser Zusammenhänge sind ein kleiner Sieg. Sie hat sich nicht einfach gefügt und den »richtigen« Mann geheiratet.
Frauen möchten häufig nichts erobern, sie möchten sich selbst heilen und ihren Platz in einer Gesellschaft finden, die an vielen Stellen nach wie vor auf Männer ausgerichtet ist. Der Widerspruch, in einer Welt zu leben, die mir als Frau nur scheinbar gerecht wird, löst die Krise aus und führt letztlich zu der Erkenntnis, dass die Dinge nicht so sind, wie sie zu sein scheinen.
Im Laufe der Transformation lernt die Frau, diesen Widerspruch für sich zu analysieren und zu begründen und ergreift dann entsprechende Maßnahmen. Nicht immer läuft es auf eine Befreiung hinaus, denn eine einzelne Frau kann die patriarchalen Strukturen kaum vollständig abschütteln.
Jede Frau wird auf irgendeine Weise mit ihnen konfrontiert und muss sie zu ihnen stellen. Sie kann in Gegnerschaft gehen, sich unterordnen oder Versöhnung suchen, in jedem Fall aber muss sie eine Entscheidung treffen. Nehme ich die Rollen an, die mir die Gesellschaft zugesteht oder kämpfe ich darum, mich selbst zu definieren? Vertraue ich mir selbst und meiner Anbindung an das Göttlich-Weibliche?
Verbundenheit, Innenschau und Spiritualität
Wonach die meisten Frauen streben, die mir begegnen, ist Verbindung und Weisheit und das sind Eigenschaften, die eher mit dem Göttlichen in Zusammenhang stehen.
Gott – das ist für uns eine väterliche Figur, patriarchal geprägt.
Doch wenn wir Gott als Mutter verstehen, als Göttin, deren Töchter wir sind, dann ändert sich die Perspektive. Diese Muttergöttin enthält alle Liebe und alle Weisheit, nach der wir uns sehnen. Sie schenkt das Leben, alles kehrt in ihren Schoß zurück. Wir alle sind mit ihr verbunden, ob wir es wollen oder nicht.
Mehr noch, sie ist in uns. Die Göttin ist in uns, wir sind Verkörperungen dieser Göttin, weil in jeder Frau, ob sie nun wirklich Mutter ist oder nicht, die Kraft steckt, neues Leben zu erschaffen, die Grenze zwischen Leben und Tod zu überwinden, und wir so eingebunden sind in die uralte Weisheit des Lebens und die Rhythmen der Natur.
In der Bewusstseinsforschung weiß man heute, dass sich unser Bewusstsein zu großen Teilen aus den Signalen unserer Körperwahrnehmung konstruiert. Ein weiblicher Körper, ob jugendlich, schwanger oder in der Menopause, sendet andere Signale an unser Hirn, als ein männlicher Körper. Der weibliche Zyklus, die biologische weibliche Lebensreise ist durch den immerwährenden Wandel und die Neuentstehung geprägt und die spüren wir Frauen. Wir wissen durch unsere Körper, dass nichts von Dauer ist, dass sich alles ständig verändert und dass wir ein Teil der Natur sind.
Das ist kein bewusstes, kognitives Wissen, sondern es ist ein intuitives, auf Körpererfahrungen basierendes Wissen.
Wer bin ich eigentlich? Was sind meine Stärken? Wieso lebe ich Rollen, die mich weder ausfüllen noch glücklich machen? Wie kann es mir gelingen, zu meinem wahren, authentischen Selbst zurückzufinden und ein Leben zu leben, das mich wirklich glücklich macht, ohne Rücksicht darauf zu nehmen, was die gesellschaftlichen Erwartungen sind.
Spurensuche in der Vergangenheit
Tatsächlich gibt es sehr wohl so etwas wie eine weibliche Heldenreise, in der Erzählung von Inanna und auch in der Persephone Erzählung finden wir Elemente dessen, was wohl einst die ursprüngliche Reise in das Innere gewesen sein muss, bevor das Patriarchat es an sich riss und kompromittierte. Aber auch unsere modernen Märchen wie »Frau Holle«, »Rapunzel« oder »Dornröschen« erzählen uns davon, wie ein junges Mädchen von einer älteren, initiierten Frau in die Geheimnisse der weiblichen Wandlungskraft eingeführt wird.
Wo der Held der klassischen Reise aufbricht und etwas erobert und oder bekämpft, zieht sich die Göttin in Form der Frau zurück, nutzt den Rückzug von der Welt, um ihr Bewusstsein zu erweitern, sich dem Göttlichen zu öffnen und dann mit neuen Antworten und neuen Lösungen zurückzukehren. Der Demeter-Mythos enthält noch Relikte davon, ebenso wie andere Erzählungen aus Ägypten und viele Märchen. In indigenen Kulturen, wie etwa in Nordamerika, ist es bis heute üblich, dass sich Frauen während ihrer Menstruation zurückziehen. Die Menstruation wird als eine natürliche Phase der Bewusstseinserweiterung verstanden, die den Frauen Kraft gibt.
Wo die Heldenreise den Mann herausfordert, lädt die Heimkehr der Göttin die Frau ein, in die Stille zu gehen, sich um sich selbst zu kümmern und dann mit dieser neuen Kraft zurück zur Gemeinschaft zu kehren.
In unserer Gegenwart ist dafür kaum Platz. Viele Frauen spüren zwar, dass sie erschöpft und überfordert sind, doch anders lassen Beruf und Familie kaum unter einen Hut bringen. Die Krise ist fast unausweichlich, doch sie ist auch eine Chance. Wenn es der Frau gelingt, diese Krise zu nutzen, um sich selbst zu finden, dann kehrt sie mit einer verwandelten Perspektive zurück und kann sich aus der Krise befreien. Indem wir uns dessen bewusst machen, können wir mit dem Austausch über Krisenerfahrungen, Storytelling und Biografiearbeit unserer ureigenen, weiblichen Heldenreise besser gerecht werden.
Das bedeutet nicht, dass Frauen keine Heldinnen sein können, der weibliche Archeplot versteht sich als Ergänzung, nicht als Widerspruch. Beides kann und darf sein – die männliche Suche nach dem Abenteuer im Außen und der weibliche Rückzug in die Stille. Je vollständiger unser Bild von den universalen, menschlichen Erfahrungen ist, umso eher werden uns Versöhnung und Frieden gelingen.
Wandlung in der Dunkelheit
Gab es in früherer Zeit einen anderen Archeplot, eine andere, weiblich geprägte mythische Reise? Diese Frage ist schwer zu beantworten, da es zu jener Zeit keine Schriftlichkeit gab und alles, was Frauen betraf, ohnehin als nicht wichtig genug betrachtet wurde, um überliefert zu werden. Aber wie war es vor dem Patriarchat?
Den Menschen im Paläolithikum, also der Altsteinzeit, vor bis zu 50.000 Jahren, muss es wie ein Wunder erschienen sein, dass sich die Körper der Frauen wölbten und dann neues Leben hervorbrachten. Von der männlichen Rolle der Zeugung wussten sie nichts, weshalb der Vater in ihrem Verständnis auch keine Rolle spielte.
Nach allem, was wir heute wissen, lebten die Menschen damals anders zusammen.
Die Frauen und Mütter befanden sich im Zentrum einer Gruppe, gemeinsam mit ihren Kindern. Sie entschieden über die sozialen Belange. Alle waren miteinander verbunden, es gab keine Hierarchien. Die Männer kamen »zu Besuch«. Sie hatten eigene Aufgaben und wurden wertgeschätzt, aber die Entscheidung über die Belange der Gemeinschaft oblagen den Frauen, denn sie waren die Bringerinnen des Lebens.
Die Frauen waren die Nährerinnen und Hüterinnen ihrer Gemeinschaft. Sie sorgten für Nahrung, indem sie aus der Natur sammelten, was notwendig war. Die Jagd der Männer stellte eine Ergänzung dar. Die Männer waren oft viele Wochen und Monate unterwegs und entwickelten dabei ihre eigenen Rituale, die mit der Jagd, der Einsamkeit und dem Vertrauen auf die eigene Kraft zu tun hatten.
Die Frauen hingegen wählten bewusst Zeiten des Rückzugs, in denen sie nicht der Gemeinschaft zur Verfügung standen, sondern sich mit der großen Mutter verbanden. Dazu suchten sie Höhlen auf, gingen bewusst in die Dunkelheit, um sich dem Göttlich-Weiblichen zu öffnen. Bis heute zeugen die Funde von Höhlenmalereien und anderen Überbleibseln davon, dass diese Höhlen während der gesamten Altsteinzeit über viele Jahrtausende hinweg aufgesucht und vor allem von Frauen rituell genutzt wurden.
Für uns ist es heute schwer, uns diese Art von Zusammenleben vorzustellen,
ein Zusammenleben in Frieden, in dem jedes Leben kostbar war und nicht in sinnlosen Kriegen oder Bestrafungen verschwendet wurde.
Die Erde mit ihren Gaben wurde als ebenso mütterlich empfunden wie die Frauen mit ihren Segen spendenden Brüsten und Schößen. Leben und Tod, Träumen und Wachen wurden nicht als Gegensätze betrachtet, sondern als Bestandteile einer kosmischen Erfahrung. Vieles von dem, was wir uns heute wieder über Umwege aneignen, muss für die Menschen damals selbstverständlich gewesen sein, etwa, dass die Sterne ein Spiegelbild für die Ereignisse in ihrem Inneren sind.
Höhlen waren wichtige Ritualorte, die vor allem von Frauen aufgesucht wurden,
sehr wahrscheinlich während der Menstruation/dem Dunkelmond. Diese Phase des Übergangs wurde bewusst genutzt, um sich nach innen zu wenden und sich der Transzendenz, dem Übernatürlichen, zu öffnen und zu lauschen.
Die Höhle steht für den Mutterschoß, aus dem alles Leben kommt, ein nährender, warmer Ort weiblicher Kraft. Aus dieser Höhle wurde in der männlichen Heldenreise dann die gefahrvolle und unheimliche Unterwelt, der der Held wieder entkommen möchte.
In der indigenen Kultur Nordamerikas ist das Wissen um die unterschiedlichen, sich ergänzenden Reisen von Mann und Frau noch erhalten. Während die jungen Männer eine »Vision Quest« machen, also sich draußen in der Wildnis Nahrungsentzug und Erschöpfung aussetzen und so einen transzendenten Zustand erreichen, ziehen sich Frauen zur »Healing Quest« zurück, leben bewusste Verbundenheit mit anderen Frauen, der Natur und der Spiritualität und richten den Blick nach innen. Sie nähren sich mit Schlaf, Träumen, guten Gesprächen und guten Gedanken.
Die verschwundene Göttin
Das Wissen um den Rückzug der Frauen und ihre Wiederkehr findet sich Jahrhunderte später in Ägypten. Wir können also davon ausgehen, dass es eine Art universales, archetypisches Wissen ist, dass auch in uns angelegt ist und deshalb, wenn auch unbewusst, überdauert hat.
Ich habe die Entdeckung der weiblichen Heldenreise als »Heimkehr der Göttin« nach einem einen ägyptischen Papyrus in demotischer Sprache benannt, der im 2. Jahrhundert nach Christus die Geschichte einer Göttin beschreibt. Die verwendeten Wörter weisen darauf hin, dass die eigentliche Erzählung der »Heimat der Göttin« oder dem »Mythos vom Sonnenauge, das in der Ferne weilt« viel älter ist.
In der Geschichte verlässt eine Göttin ihren Vater und verschwindet für 120 Tage. Die Auswirkungen sind drastisch, die Sonne geht nicht mehr auf. Schließlich wird sie von ihrem Bruder zurückgeholt. Die Geschichte wird in Verbindung gebracht mit dem Auftauchen des Sirius-Sterns, der in Ägypten den Anfang der Nilschwemme ankündigte. Das erinnert uns an den Winter, der nicht mehr ging, nachdem die griechische Fruchtbarkeitsgöttin Demeter die Oberwelt verließ, um in der Unterwelt nach ihrer Tochter Persephone zu suchen.
Diese Erzählung enthält viele typische Merkmale des ursprünglichen weiblichen Archeplots über die Göttin. Es geht um zyklische Vorgänge und eine enge Verbindung mit der Natur. Sie flieht vor ihrem Vater und wird von ihrem Bruder wieder zurückgeholt. Ohne sie steht die Welt still, der Zyklus von Werden und Vergehen kann sich nicht erfüllen. Wir betrachten die weibliche Heldenreise aus der Außensicht, doch wir erkennen in ihr die Elemente weiblichen Rückzugs und Transformation.
Spuren weiblicher Initiation in europäischen Märchen
Auch in unseren europäischen Märchen lassen sich diese Spuren finden, etwa bei den Gebrüdern Grimm. Diese verformten viele Märchen, nahmen ihn ihre ursprüngliche, transformative Kraft und »zähmten« sie. Dennoch finden wir die Spuren des Weiblichen und der Großen Mutter.
Das Märchen Dornröschen zum Beispiel erzählt uns von einem Königspaar, das lange vergeblich auf ein Kind wartete. Ein Frosch kündigt an, dass die Königin nun endlich schwanger ist, doch bei der Taufe kommt es zu einem Unglück. Die 13. Patin wurde vergessen und spricht einen Fluch aus.
Die 13. Patin ist niemand anderes als die verbannte Göttin, deren Rache man fürchtet. Das Patriarchat stürzt sich auf junge Frauen, weil sie beeinflussbar sind und weil sie für Fruchtbarkeit stehen. Die alte Weise hingegen, für die die 13. Patin steht, wird abgelehnt, herabgewürdigt, ausgeschlossen.
Als die Prinzessin in die Pubertät kommt, sticht sie sich an der Spindel und fällt in einen tiefen Schlaf. Bevor sie also sexuell verfügbar wird, schützt die 13. Patin sie und umgibt das Schloss mit einer Dornenhecke. Die Welt der Männer hat keinen Zugriff auf das Mädchen, es träumt sich in eine andere Welt.
Die Spindel ist ein sehr weibliches Werkzeug,
das Spinnen war in alter Zeit den Frauen vorbehalten. Beim Spinnen erzählte man sich Geschichten und webte so eine neue Wirklichkeit.
Dornröschen sticht sich an der Spindel, dieses Motiv steht für die erste Menstruation. Der Zauber der Patin hält sie verborgen vor der Welt, bis der Richtige kommt. Dieser Prinz erweckt Dornröschen mit einem einzigen, magischen Kuss, dem Kuss der wahren Liebe. Die patriarchale Aussage: Er befreit sie aus den Fängen der überkontrollierenden Mutter und entführt sie in seine Welt, um sie zu verführen.
In unserer Gegenwart ist diese Art von Kuss ein starkes Motiv. Er gilt als Besiegelung der Liebe, wenn der Held die weibliche Hauptfigur küsst, »hat sie ihn an der Angel«.
Der Ursprung des Kusses liegt jedoch nicht in der Beziehung zwischen Mann und Frau, sondern im Füttern eines Kleinkinds durch die Mutter und die wahre Liebe finden wir nicht immer in der Paarbeziehung, ganz sicher aber in einer liebevollen Beziehung mit uns selbst.
In einer Urform dieses Märchens können wir die Verzauberung durch die 13. Patin als eine Einweihung betrachten. Das Mädchen wird der Welt entzogen, um alles über die Anderswelt zu erfahren, im anderen Reich der Träume, Feen und Fabelwesen zu wandeln, um gestärkt für das Leben, das vor ihr liegt, von dort zurückzukehren.
Stattdessen wird sie in der gängigen Überlieferung nun vom Prinzen aus ihrem Traum gerissen und die 13. Patin, die schon mit ihrer Zahl andeutet, dass sie der alten Welt der Mondrhythmen entstammt, wird dämonisiert.
Die Abschottung von Mädchen während der Pubertät ist ein Motiv, das uns im Märchen häufiger begegnet, etwa bei Rapunzel. Es ist ein Hinweis darauf, dass die Mädchen früher mit der ersten Menarche eine Zeit im Rückzug verbrachten, um sich dem Göttlichen zu widmen.
Im Märchen »Schneeweißchen und Rosenrot«
ist der weiblichkeitsbezogene Aspekt noch viel deutlicher zu erkennen.
Zwei Schwestern leben zusammen mit ihrer Mutter im Wald. Die Harmonie zwischen ihnen ist erkennbar, es ist das Paradies weiblicher Gemeinschaft, so wie es früher war.
Der Bär taucht auf, ein Repräsentant der alten, vorpatriarchalen Ordnung. Er besucht die Mädchen und zeigt sich freundlich und hilfsbereit.
Dann aber kommt der Zwerg, der garstig und gemein ist. Der Zwerg steht für das Patriarchat, für den bösen Stiefvater, der die Mädchen herabwürdigt und herumscheucht.
Der Bär tötet ihn, der Fluch ist gebannt und die beiden Mädchen heiraten den Königssohn und seinen Bruder. In diesem Märchen ist es der Stiefvater oder Vater, das Patriarchat, das von einem anderen Mann besiegt wird, so dass die beiden Mädchen nicht weiter verletzt werden.
Es ist der Vater, der jüngere Männer schlecht macht, damit sie seinen »Besitz«, seine Töchter nicht gefährden.
Ähnliche Überbleibsel der Großen Mutter finden wir auch in anderen Märchen, etwa bei Frau Holle. Wir können die patriarchalen Schichten dekonstruieren, abtragen und darunter die alten Erzählungen über die Geschichte der Göttin finden.
Vor allem aber erkennen wir, dass unsere individuellen Erfahrungen als Frauen eingebunden sind in einen universalen, archetypischen Kontext. Wir dürfen den Mut haben, unsere eigene, mythische Reise anzustreben und nicht nur der der Männer nachzustreben. Sie führt uns nach Hause – zu uns. Denn wir sind der Raum der Göttin, die Manifestation des Göttlich-Weiblichen in unserer Wirklichkeit und das darf und soll sich in unseren Geschichten, Mythen, unseren Ritualen und unserem Alltag wiederfinden.
18.07.2023
Sarah Rubal
Foto von Aditya Saxena auf Unsplash
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Über Sarah Rubal
Sarah Rubal ist Historikerin und Ethnologin. Schon seit ihrer Kindheit schreibt sie Bücher. Als Ghostwriter, Biograf und Schreibcoach begleitet sie heute Menschen auf dem Weg zum eigenen Buch.
Mehr über die weibliche Heldenreise findet sich in ihrem gerade erschienen Buch
»Die Heimkehr der Göttin – die mythische Heldinnenreise zu Transformation und Ganzheit«
von Sarah Rubal,
978-3757559434, Taschenbuch, 27,99 Euro
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