Das Wesen des spirituellen Wegs

Suchen und Ankommen

Das Wesen des spirituellen Wegs – Suchen und Ankommen

 

„Ich lebe mein Leben in wachsenden Ringen“
(Rainer Maria Rilke, 1875 – 1926)

***

„Wir suchen nach Erkenntnis, aber Erkenntnis ist nicht einfach Information. Wir suchen nach Selbsterkenntnis. Man muss lernen, sich aller Etiketts und Schubladen zu entledigen, die in der Vergangenheit vielleicht noch gebraucht wurden. Denn es gibt nur ein einziges Absolutes Dasein. In dem Sinne sind wir ganz einfach nur Menschen des Weges.“
(Sufi-Mystiker Reshad Feild, 1934 – 2016)

Der Lebensweg jedes Menschen sollte im Herzen beginnen.

Wir sind im Innersten unserer Herzen alle eins. Nicht bloß ähnlich, sondern eins. Es gibt nur ein menschliches Herz; und dort beginnt der Weg. Der Weg fängt mit der Entdeckung an, dass wir im tiefsten Inneren alle zusammengehören. Man kann es als das All-Einssein oder kosmische Einheit bezeichnen. Als wir Kind waren, besaßen wir noch dieses sehr lebendige Gefühl. Als Erwachsene erleben wir es noch manchmal in der Natur oder im Zusammensein mit anderen Menschen. Diese tiefe Zugehörigkeit könnte man in der Tat als Heimat oder Zuhause bezeichnen. Heimat ist dort, von wo aus wir beginnen.

Der englische Lyriker und Literatur-Nobelpreisträger T.S. Eliot (1888 – 1966) hatte sehr weise erkannt:

„Das Ende all unserer Erforschungen wird darin bestehen, dort anzukommen,
wo wir gestartet sind und diesen Ort zum ersten Mal erkennen.“

So ist die Endstation des Weges die Rückkehr nach Hause. Diese Sehnsucht nach Zugehörigkeit, dieses Heimatgefühl des Herzens ist der Weg innerhalb jedes Weges. In allen Weisheits-Traditionen, die ich kenne, führt der innere Weg an dasselbe Ziel. Aber manchmal kann uns der äußere Weg vom inneren Weg ablenken. Dieser universelle Herzensweg hat verschiedenste Bezeichnungen.

LEBENS-WEG – das Geheimnis des uralten Anfangs

Das Wesen des spirituellen Wegs
KI unterstützt generiert

Alle großen spirituellen Meister haben den Schülern einen Weg gezeigt (chinesisch: TAO). Keine Lehre, keine dogmatischen Strukturen, keine Moralvorschriften. Der Meister fordert aber das volle Vertrauen auf den Weg ein. Weg und Leben sind etymologisch eng miteinander verknüpft; lat.: via (Weg) und vita (Leben); frz.: la vie (Leben) und la voie (Weg). Es ist völlig gleichgültig, gleichermaßen werthaltig, ob ich mich auf einem christlichen, muslimischen, jüdischen, buddhistischen, hinduistischen Pfad u.a. fortbewege.

Der Weg ist das Ziel.

Der Weg hat weder einen Anfang noch ein Ende; andernfalls wäre er von der Polarität Geburt & Tod begrenzt. Der Weg ist ewiges Leben, jenseits aller Dualität. Wenn jemand vom Zentrum des Lebens distanziert ist, spricht man oft von weg sein, meint aber abwegig sein.

Suchen wird zum ständigen Ankommen, wenn man das Leben als zyklischen Reifungsprozess versteht und nicht als Erreichen eines Endes. Es gibt kein Lebensende, nur dauerhaftes Voranschritten, auf welcher Erfahrungs- und Wahrnehmungsebene auch immer.

Das 14. Kapitel des Tao Te King beschreibt auf geradezu geniale Weise das Geheimnis des Weges. Lao Tse umreißt, was TAO nicht ist. Kenntnis vom TAO kann man nicht mit Hilfe der Sinne erlangen: man kann es nicht sehen, hören oder anfassen. Es hat seinen Sitz im intuitiven Bewusstsein und kann nur über seine Auswirkung in der sozialen Lebenswelt wahrgenommen werden – in seiner Auswirkung auf Vorstellungen, Geschehensabläufe und gesellschaftlichen Wandel. Weltliche Ereignisse treten immer wieder in sich stets wiederholenden Zyklen auf, und Anhänger des TAO lernen, diesen Kreislauf zu durchschauen und zu transzendieren. Jeder, der auf dem Weg ist, spürt den Ursprung der eigenen Existenz.

Der spirituelle Meister zeigt den sicheren Weg zum Ursprung unseres Seins auf. Diese Wegweisung ist ohne spezielle Methode, weil das Einüben in die Gegenwärtigkeit nichts anderes als bedingungslose Achtsamkeit erfordert. Der Meister lässt den Schüler an seiner Gegenwart teilhaben:
„Wenn ihr mich seht, schaut Ihr auf den Urgrund“.

TAO TE KING, Kapitel 14

„Schau hin, du wirst es nicht sehen.
Man nennt es: unsichtbar.
Horche, du wirst es nicht hören.
Man nennt es: unhörbar.
Greif danach, du wirst es nicht fassen.
Man nennt es unfassbar.
Diese drei sind unergründlich.
Deshalb sind sie zu einem Einzigen miteinander verbunden.
Es strahlt nicht von oben,
und doch ist es von unten her nicht dunkel.
Wie ein unendlicher Faden,
und doch nicht zu beschreiben.
Es kehrt zurück ins Nichts.
Man nennt es: die Gestalt des Gestaltlosen,
das Bild des Wesenlosen.
Unvorstellbar und jenseits aller Phantasie.
Du stehst davor, doch du siehst sein Gesicht nicht.
Du folgst ihm, doch du siehst seinen Rücken nicht.
Bleib auf dem uralten Weg,
um das Reich der Gegenwart zu meistern.
Die Fähigkeit, den Anfang allen Seins zu erkennen,
nennt man den Faden, der sich durch den Weg zieht.“

Das, was wir immer finden müssen, ist unser eigenes Zentrum.

Nicht irgendeine Unterweisung von außen, sondern unser innerster Herzensbereich ist unser Ziel.

Verschiedene Menschen müssen verschiedenen Wegen folgen, um das Einssein zu finden, welches in der Tat uns alle verbindet. Dort anzukommen bedeutet Glückseligkeit, der Weg des Herzens.

In der christlichen Tradition betont die Meditation mehr das Tun; man liest einen Text und meditiert darüber, d.h. man reflektiert darüber auf einer tieferen Ebene oder man benutzt den Text wie ein Mantra. Dann kommt ein weiteres Stadium, welches man als Kontemplation bezeichnet, wo man nicht mehr Kontrolle über den Prozess hat. Man öffnet sich, man lässt Wort, Gedanke oder Bild beiseite und schon ist man angekommen. Und dies wirkt wie eine Veränderung, Verwandlung.

Der lateinische Terminus „contemplatio“ drückt eine der ursprünglichsten religiösen Haltungen, die wir zurückverfolgen können, aus. Es handelt sich um die Idee, dass die höheren Dinge das Ordnungsmuster für die niederen schaffen. „Templum“, was wir heute Tempel nennen, war ursprünglich nicht ein Gebäude, sondern das Symbol für die kosmische Ordnung des Himmels mit all seinen Planeten und Sternen. Die römischen Priester und Auguren befragten den Himmel, den Tempel, übertrugen die dort gefundene Ordnung und projizierten sie auf das Chaos des täglichen Lebens.

Jeder Mensch hat eine kontemplative Neigung, welche der Aspekt des inneren Lebens ist, wodurch wir den Sinn des Lebens suchen.

Im 47. Kapitel des TAO TE KING von Lao Tse lesen wir:

„Ohne aus der Tür zu treten,
kannst du die Wege der Welt kennen.
Ohne aus dem Fenster zu schauen,
kannst du die Wege des Himmels kennen.
Je weiter du gehst, desto weniger weißt du.
Die Weisen wissen, ohne zu reisen,
benennen, ohne zu sehen,
wirken, ohne zu handeln.“

17.04.2025
Roland R. Ropers
Religionsphilosoph, spiritueller Sprachforscher, Buchautor und Publizist

https://kardiosophie.network


Über Roland R. Ropers

Ehrfurcht vor dem Leben Roland Ropers

Roland R. Ropers geb. 1945, Religionsphilosoph, spiritueller Sprachforscher,
Begründer der Etymosophie, Buchautor und Publizist, autorisierter Kontemplationslehrer, weltweite Seminar- und Vortragstätigkeit.
Es ist ein uraltes Geheimnis, dass die stille Einkehr in der Natur zum tiefgreifenden Heil-Sein führt.

>>> zum Autorenprofil

Alle Beiträge des Autors auf Spirit Online

Buch Tipp:

cover kardiosophie Roland RopersKardiosophie
Weg-Weiser zur kosmischen Ur-Quelle

von Roland R. Ropers und
Andrea Fessmann, Dorothea J. May, Dr. med. Christiane May-Ropers, Helga Simon-Wagenbach, Prof. Dr. phil. Irmela Neu

Die intellektuelle Kopflastigkeit, die über Jahrhunderte mit dem Begriff des französischen Philosophen René Descartes (1596 – 1650) „Cogito ergo sum“ („Ich denke, also bin ich“) verbunden war, erfordert für den Menschen der Zukunft eine neue Ausrichtung auf die Kraft und Weisheit des Herzens, die mit dem von Roland R. Ropers in die Welt gebrachten Wortes „KARDIOSOPHIE“ verbunden ist. Bereits Antoine de Saint-Exupéry beglückte uns mit seiner Erkenntnis: „Man sieht nur mit dem Herzen gut“. Der Autor und die sechs Co-Autorinnen beleuchten aus ihrem individuellen Erfahrungsreichtum die Vielfalt von Wissen und Weisheit aus dem Großraum des Herzens.

> Jetzt ansehen und bestellen <<< 

Hinterlasse jetzt einen Kommentar

Kommentar hinterlassen

E-Mail Adresse wird nicht veröffentlicht.


*