Irrwege der Heilung und die Wichtigkeit der Seelenevolution
Ich halte die Hände eines Anteils von mir, ein frühkindlicher Anteil im Alter von 1-2 Jahren. In einer Aufstellung ist eine andere Person in die Rolle dieses inneren Anteils von mir geschlüpft. Die Person sitzt mir mit starr auf mich gerichteten Augen gegenüber. Die meisten Menschen lernen innerhalb ihrer inneren Auseinandersetzung solch junge, unintegrierte Anteile in sich kennen. Der Boom der inneren Kindheilung und Anteilearbeit ist allein in dem Bücherangebot erkennbar. Besonders in Verbindung mit Traumaheilung haben die Themen großen Anklang gefunden und sind mittlerweile in den verschiedenen Heilungsszenen fester Bestandteil geworden.
Nun meldet sich der begleitende Therapeut und schlägt mir vor einen Satz zu sprechen, “Ich hätte eine Mutter gebraucht, die mich hält”. In mir meldet sich ein Unbehagen. Das fühlt sich nicht wahr an. Doch ich probiere den Satz aus, um zu sehen, ob es etwas in dem jungen Anteil auslöst. Nein, es bleibt unverändert. Auch die anderen Resonanzgeber bleiben in ihren Rollen unberührt. Das ist nicht immer so. Schon öfters bin ich selbst Resonanzgeberin gewesen und weiß, dass solch Sätze Bewegungen verschiedener Art auslösen und lebendige Interaktionen in Aufstellungen hervorrufen können. Nach der Aufstellung bleibt das Unbehagen zurück.
Schuld erkennen
Da ich mit verschiedenen Ansätzen forsche, treffe ich immer wieder auf Widersprüche. So auch hier. Wie so oft lassen mich diese Spannungsfelder in eine tiefere Forschung einsteigen. Ich schätze die Aufstellungsarbeit für ihren leichten Zugang zu unbewussten Anteilen und das Sichtbarwerden der Dynamiken zwischen den Anteilen. Für viele erlaubt diese leicht zugängliche, direkte Interaktion einen Beziehungsaufbau und Erkenntnis ohne Jahre der Tiefenmeditation. Jedoch bleibt in der Aufstellung vieles unhinterfragt, folgt einem festen Muster und unheilsame Endloskreise können entstehen.
So weist mich das Unbehagen über diesen Satz daraufhin, dass etwas an diesem Ansatz nicht meinen Erkenntnissen und Einsichten entspricht. Diesen Satz kann ich nicht unreflektiert stehen lassen. Fast alle Hätte-Sätze in diesem Kontext verbergen einen Gedanken der Schuld und des Mangels in sich. Der Mangel bezieht sich auf das Erleben davon, dass etwas fehlt, obwohl es gebraucht würde. Die Schuld entsteht aus der Verurteilung dieser Erfahrung. Schuld ist das Gegenteil von Frieden, Mangel das Gegenteil von Fülle. Beide sind Gegenteil vom ewigen Leben.
Wir beschuldigen also nicht nur andere Menschen oder uns selbst, sondern auch das Leben generell. Das Leben hätte anders laufen müssen, damit wir keinen Mangel leiden – an Liebe, Glück, Verbundenheit, Einsicht, Kraft…Wären die Umstände anders gewesen, hätten wir andere Erfahrungen gehabt. Damals lief es nicht gut, deswegen geht es uns jetzt schlecht. Die Sätze kennen die meisten Menschen. “Ich hätte eine Mutter gebraucht, die mich hält” fällt in diese Kategorie. Mangel und Schuld in einem Satz zusammengefasst.
Häufig ist diese Perspektive das Fundament für sogenannte Heilungsansätze. Damals hat etwas gefehlt, ist schiefgelaufen oder hat nicht funktioniert und jetzt holen wir es nach. Und dieser Ansatz funktioniert bis zu einem gewissen Grad und hat seine Berechtigung in einer bestimmten Phase. Viele haben ihre Erfahrung von Mangel und Schmerz so sehr verleugnet und überspielt, dass es ein wichtiger Schritt sein kann, diesen Mangel erst einmal sichtbar und fühlbar werden zu lassen. Das bezieht gewisse Interpretationen von Geschehnissen und Lebenserfahrungen mit ein. Dies alles muss auftauchen und ins Licht des Bewusstseins treten können. Jedoch wird dies, was einst eine Öffnung und Befreiung war, ab einem bestimmten Punkt zu einer Verhinderung wirklicher Erlösung.
Als Fundament bleiben wir in dieser konditionierten Sichtweise auf das Leben hängen und versuchen mühsam ohne Erfolg zu heilen.
Viele wundern sich, warum sie nach vielen Jahren der inneren Heilarbeit immer noch die Schmerzen in sich tragen. Auch die Tröstung, dass Heilung Zeit braucht, greift irgendwann nicht mehr. Die Frage kann aufkommen, ob es nicht doch noch etwas anderes gibt. Und das gibt es!
Lebensereignisse als Teil der Seelenentwicklung
Die Schmerzen als Symptom können weniger werden, wenn wir diese durchfühlen. Doch sie bleiben, wenn wir die wahre Ursache und Zusammenhänge nicht erkennen. Dafür hilft es etwas herauszutreten. In der Traumaheilung und inneren Kindarbeit wird das jetzige Leben betrachtet. Dadurch wird der größere Blick der seelischen Entwicklung nicht mit einbezogen. Eine Seele entwickelt sich über unzählbare Leben hinweg. Es gibt verschiedene Phasen und Stufen, die bereits selbst unzählige Inkarnationen brauchen. Doch warum spielt dies eine Rolle?
Meine eigene innere Forschung und der Arbeit mit anderen Menschen hat für mich bestätigt, dass es eine fortlaufende Evolution gibt. Diese Evolution der Seele bedarf Erfahrungen, die gewisse Entwicklungen unterstützen. Zum Beispiel kann eine Seele das Ziel haben Mut und Freiheit zu entwickeln. Dafür inkarniert sie immer wieder als Reformer und Revolutionär, der für neue Ideen, die gesellschaftliche Zustände in Frage stellen, eintritt.
Die fehlende Zustimmung und Konfrontation bieten einen Gegenpol für die Entwicklung der Werte. Jedoch ist die Seele auch mit viel Gewalt konfrontiert. Der Mensch wurde verfolgt und ermordet. Der Mut selbst im Angesicht des Todes für neue Ideen einzutreten hat eine innere Freiheit kreiert. Jedoch sind auch Hass und Angst gegenüber Menschen, die konform und traditionell sind, entstanden. Wenn diese Seele auf die nächste Stufe ihrer Evolution gehen will, muss sie den Hass und die Angst in sich klären.
Dafür könnte sie als ein Kind von Eltern, die aufgrund ihres unterschiedlichen traditionellen Glaubens nicht zusammen sein durften und kein uneheliches Kind haben konnten, geboren. Die Mutter bekommt es heimlich und gibt es in ein Waisenhaus. Der Ansatz vieler Heilungsmethoden würde nun sagen “Ich hätte eine Mutter gebraucht, die mich hält”. Die Perspektive der Seelenevolution zeigt auf, dass durch diese Umstände eine starke Konfrontation mit den zu klärenden Gefühlen von Angst und Hass gegenüber traditionellen Systemen angelegt ist. In diesem Fall sind die Mutter und ihre Handlung perfekt für die seelische Aufgabe dieses Menschen.
Durch die Auseinandersetzung mit seinen Gefühlen entwickelt die Seele Mitgefühl und lernt, dass Revolution und Umbruch nicht die einzigen richtigen Herangehensweisen sind. Die schmerzliche Abwesenheit der Eltern und die kulturelle Unzugehörigkeit ruft den Wunsch nach Verwurzelung in einer Kultur hervor. Mitgefühl, Verbundenheit und Zufriedenheit zeichnen diese neue Stufe der Entwicklung aus.
Dieses Beispiel ist sehr vereinfacht dargestellt. Die meisten Leben sind viel komplexer und mit kollektiven oder kosmischen Entwicklungen verwoben. Es gibt Irrwege und Umwege, unerfüllte Lebensaufgaben und Lebensaufgaben in verschiedenen Stadien. Traumaheilung, innere Kindarbeit und dergleichen sind relevant, besonders in unserer jetzigen kollektiven Entwicklung. Jedoch stellt relative Heilung nur einen Aspekt innerhalb der seelischen Entwicklung und des Erwachens dar. Wir müssen und können uns nicht von unseren Seelenaufgaben erlösen.
Ein erweiterter Blick für den Sinn
Mein Hinweis, der auch in vereinfachter Form gemacht werden kann, ist: Die Lebensereignisse als ein Werkzeug der Seelenentwicklung zu sehen, öffnet bei vielen Menschen einen erweiterten, mitfühlenden Horizont. Die historischen Umstände, Beziehungen und Lebensläufe dienen evolutionären Zwecken. Zum einen wird schnell deutlich, dass die Ursache der Erfahrung nicht in den Umständen, sondern im Inneren liegt. Zum anderen wird klar, dass keine Schuld daraufgelegt werden muss – es hätte nicht anders sein müssen, auch wenn es etwas zu lernen oder korrigieren gibt. Wir können uns mit allem, was uns gegeben wird und was uns nicht gegeben wird, auf das relative Leben einlassen.
Statt Schuld kann dann Sinn entdeckt werden. Statt Umstände als Mangelerfahrung zu interpretieren, können die Entwicklungsabsichten erkannt werden. Statt die Kindheit als ein Scheitern zu erklären und sich die Umstände anders zu wünschen, können wir die Komplexität und Vielfältigkeit des Lebens bejahend begrüßen. Statt nach dem perfekten Leben im Heilewelt-Zustand zu suchen, können wir das ewige Leben in all den imperfekten Komplikationen pulsieren spüren lernen. Dann beginnt Selbsterforschung und tiefe Auseinandersetzung mit Leben, die der Liebe gilt.
16.03.2025
Sara Gnanzou
https://tiefbewegtblog.wordpress.com/
Die Sehnsucht nach Lebendigkeit führte Sara Gnanzou zunächst zu Reisen durch die Welt, einem interdisziplinären Philosophiestudium und Tätigkeiten im Beratungs- und Choachingbereich. Seit 2020 widmet sie sich der spirituellen Lebensforschung. In Ihre Arbeit fließen neben tantrischem Wissen und westlicher Philosophie auch die Körper- und Traumaforschung mit ein. Durch das Teilen ihrer Forschungserkundungen durch Wort und Bild möchte sie unterstützend dazu inspirieren, das eigene Sein zu erforschen und die Lebendigkeit erblühen zu lassen.
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