Kyo und Jitsu, wie wir Leere und Fülle deuten und uns dazwischen bewegen
In einer sinnlich ausgerichteten Körperarbeit können auf feinstofflicher Ebene und im Zusammenhang mit Berührung zwei energetische Zustände erkannt werden. Einmal sind es die in der japanischen Heilkunst benannten Zustände von Kyo und Jitsu, welche sich energetisch zu unseren Körperbereichen und Organen beschreiben lassen.
Andererseits ist jeder Körper anders und deshalb auch in seinen Nuancen, in seiner Form und Beschaffenheit so vielschichtig und einzigartig zu deuten. Energetische Leere bedeutet so viel wie energetische Unteraktivität, Schwäche oder Mangel an Lebendigkeit. Energetische Fülle bedeutet so viel wie energetische Überaktivität, Stärke oder überfließende Lebendigkeit.
Auf eine allgemeine Bedeutung bezogen, als auch im gesunden Verhältnis zwischen Spannung und Entspannung, geht es darum, Kyo und Yitsu herauszufinden und das Kyo als Bedürfnis zu befriedigen. Yitsu ist die sichtbare Aktivität oder das Symptom als Bote für das „versteckte Bedürfnis“. Ist ein Bedürfnis befriedigt, zeigt sich weder Fülle noch Leere, oder man kann auch von Balance zwischen Yin und Yang sprechen.
Darüber hinaus ergänzt die Theorie von Kyo und Jitsu auch die Vorstellung davon, was über rein physiologische Ansätze hinausgeht, nämlich was uns eigentlich wirklich ausmacht in den Bewegungen, Schwingungen und interagierenden Funktionen von Körper, Geist und Seele.
Das Konzept wurde in den siebziger Jahren erstmals von Shizuto Masunaga in die Kunst des Shiatsu eingeführt. Kyo entspricht der Vorstellung vom kleinsten Yin und bedeutet schwache oder mangelnde Energie. Jitsu entspricht dem gegensätzlichen Yang und bedeutet dem zufolge überschüssige Energie.
Ohne beide Gegensätze gäbe es keine Energie,
denn sie bedingen sich einander so wie in der Symbolik von Yin und Yang. Ohne Kyo gibt es kein Jitsu und umgekehrt. Warum es ein zu viel an Jitsu überhaupt gibt, liegt daran, dass das Jitsu in der Regel Energie aus Kyo zieht. Wird diese Bewegung nicht ausgeglichen, hat dies zur Folge, dass Jitsu zu viel und Kyo zu wenig Energie hat.
Fülle- und Leere-Beschwerden können auf körperlich-seelischer Ebene mit der oben benannten Übereinstimmung und mit unserem höheren Tast- und Wahrnehmungssinn aufgespürt werden, weil man sie nicht nur in ihren Extremen beobachten, sondern auch tendenziell erfühlen kann.
In der Problematik physiologischer Auffälligkeiten lassen sich Jitsu-Zonen schneller erkunden, da diese sich hart anfühlen, aber auch durchaus elastisch sein können. Gegenüber Kyo-Zonen sind sie auch visuell leichter zu erfassen und erfahrbar. Wenn man eine Kyo-Zone dehnt, bleibt sie schlaff, sowohl in der gestreckten, als auch ungestreckten Position.
Kyo-Bereiche zu erkunden, erfordert manchmal sehr viel mehr Aufmerksamkeit, als man glaubt. In der Körperarbeit und bei Berührung kommt es bei tieferem Eindringen erst dazu, dass man sie spüren kann. Erst in der Tiefe sind Verhärtungen oder auch Spannungen spürbar.
Für denjenigen, der behandelt wird, kann zunächst auffallen, wie sehr er noch tiefer in seine Müdigkeit, Schlaffheit oder Schwäche hineinsinkt. In meiner Körperarbeit kann man zum Beispiel bei kräftigeren und schweren Menschen sehr häufig feststellen, dass sie oberflächig sehr verspannt sind. Jedoch ist es bei ihnen gleichzeitig kaum möglich, in die Tiefe vorzudringen, um Kyo zu entdecken. Deshalb müssen sie zuerst völlig entspannt werden.
Hierbei helfen auch paradoxerweise aktive Dehnübungen, die im Shiatsu eine große Bedeutung haben. In meiner Sensual Balance Methode geht es hauptsächlich auch um eine Tiefenentspannung, die sich mit passiven und aktiven Elementen koppeln lässt. Nicht umsonst sind dynamische Elemente oftmals Gegenspieler zum eigenen Beschwerdebild, um statische Zustände wieder aufzuheben, Energie wieder beweglich und lebendiger zu machen.
Wenn ein Körperbereich gedehnt wird, kommt es vor, dass Jitsu noch mehr Form annimmt, als zuvor in der Ausgangssituation. Im Shiatsu beschreibt man diese Bewegungsänderung als Austritt aus dem Meridian.
Naturgemäß wird man sogar kein zweites Mal das gleiche Kyo oder das gleiche Jitsu finden,
weder im Menschen selbst, noch außerhalb und im Vergleich zu anderen. Jede Lebensäußerung entspringt einer höchst individuellen Situation. Darin enthalten liegt auch eine tiefere Bedeutung von Kyo und Jitsu in der Körperarbeit. Unter deren Einbeziehung und von der jeweils einmaligen Situation ausgehend, können immer wieder Erfahrungen abstrahiert und miteinander verglichen werden.
Energetische Zustände spiegeln uns in dieser Weise immer wieder neu, wo unsere Stärken, aber auch unsere Schwächen im individuellen Kontext zu den Persönlichkeitsstrukturen liegen. Dementsprechend ist auch zu verstehen, dass uns Leere oder Fülle in den verschiedenen körperlichen, geistigen und seelischen Bereichen als differenzierter Ausdruck begegnet, mit dem wir unsere Anforderungen an das Leben erfüllen, unsere Wünsche äußern oder unterdrücken, aber auch dazu neigen, unseren Schmerzen und Ängsten auszuweichen.
In einer sinnlich ausgerichteten Körperarbeit kommen wir dem höchst individuellen und situativen Gefüge eines Körpermusters entgegen und es ist nicht möglich ihm auszuweichen. Es ist auch nicht möglich, seine Stärken oder Schwächen von ihm zu trennen, denn der Körper manifestiert beides. Er spiegelt alles sehr getreu wider, was gerade in der eigenen persönlichen Lebensphase an Belastungen oder Krisen vorliegt und wie wir damit umgehen.
Auch das, was bisher nicht verarbeitet werden konnte, spiegelt der Körper sehr getreu wider. Ob wir es bemerken oder nicht, wir reagieren auf alles körperlich, was uns berührt.
In der Praxis und aus therapeutischer Sicht sind beide Zustände von Leere und Fülle dazu da,
sie zusammen zu bringen. In Wirklichkeit existieren sie nicht mal abstrakt in uns, sondern drücken sich nur auf bestimmte Art und Weise aus. Wie wir leben, fühlen, denken, assoziiert unsere Leitader dafür, ob wir unser Leben positiv gestalten oder nicht, mit uns und anderen wertschätzend umgehen und dabei etwa positive Zustände anstreben.
Interessanterweise stützt uns die Idee von Eckhart Tolle mit seiner Formulierung vom „Schmerzkörper“, negative Zustände aufzuheben. Der antagonistische Aspekt in uns, vom angesammelten Leiden als emotionalen Körperpanzer, kann unser Leben beschwerlich und unerträglich machen, wenn wir ihn nicht bewusst machen.
Alles Leid, welches wir im Laufe unseres Lebens in uns ansammeln, bildet den Schmerzkörper, der sich wiederum aus den gewohnten, sich ständig wiederholenden Reaktionen auf dieses Leid erhält. Deshalb lernen wir zum Beispiel in allen körperorientierten psychotherapeutischen Verfahren als ersten Schritt unseren Körperpanzer besser wahrzunehmen, damit wir in die biographische Entstehungsgeschichte somatischer und psychischer Blockaden vordringen können.
Im Shiatsu und auch einigen sinnlich ausgerichteten Körperarbeiten,
wie auch in meiner Sensual Balance Methode, bleiben Körper und Psyche ein untrennbarer Aspekt in der Orientierung am Menschen während des Begleitprozesses. Im Fokus steht der Ansatz, präsent und momentan am Menschen zu sein, mit ihm auf Augenhöhe und vor allem immer erfahrungsorientiert. Das heißt in erster Linie im Prozess Impulse zu setzen, damit er selbstwirksam arbeitet und lernt mit seinem Gefüge umzugehen, während er in sein körperlich empfundenes Erleben kommt.
Wenn wir uns fragen, warum wir so sind, wie wir sind, könnten wir ganz gewiss bis in unsere frühesten Lebensjahre eintauchen. Jeder wird bei sich irgendetwas Außergewöhnliches, Befremdliches, Verängstigendes oder besonders Prägnantes bei sich wieder entdecken, das er sich sehr lange nicht mehr angeschaut hat.
Der Blick, den wir jetzt darauf richten, kann ein ganz anderer sein, als je zuvor. Wir erleben vielleicht Vergebung, Hoffnung, oder Liebe in einem neuen Licht. Es kann aber auch passieren, dass wir Situationen und Dinge sehen, die wir noch nie angeschaut haben. Möglicherweise rufen sie Bilder in uns hervor, die die gleichen dunklen und emotionalen Gefühle auslösen, wie damals: Angst, Wut, Abneigung oder Enttäuschung.
Diese Aufarbeitung mit der geeigneten Supervision immer wieder durchzuführen, kann aber unser Leben grundlegend verändern und es ist möglich, sich selbst neu zu erfinden.
Die sehr vielen feinen Akzente zwischen unserem leiblichen Körper und unserem Schmerzkörper gehören zu uns, durch die wir uns von anderen unterscheiden. Und sie alle gehören zu unserer gesamten Persönlichkeit, mit unseren Einseitigkeiten und Beschränkungen, die stets in unserer unvollkommenen, einheitlichen Natur justiert und im gesellschaftlich-kulturellen Zusammenhang neu austradiert werden müssen.
Für unsere individuelle Entwicklung zum Menschsein gehört daher auch,
jede Überbetonung, Vereinseitigung, oder Ausfall an Kräften und Bewegungsimpulsen bewusst zu machen und mehr Reife und Menschlichkeit anzustreben. Wird unsere erste Natur zu sehr gestört von kollektiven, gesellschaftlichen und erzieherischen Maßstäben, wird sehr wahrscheinlich die Überfremdung und Diskrepanz zwischen unserer primären und zweiten Natur uns krank machen.
Beschwerden, egal welcher Natur, sind immer ein Zeichen für ein Defizit zwischen Fülle und Leere. Wenn etwas zu viel auf uns einwirkt, verstärken sich die Beschwerden in der Maximal/Hochphase, wenn etwas zu wenig wirkt, verstärken sich die Beschwerden in der Tief/Minimalphase. Fülle und Leere geben uns eine symbolische Kraft, da wir sie analog wahrnehmen und jeweils in die eine oder andere Richtung lenken können.
Die Herausforderung, die wir heute in unserer westlichen Welt haben,
liegt eindeutig darin, die Überfülle gegenüber der Leere in seine natürliche Balance zu bringen. Hierzu können drei simple Fragen sehr wegweisend sein. Auf materieller Ebene bezieht sich die Frage auf das, was wirklich befriedigend und erfüllend ist.
Auf geistiger Ebene bezieht sich die Frage auf das, was jetzt sinnvoll wäre und was nicht. Und auf seelischer Ebene steht immer die Frage nach dem, was ich tief in mir fühle und was mich tief erfüllt. Und es lässt sich auch vom Konkreten auf etwas Allgemeingültiges schließen. Das was für Körperarbeit und Berührung gilt, gilt auch für gesellschaftliche Anforderungen: nämlich nah am Menschen zu sein, mit dem Ziel für mehr Reife, Bewusstheit und Weisheit.
26.04.2024
Maha Kama
Entspannungstherapeutin, Shiatsu-Praktikerin, Coach
www.sensual-entspannung.de
ist Entspannungstherapeutin, Shiatsupraktikerin, Coach und Autorin.
In ihrer Jugend war sie aktive Leistungssportlerin. Durch eigene gesundheitliche Probleme begannen sich ihre Themen wie Stress, Burnout, Psychosomatik und auch der berufliche Wunsch zu entwickeln, Menschen durch Körperarbeit zu unterstützen.
Nach vielen Jahren der Erfahrung mit Körperarbeit hat sie ihr eigenes Konzept Sensual Balance entwickelt.
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