Ein Leben für die Innigkeit
Fast jeder kennt sie – Videos und Bilder, die zur Selbstverwirklichung und zum Abenteuer Leben aufrufen. “Schaue dir dieses Video an und dein Leben ist für immer verändert” ist eine Wortschattierung der Titel mancher Motivationsreden, neusten Channelings oder astrologischen Voraussagen. Doch auch in der emotionalen Heilungsszene ist ein Magnetismus mit kurzen, aufklärenden Videos entstanden.
Man solle sich nicht zurückhalten von Glaubenssätzen und gesellschaftlichen Ideen, emotionalen Wunden und Kindheitsprägungen oder unauthentischen Zielen und Vorhaben. Es gäbe ein anderes Leben jenseits des Funktionierens und Erreichens kleiner moderner Lebensträume. Es würden große Veränderungen auf uns warten und die Gelegenheit sollte nun nicht ungenutzt bleiben.
Dabei sind die Worte zugleich an ein Du als auch an alle gerichtet. Mit der direkten Du-Ansprache wirken sie sehr persönlich und genau an Dich gerichtet. Gleichzeitig spannen sie einen Bogen zur universellen Zugänglichkeit. Jeder könne dies, jeder hätte diese Möglichkeit – auch du (besonders du, denn ohne Resonanzprinzip hätte dieses Video ja nicht zu Dir gefunden)!
Ja, du müsstest nur an dich glauben und deinen Traum über den Verstand stellen, den mutigen Schritt wagen. Die imposanten Bergbilder, berauschend klatschende Zuhörerschaft oder monumentale Musik, die dazu im Hintergrund abgespielt wird, wirken mitreißend und Hoffnung gebend. Manche Videos sind intelligenter aufgebaut und nutzen differenziertere oder sogar wissenschaftliche Sprache. Die Quintessenz bleibt jedoch die gleiche. Wenn du die Arbeit (sei sie auch etwas herausfordernd) machst, bekommst du, was du wirklich willst und bist – ein phantastisches Leben.
Weisheit in Kinderhänden
Ich beobachte ein Familienmitglied. Es berichtet mir mal wieder von solch einem Video und ist ganz erfreut über die Möglichkeiten, die sich jetzt zeigen würden. Die Augen blitzen leuchtend auf. Ich fühle mich unwohl. Jetzt spitze sich die Energie zu und die Entwicklung würde rasend zunehmen. Ich solle es mir doch auch mal anschauen, würde mir sicherlich helfen, da ich an den gleichen Gefühlen und Fragen doch schon einige Monate herumkaue.
Ich werfe nur einen kurzen Blick auf das Video. Nachdem ein generelles, schnelles Erfolgsrezept formuliert wird, schalte ich ab. Ich fühle mich ganz angewidert und in meinem Herzen meldet sich ein Schmerz.
Ist das die zwischenmenschliche Konversation, die die neue spirituelle Kultur hervorbringt? Genügend schnelle, spirituelle Floskeln habe ich als Antwort auf reale Lebenserfahrungen gegeben und bekommen, um nicht mehr weiterhin unbemerkt darüber hinwegzugehen. Auf meine Frage, wie die Person selbst das alles aus den Videos umsetzt, bricht das Gespräch abrupt ab. Nach der Interaktion frage ich mich, was sich mir dadurch gerade zeigt.
Mit einem unangenehmen Schauer fällt mir die Oberflächlichkeit und Unreife, die sich mit spirituellen Aphorismen vermischt, auf. Inflationär taucht seit ein paar Jahrzehnten spirituelles Wissen auf und fällt dabei teilweise in die Kinderhände des modernen Westens, welche Weisheit und Mystik wie ein weiteres Konsumprodukt halten und dabei das Potential des Wissens als auch die verheerende Tragweite dieses spirituellen Konsums verkennen.
So vermengt sich universelle Weisheit mit kulturellen Verwirrungen. Was augenscheinlich nach einem neuen Weg aussieht, spricht energetisch die gleiche Sprache. Deswegen ist es so mitreißend. Es ist die Komfortzone neu möbliert.
Die Hoffnung auf etwas Neues, Nahbares und Erlösendes wird eröffnet, während die energetische Frequenz beim Altbekannten bleibt. Der Ausruf “alle können ihr wahres Selbst leben” wird genauso schnell mal zwischendurch auf dem Handy oder abends zum Entspannen angeschaut, wie die Kriegsnachrichten und die Urlaubsposts im virtuellen Freundeskreis. Hier rein, da raus.
Der Verstand feuert ab. Doch das Herz bleibt unberührt unter dem flackernden Bildschirm aufreibender und reizender Bilder. Schlussendlich ist es nicht mehr als ein kurzer digitaler Kick, der mehr Ablenkung als Inspiration ist und keinen Weg in die Verkörperung findet. Eine Ablenkung von unbewussten Wunden, ungelösten Konflikten und unbekannten Zusammenhängen zwischen den Fragmenten eines als uninteressant erklärten Lebens. Die Hoffnung auf etwas fernes Anderes außerhalb der eigenen Lebensrealität wird aufrechterhalten und dabei die eigene Lebenspräsenz verneint.
Das spirituelle Ego ist in der Massenkultur angekommen. Ich sehe eine geschichtliche Zeitlinie vor meinem inneren Auge. Die egozentrierte, kapitalistische Ausbeutung hat sich vom Körper im 19. Jahrhundert über die mentalen und emotionalen Fähigkeiten im 20. Jahrhundert seinen Weg zum Geist im 21. Jahrhundert gebahnt.
Wo vor 170 Jahren noch das materielle Glück durch harte Fabrikarbeit und Unternehmertum erträumt wurde, soll heute Persönlichkeitsentwicklung und Selbstverwirklichung diesen Job tun. Innere Arbeit um in der manifestierten Welt das Glück, seien es erfüllende Beziehungen oder finanzielle Fülle, zu erfahren. Ein spiritueller Burn-out ist vorprogrammiert.
Mir wird ganz mulmig zu Mute und meine Gedanken beginnen sich zwischen den Verbindungen zu überschlagen. Eine größere seelische Korruption ist kaum noch vorstellbar…Mit dem Anstieg vom Potential des Erwachens nimmt ebenso das Potential der Versuchung und Verwirrung zu.
Leistung oder Zuwendung?
Mit der Faszienrolle bearbeite ich meine Beine. Auf und ab rollend auf allen Seiten öffnen sich die Energiebahnen unserer menschlichen Wurzeln.
Ich will wieder auf den Boden der nüchternen Tatsachen kommen und der Traumwelt zukünftiger schöner Leben entkommen. Ich entscheide mich willentlich dem Schmerz der Realität entgegenzugehen, statt mir ein Leben auszudenken und ihm hinterherzujagen. Ganz praktisch heißt das für mich auf der Faszienrolle meine Beine von Taubheit zu befreien. Den Höllenschmerz, der zuerst aufflammt, begrüße ich mit weit aufgerissenen Augen, Grimassen im Gesicht und lauten Tönen. Statt dem bekannten Mechanismus “Augen zu und durch (bzw. drüberhinweg)”, gehe ich den mystisch-somatischen Weg “Augen auf und mittenrein”.
Auf dem Rücken liegend spüre ich meine Beine nach. Feine Vibrationen schlängeln sich durch meinen Körper und eine zarte Rohheit um mein Herz tritt in meinem Bewusstsein einen Schritt vor. Die Wurzeln und das Herz haben eine besondere Verbindung. Mich hat der Aufruf nach Schnelligkeit aus dem Gespräch getroffen. Es hallt nach. Dort wo ich am meisten Mitgefühl und Unterstützung brauchte, erlebe ich kurzlebige spirituelle Abfertigung. Fließbandarbeit auf dem Meditationskissen, raunt eine grimmige Stimme in mir. Dahinter spüre ich die Verletzung, die der Gedanke von Heilung und Selbstverwirklichung als schnelle Lösung und Leistung zurücklässt, und den Ruf tieferer Zuwendung.
Lebenslange Prozesse
Dazu braucht es keine Motivationsvideos. Viele Rennen durch eine unbewusste Panik getrieben in die spirituelle Heilungsszene hinein.
Natürlich erhoffen wir uns schnelle Lösungen und Linderung. Doch nach einer gewissen Zeit wird deutlich, dass genau dies der springende Punkt ist. Wahre Spiritualität und Heilung verlangt ein radikales, neues Denken, Fühlen und Handeln, welche auf Liebe beruhen. Dies zu erkennen ist ein enormer Prozess.
Dies in seiner wahren Bedeutung zu erforschen und zu begreifen ist ein weiterer Prozess. Und dies dann lebendig zu verkörpern und alltäglich zu leben ist für alle nicht vollrealisierten Meister ein lebenslanger Weg. Das gesamte Wesen richtet sich neu aus. Krisen können mehrere Jahre gehen und dunkle Nächte der Seele, in denen sich höllische Abgründe offenbaren, tauchen immer wieder auf.
All die aufkommenden Erkenntnisse, Wahrheiten und Energien brauchen Zeit zur Verdauung und Integration. Dieser Wandlungsprozess ist an vielen Stellen höchst vulnerabel und stetig mit Behutsamkeit zu betrachten. Nicht weil Seelen kaputt gehen können, wenn wir einen groben Fehler machen, sondern weil der Prozess alle Aufmerksamkeit braucht.
Es geht darum lieben zu lernen, den Kontakt zur wahren Lebensenergie zu finden und zu kultivieren. Es geht um ein Kennenlernen des Selbstes, einen authentischen Dialog mit dem Leben und ehrliche, vergebende Selbstbetrachtung.
Die Gedanken umhüllen mein Herz warm und neue Kraft steigt in mir auf. Mein Leben muss nicht phantastisch sein, um lebenswert zu werden. Ja, vielmehr ist es das Gegenteil. Erst wenn die Phantasie endet, erkenne ich den Wert des Lebens, was schon da war bevor ich mich ihm zuwandte. Das Leben kann geliebt werden, wie es sich mir zeigt, und die Erfahrungen durchlebt, die in mir auftauchen.
Die Möglichkeit dieser Radikalität, dieses bedingungslose und selbstbestätigende Ja für den Weg zum wahren Leben unabhängig von den Umständen, lässt das Leben wunder-voll werden. Ich bleibe bei meiner langsamen Selbstentdeckung ohne geniale Vorweise des Erfolgs und nehme mir vor das Leben der Innigkeit mit ihm zu widmen.
Mit diesem Schwung stehe ich von der Matte auf, lege die Faszienrolle zurück ins Fach und lebe weiter.
16.07.2024
Sara Gnanzou
https://tiefbewegtblog.wordpress.com/
Die Sehnsucht nach Lebendigkeit führte Sara Gnanzou zunächst zu Reisen durch die Welt, einem interdisziplinären Philosophiestudium und Tätigkeiten im Beratungs- und Choachingbereich. Seit 2020 widmet sie sich der spirituellen Lebensforschung. In Ihre Arbeit fließen neben tantrischem Wissen und westlicher Philosophie auch die Körper- und Traumaforschung mit ein. Durch das Teilen ihrer Forschungserkundungen durch Wort und Bild möchte sie unterstützend dazu inspirieren, das eigene Sein zu erforschen und die Lebendigkeit erblühen zu lassen.
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