Bewusstwerdung und spirituelle Selbstbilder
Bewusstwerdung – egal ob Ziel, Ideal, Wunsch oder Zen-Märchen es wird immer im positiven Licht dargestellt. Bewusster ist besser! Selbst im Mainstream abseits von Mantrasingen, Sharingkreisen und Meditationszentren wird dieses Motto verstanden. Bewusstheit für den Klimawandel, Bewusstheit für globale Krisen, Bewusstheit über Informationskriege…die Liste worüber man sich derzeit alles bewusst werden soll, kann schier endlos erscheinen. Zwar kann die allgemeine Bevölkerung nicht unbedingt praktisch etwas mit der Inneren Arbeit anfangen oder persönliches Interesse geht damit nicht einher, doch fernab direkter Interaktion wird es trotzdem meist als löblich, besonders und erstrebenswert angesehen.
Manche identifizieren sich freudig mit den Bewusstwerden, obwohl ihre Handlungen über gute Intentionen, mit dem Rauchen aufzuhören oder zweimal die Woche zum Vinyasa-Yoga zu gehen, nicht hinausgeht. Es ist Mode sich etwas “bewusst” zu sein, versuchen “bewusst zu leben” und mit der Berufung die Bewusstwerdung bewusst auszubreiten. Vegane Nahrung, kein Plastik benutzen oder den Tag mit einer Praxis starten gehören fast schon zum spirituellen Etiquette.
“Auf dem Bewusstseinsweg zu sein” ist durch einen inflationären Gebrauch zu einem entwerteten Klischeé geworden. Es hat in der spirituellen Szene sozialen Status erreicht, insbesondere in Kombination mit einer leidvollen Erfahrung, dass die Eltern, die Partnerin oder schlichtweg “die anderen” nicht den Weg gehen. Die Bewussten und die Noch-unbewussten, die auf dem Weg und die am Egoangehafteten, die Matrix-Aussteiger und die Nachrichtengucker…Trennung mit dem sicheren Gefühl, Gott sei Dank schon den Weckruf vernommen zu haben und zu der entwickelteren Seite zu gehören. Heilige Rufe für die Selbstermächtigung und Selbsterkenntnis – welche irrsinniger Weise ziemlich viel Zustimmung und Anerkennung von anderen bedürfen und kleine Inseln sicheren Daseins vor der Dunkelheit der Welt brauchen.
Hinweis von einem Meister
Ein Seminar taucht in meiner Erinnerung auf. Wir beschäftigen uns mit vedischen Mantren aus alten Palmenblättern, uralte Technologien der Bewusstwerdung. Die Seminarleiterin bringt immer wieder Erlebnisse mit ihrem verehrten indischen Meister lebhaft mit ein. An einem Punkt spricht sie an, dass er sagte, dass der spirituelle Weg mit einem direkten Kontakt mit der göttlichen Mutter beginnt. In der christlichen Sprache würde sich dies in den Heiligen Geist und in der modernen, westlichen Psycho-Spiritualität in die Lebenskraft übersetzen. Also wenn der Heilige Geist durch einen fährt, beginnt die Reise. Es bleibt eine kleine Randnotiz für die Seminarleiterin und der Fokus wechselt zur Aussprache der Mantren. Für mich ist ein größerer Schlag, der mich unerwartet trifft. Was soll das heißen? Was mache ich denn jetzt gerade? Das erleben doch nur wenige! Über die Monate und Jahre wirkte es nach. Was mich zuerst schockartig mit meiner Unbewusstheit konfrontiert, entwickelte sich zu einem Heilmittel. Ein Heilmittel für meine spirituelle Arroganz, eine Erlösung für schmerzhafte Selbstüberschätzung.
Bis zu diesem Zeitpunkt habe ich mich, ohne es zu merken, mit den Bewusstwerdenden identifiziert. Ich wollte möglichst nur bewusste Menschen um mich haben, alles Niederschwingende vermeiden und andere überzeugen, dass der Weg der Weg ist. Ich schanzte mich in sichere, bewusste Räume – für die ich von Menschen, die noch so sehr in der Welt verankert sind, benieden wurde. Ich vergaß den logischen doch sehr entscheidenden Fakt, dass Bewusstwerdung nur nötig ist, wenn man unbewusst ist.
Unbewusstheit im Spiegel der Welt
Plötzlich sitze ich meiner Unbewusstheit unleugbar gegenüber. Es dämmert mir. Ich war dem Gedanken erlegen, dass ich zu den Bewussten gehöre, weil ich Bewusstseinsarbeit mache. Doch ist es genau entgegengesetzt: Ich sehne mich nach Bewusstsein, weil die Unbewusstheit in mir vorherrscht. Was so offensichtlich beim Lesen erscheinen kann, kann in der Selbsterforschung gut umgangen werden. Das Ausmaß ist verehrend. Eine “Spiritualität” ist entstanden, die vielmehr den Schatten statt Bewusstwerdung kultiviert. Alles, was nicht in das spirituelle Selbstbild des Bewussten und des bewussten Lebens passt, wird ausgeklammert und ins Dunkle gestellt. Als Projektion kommt das Unbewusste nun mit doppelter Wucht von Außen auf “die Bewussten” zu. Die Klage, Umgehung und Abwertung gegenüber der unbewussten Kulturwelt spiegeln die Beziehung zu eigenen unbewussten Anteilen.
Dieser spirituelle Schatten wird zu einem unüberwindbaren Hindernis, der die wirkliche Entwicklung des Bewusstseins verhindert. Vegane Nahrung ist eine Lebensstilentscheidung und kein Indiz für bewusstes Leben. Plastikverringerung ist eine ökologische Maßnahme und keine Voraussetzung für spirituelle Entwicklung. Eine tägliche Praxis kann der Bewusstwerdung helfen, ebenso wie der Unbewusstbleibung. Die Intention und die Quelle aus der agiert wird, spielt die wesentlichere Rolle.
Spirituelle Abwehrmechanismen
So sehe ich nun viele Menschen, die sich im Kreis drehen, eine wachsende Frustration und Herzschmerz. Irgendwie gibt es Veränderungen und ja die Allergien sind geheilt sowie das innere Kind angesprochen. Doch bei genauerer Betrachtung bleibt eine offene Frage, bleibt das Suchen und die lauten Parolen, den Weg gefunden zu haben, erfüllen sich nicht. Oder das Leben im Schatten bricht mit Vehemenz hervor und zerschlägt wie eine böse Überraschung die spirituellen Selbstbilder. Es ist ein gutes Fundament für eine Krise, die entweder zur Ausnüchterung, Demut und Erkenntnis führt oder zur Abwendung und Verbitterung.
Wirkliche Bewusstwerdung bedarf der radikalen Zuwendung zum Unbewussten, Ungespürten und Ungelebten – und das ist ziemlich groß. Alle authentischen spirituellen Pfade sind darauf ausgerichtet, das Unbewusste bewusst werden zu lassen. Solange ein verurteilender Blick auf die Unbewussten und Negativen ausgelebt wird, liegt eine Projizierung der eigenen Unbewusstheit vor. Es ist die Angst vor den tiefen des Unbewussten, die Angst vor der eigenen Bewusstwerdung, die eine elitäre, unreflektierte und oberflächliche Spiritualität hervorbringt. Während einer Auseinandersetzung mit spirituellen Fragen im Tagesbewusstsein stattfindet, bluten unbemerkt tiefere Wesensanteile im Schatten. Spirituelle Selbstbilder sind somit ein neuer Abwehrmechanismus.
Die Definition des Weges
Ist es übertrieben den Beginn des spirituellen Weges auf den Moment der Selbsterkenntnis zu legen? Ich denke nicht. Bei weitem habe ich nicht die innere Weitsicht aus der eigenen Erfahrung darüber zu sprechen. Doch diese Einordung hat einen praktischen Wert.
Viele verstehen den spirituellen Weg als den Weg der Bewusstwerdung. Der indische Meister gibt eine andere Definition. Er erklärt den spirituellen Weg als den Weg, den ausschließlich der höchste Geist führt. Er beginnt, wenn dieser höchste, reine Geist die Lebensführung übernimmt. Es ist keine Bewusstwerdung mehr, sondern ein Bewusstsein. Der spirituelle Weg in diesem Sinne kann als ein Leben in vollkommener Hingabe an das Göttliche beschrieben werden. Der Mensch ist zu einem Werkzeug Gottes geworden und der eigene Wille ist ganz im Willen Gottes aufgegangen. Die meisten geben offen zu, dass dies nicht der Fall bei ihnen ist. Und wenige, die sich an diesem Entwicklungspunkt sehen und es doch nicht sind, sind die selbsternannten Meister, die eher eine Gurufalle darstellen als hilfreiche Wegweiser.
Der Weg der Bewusstwerdung ist der Vorbereitungskurs für den spirituellen Weg. Es ist die Zeit des Lernens, der Reinigung und der Dekonditionierung. Das Energiesystem wird erweckt und erweitert sich, um den Starkstrom der eigentlichen Erkenntnis gewachsen zu sein. Der Geist wird gereinigt, damit das Erwachen nicht in den Wahn und die Psychose führt. Qualitäten werden ausgebildet, Unterscheidungskraft trainiert. Wenn der spirituelle Weg das Bergsteigen ist, dann ist die Bewusstwerdung mit dem Kennenlernen und Ausprobieren mit dem Equipment und dem Ausdauertraining beschäftigt. Tagestouren und Wochenendtrips, doch noch nicht der große Anstieg.
Heilsames Lachen und Genießen
Auf mich wirkt dies alles beruhigend. Der Stress, möglichst bewusst zu sein, fällt auf und ab. Die Themen, die dahinterstanden, können sichtbar und gehalten werden. Bewusstwerdung ist weder ein moralischer Imperativ noch ein Versprechen auf ein anderes Leben. Es geschieht nicht über Nacht und auch nicht unbedingt in einer Inkarnation.
Viele Menschen in Coachingssessions mit mir wundern sich über ihre Stagnation und Scheitern, während sie davon überzeugt sind, dass sie schon so viel gemacht haben und spirituell weit entwickelt sind. Sie haben den Mut zu fragen, was der wahre Grund ist. Wir haben Angst in die Tiefen unseres Schattens zu schauen und uns in all diesen Erfahrungsräumen zu erkennen, sonst wären wir bereits erleuchtet und geheilt. Seien wir doch ehrlich damit, anstatt unsere falschen Identitäten zu preisen. Vielleicht können wir dann auch mal über all die Irrungen und Wirrungen lachen, und die Bewusstwerdung mehr genießen.
15.12.2024
Sara Gnanzou
https://tiefbewegtblog.wordpress.com/
Die Sehnsucht nach Lebendigkeit führte Sara Gnanzou zunächst zu Reisen durch die Welt, einem interdisziplinären Philosophiestudium und Tätigkeiten im Beratungs- und Choachingbereich. Seit 2020 widmet sie sich der spirituellen Lebensforschung. In Ihre Arbeit fließen neben tantrischem Wissen und westlicher Philosophie auch die Körper- und Traumaforschung mit ein. Durch das Teilen ihrer Forschungserkundungen durch Wort und Bild möchte sie unterstützend dazu inspirieren, das eigene Sein zu erforschen und die Lebendigkeit erblühen zu lassen.
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