Man kann nur lieben, was man kennt.
Man kann nur lieben, was man kennt. Vielleicht bin ich deshalb nach vielen Jahren, in denen ich in Hamburg und Berlin gelebt habe, in die Natur zurückgekehrt – in ein kleines Blockhaus im Wald. Die Natur habe ich als Kind kennengelernt und die Liebe zu ihr hat mich nie verlassen, aber ich erlaubte zu viele Jahre, dass sie in den Hintergrund gedrängt wurde.
Meine Kindheit in einer Kleinstadt war geprägt vom Herumstreifen in der Natur.
Die Sorgen, die heute viele Eltern bewegt, ihre Kinder fördernd am Gängelband zu führen, waren in meiner Kinder- und Jugendzeit wenig präsent.
So durfte ich Nachmittage lang durch die nahen Wälder stromern, über die Feldwege laufen, soweit ich wollte, solange ich nur früh abends wieder zu Hause war.
Ich habe mich an Teiche und Bäche gesetzt, um Frösche und Stichlinge zu beobachten und bin nebenbei auf die kleinere Welt der Wasserläufer, -spinnen und -flöhe gestoßen.
Die Zeit gehörte mir und was ich tat, war selbstbestimmt und ergab sich aus dem Zusammenspiel mit den Erscheinungen der Natur im Lauf der Jahreszeiten. Ich habe Kaulquappen gefangen und junge Vögel aufgepäppelt, im Garten Hühner gehalten und Kaninchen. Und natürlich hatte ich ein eigenes Beet mit Blumen und Pflanzen, die ich geschenkt bekam oder aus Ablegern zog.
Meine Eltern haben sich kaum eingemischt und daher konnte ich eine sehr persönliche Beziehung zu meiner lebendigen Umwelt aufbauen. Ich fühlte mich frei und war unendlich neugierig, beseelt von dem einen Wunsch, diese Welt voller Wunder, zu erkunden.
Die Ahnung von etwas Großem begleitete mich und die Antwort, die ich unbewusst suchte, konnte überall versteckt sein: im Wasser, unter einem Stein, auf der Wiese oder in den Kronen der Bäume. Nicht nur die Märchen, die ich als Kind viel las, verraten es uns: Hilfe in einer schwierigen Lebenslage kommt nur scheinbar von irgendwoher, tatsächlich aber ist sie folgerichtiger Dank für eine vorausgegangene gute Tat des Helden oder der Heldin.
Es hängt alles zusammen und nichts ist ohne das andere denkbar.
Ich bin Teil eines Plans, den ich nicht kenne und nicht verstehe, der aber alles zusammen hält und durch seine Facetten Botschaften aussendet, die ich entschlüsseln kann. Sie zu begreifen treibt mich noch heute an und macht mein Leben sinnvoll.
Das Menschengemachte ist manchmal schön, oft aber auch oberflächlich oder schädlich. Die uns zur Geburt geschenkte Welt, nennen wir sie einmal Gottes Welt, ohne das Wort Gott zu eng zu fassen, hat Tiefe und Schönheit und enttäuscht mich nie.
Man kann nur lieben, was man kennt. Deshalb bin ich für eine Kindheit dankbar, die mir diese innige Verbindung mit dem, was unsere natürlichen und geistigen Wurzeln sind, ermöglicht hat. Und ich frage mich, was Kinder heute, kaum ein, zwei Generationen später noch mitnehmen in ihr Erwachsenenleben.
Als Container-Kinder, wie sie schon genannt werden, deren Bewegungsradius seit den 70iger Jahren um 90 % abgenommen hat, erleben sie jedenfalls eine völlig andere Welt als ich – eine Innenraum-Welt, umgeben von Dingen, die Menschen für sie zu ihrem Vergnügen oder zu ihrer Förderung hergestellt haben. Die meisten stehen unter einem Zeitdiktat und das Wort Freiheit erzeugt kein Gefühl mehr in ihnen, weil sie sie nicht kennen.
Ich habe in Hamburg und Berlin jahrelang mit Kindern gearbeitet und dabei festgestellt, dass Langeweile, also lange zu verweilen, um zu schauen, ob irgendetwas aus einem heraus drängt, das umgesetzt werden will, nicht mehr ausgehalten wird. Gewohnt, Anleitung und Anweisung zu erhalten und immer im Hinterkopf, dass die Zeit drängt, tun sie sich sehr schwer, Leerräume zu ertragen. Fremdbestimmt leben sie in einem eng geschnürten Korsett der Möglichkeiten und da ihre Wünsche und Sehnsüchte auf die Dinge, auf das Habenwollen, gerichtet sind, statt auf die Freiheit des Tuns, gibt es nur wenige Gründe sich dieses Korsetts zu entledigen.
Die Schule bildet sie, Eltern statten sie mit Moralbegriffen aus, aber am eigenen Leib, im freien Spiel der Kräfte in einer natürlichen Umwelt, werden diese Werte nicht mehr mit dem Körper und der Seele verbunden. Sie bleiben Kopfgeburten und steril.
Entbehrlich für moderne Kinder scheinbar auch die Ahnung von etwas Größerem, das uns in einen gemeinsamen Gedanken, in einen einzigartigen Plan einspinnt. Denn für die Entwicklung einer wie auch immer gearteten spirituellen Haltung ist Naturerfahrung kaum verzichtbar. Denn letztlich kann nur sie über uns hinaus weisen. Menschliches, Menschengemachtes hält unsere Kinder auf menschlichem Niveau. Um über sich hinauszuwachsen bedarf es einer Richtung – nach “oben”. Und die findet sich nicht am Computer, die zeigt sich in den ungelösten Rätseln der Natur. Oder wie Goethe es ausdrückt: „Je näher wir der Natur sind, je näher fühlen wir uns der Gottheit.“
Das klingt alles pessimistisch und so soll es auch verstanden werden, damit der Status quo aufrüttelt, aber für Optimismus ist ebenso viel Platz, denn mit jedem Menschen entsteht auch eine neue Hoffnung. Der Mensch ist wandelbar und wunderbar und hat die Macht, alles zu tun.
In unserem kleinen Blockhaus im Wald habe ich ein altes Lesebuch der 4. Klasse von 1958 gefunden.
Es heißt “Freude und Frohsinn” und es beginnt mit den Worten: “Lasst unsere Kinder fröhlich sein, das frohe Kind wird stets das bessere sein!” (Pestalozzi) Und dann geht es weiter mit einem Volkslied: “Wir fahren in die Welt, aus grauen Städten und Mauern ziehn wir in Wald und Feld, wer bleibt, der muss versauern, wir fahren in die Welt. Der Wald ist unsere Liebe, der Himmel unser Zelt …”.
Was für eine schöne Botschaft wusste man damals noch Eltern und Kindern zu vermitteln.
In diesem Sinne, lassen wir unsere Kinder wieder in die Natur gehen, lassen wir sie fröhlich sein und stecken wir sie nicht mit unseren Zukunftssorgen an, haben wir Vertrauen in sie und ihre Zukunft. Lassen wir in ihnen die Sehnsucht wachsen nach einer besseren Welt, nach Freiheit und nach Fröhlichkeit. Unverzagt wird ihnen alles möglich sein.
www.waldwandel.com
www.shop.neueerde.de/…/Waldwandel.html
Anja Mertens
zog 2015 in ein kleines Blockhaus im Wald in der Lüneburger Heide, wo sie mit Mann und Hund lebt. Dort entstand ihr Buch “Waldwandel”, das den dort gelebten Alltag beschreibt und versucht, eine ganz persönliche Antwort auf existentielle Lebensfragen des Menschen in der modernen Gesellschaft zu finden.
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