Tatsachen verdrehen
Immer wieder verzweifeln manche von uns daran, dass Mitmenschen oder gar ihre Partner Tatsachen verdrehen würden. Bei Streitgesprächen ist das ein gegenseitiger Vorwurf, an dem sich die Kontrahenten abarbeiten. Vor allem aber schwingt bei diesem Vorwurf immer mit, dass es sich um ein bewusstes Verdrehen von Tatsachen handelt.
Egal in welcher Intensität – jeder von uns dürfte diesen Vorwurf schon einmal im Streit ausgesprochen haben oder aber über sich gehört haben.
Marotte oder Persönlichkeitsstörung
Doch geht man einmal davon aus, dass die Menschen, denen das Verdrehen von Tatsachen unterstellt wird, nicht bewusst lügen oder bewusst nur die halbe Wahrheit sagen, dann verdrehen sie die Tatsachen nicht, sondern interpretieren sie nur anders als wir es tun.
Ist „anders interpretieren“ gleich „falsch interpretieren“? Die meisten von uns werden wohl den Kopf nicken. Klar, was sonst?!
Was – glaubst du – passiert bei den Menschen im Kopf, die angeblich die Tatsachen verdrehen? Sind sie partiell oder völlig geisteskrank? Intrigant mit einer Prise Böswilligkeit? Was ist mit deinem Partner: Will er dir im Streit nicht recht geben, aus Trotz, und verdreht er eben deshalb die Tatsachen? Seine Masche halt. Seine Streittaktik.
Hand auf Herz: Verdrehst du Tatsachen?
Wahrscheinlich nicht. Keiner von uns verdreht Tatsachen, es sei denn, er lügt bewusst. Aber Lügen meint etwas anderes als Tatsachen verdrehen. Auch wenn im Furor des Streits kein Unterschied gemacht wird.
Interessanterweise ist die Bewertung des Sachverhalts „Verdrehte Tatsachen“ abhängig von der Beziehung, die man zu der Person hat, die die Tatsachen verdreht hat.
Je näher uns die Menschen stehen, desto eher können wir das Verdrehen von Tatsachen als Streittaktik oder harmlose Marotte abtun. Je fremder uns die Menschen sind und wir auch mit seinen sonstigen Meinungen nicht konform sind, desto eher halten wir diese Art zu denken für eine Persönlichkeitsstörung.
Tatsachen werden Geschichten
Wir selbst fühlen uns frei davon, Tatsachen zu verdrehen. Haben wir auch gar nicht nötig, da ja unser realistischer Blick auf das Weltgeschehen überzeugend genug sein sollte. Was aber ist ein realistischer Blick auf die Welt?
Es gibt keinen realistischen Blick. Auch dann, wenn sich noch so viele Menschen – vor allem Männer – zum Gralshüter der Realität erklären. Alles, was wir wahrnehmen, wird sofort einer subjektiven Interpretation unterzogen. Es wird bewertet in gut oder schlecht für uns, in bedeutungslos oder wichtig für uns, in nützlich oder überflüssig für uns. Wir haben unendlich viele Kategorien, in die wir alle Geschehnisse um uns herum (und auch die eigenen Gedanken: „Ach, ich bin so dumm!“) einsortieren können.
Ein Beispiel:
Wir sehen einen Mann an einer Bushaltestelle stehen. Das ist die einzige Tatsache der Situation.
Sofern uns der Mann auffällt, machen wir aus dieser Tatsache eine Geschichte, die so beginnt: Er wartet auf einen Bus (selbst im „Warten“ steckt schon eine Geschichte, denn wir verbinden sein Stehen mit seiner Zukunft). Oder wir denken vielleicht: Der arme Kerl hat kein Auto.
Jemand anderes denkt vielleicht: „Was für ein Vorbild: er nutzt die öffentlichen Verkehrsmittel.“ Wieder ein anderer glaubt zu wissen: „Der hat seinen Führerschein verloren und muss nun mit dem Bus zur Arbeit.“
Hat irgendeiner der drei Beobachter irgendwelche Tatsachen verdreht, wenn die einzige Tatsache der Situation die ist, dass der Mann an einer Bushaltestelle steht. Tatsachen sind in der Regel der allerkleinste Teil einer Situation oder eines Geschehens, was mit dicker Farbe übertüncht wird von unseren Urteilen und Erklärungen, von unseren Einstellungen und Glaubenssätzen. Auf gut Deutsch: Von unserem Verstand.
Erklärungsnot und Rechtfertigungsnotstand
In den 1960er Jahren gab es in den USA folgenden psychologischen Versuch. Die Probanden wurden vor „Spielautomaten“ gesetzt und sollten herausfinden, nach welchen Gesetzen oder Regeln die gezeigten Zahlen- oder Bildkombinationen der Spielautomaten zusammengesetzt wurden. Die Probanden konnten mitschreiben und hatten ausreichend Zeit, sich alles durch den Kopf gehen zu lassen.
Nach ein paar Durchläufen fanden die meisten Versuchsteilnehmer Gesetzmäßigkeiten. Aber es gab keine Übereinstimmungen untereinander. Kein gefundenes Gesetz glich den Gesetzen der anderen Probanden. Alle hatten „ihre“ Regeln gefunden.
Als nach dem Versuch den Teilnehmern erklärt wurde, dass es keine Regelmäßigkeiten geben konnte, weil die kombinierten Zahlen und Bilder durch einen Zufallsgenerator erzeugt worden waren, versuchten einige der Probanden die Versuchsleiter zu überzeugen, dass das nicht sein konnte. Sie fingen Streit an, weil ihre gefundenen Gesetzmäßigkeiten hieb- und stichfest waren.
Die Wissenschaftler haben die Ergebnisse ihrer Versuche so interpretiert, dass wir Menschen versuchen, hinter all den sichtbaren Ereignissen immer wenigsten eine Ursache steckt. Nichts passiert ohne Grund, nichts passiert ohne Ursache.
Diese Art zu denken ist nicht nur in der Wissenschaft verbreitet,
sondern auch in esoterisch-spirituellen Kreisen.
Ob Lichttherapie oder feinstoffliche Energiearbeit – der Coach ist der Initiator einer Ursache-Wirkung-Folge. Die Wünsche ans Universum sind das Lostreten einer Ursache, verbunden mit der Hoffnung, dass es auf uns zurückwirkt.
Dann, wenn wir mit unserem beschränkten Verstand die Ursache oder Ursachen für ein Ereignis gar nicht wahrnehmen können, erdenken wir sie eben. Aus einem Mann, der an einer Haltestelle wartet, wird ein armer Mann, der kein Geld für ein Auto hat. Oder der den Führerschein verloren.
Dass er an der Haltestelle eher zufällig steht, weil er auf der anderen Straßenseite etwas Interessantes beobachten möchte, liegt uns im Zusammenhang mit der Haltestelle fern. Hauptsache, wir wissen, warum er dort steht.
Interpretationen lassen sich nicht verdrehen
Aus einem Ehemann, der Tag für Tag später aus der Arbeit kommt, wird für die Ehefrau ein untreuer Ehemann mit einer heimlichen Affäre. Und sie entwickelt eine krankhafte Eifersucht.
Für einen Ehemann, dessen Frau einen VHS-Kurs am Abend belegt, ist es ein Indiz, dass er ein langweiliger Mensch ist und sie sich bald trennen wird. Diese VHS-Kurs-Anmeldung ist ein weiterer Beweis für seinen Glaubenssatz, den er schon lange unbewusst mit sich rumträgt: „Ich genüge ihr nicht!“
Wir können uns gar nicht bremsen zu interpretieren. Unser Leben ist eine einzige Rechtfertigungsorgie. Wir verfälschen nicht die Tatsachen, sondern interpretieren sie unterschiedlich. Daran ist nichts Falsches. Sondern liegt in unserer Natur, die Welt zu erklären. Auf Teufel komm raus.
Das ist das, was man als Weltkonstruktion versteht. Jeder schafft sich kreativ seine eigene Realität.
Vom Schönreden und Schlechtmachen
Keine Welt ist besser als die andere. Im Grunde genommen unterscheidet sich unsere Realität von der der Geisteskranken nur dadurch, dass wir und unsere Mitmenschen frei rumlaufen dürfen und andere Menschen, die anders ticken, in Anstalten stecken.
Die sogenannten Geisteskranken und wir, die „Geistesgesunden“, haben eine Gemeinsamkeit: Das Gefühl, dass unsere Gedanken Realität sind.
Leider streiten wir uns Tag für darum, wessen Realität die richtigere ist. In den allermeisten Beziehungs-Streitigkeiten geht’s um die Frage, wer recht hat. Die Behauptung, der Konfliktpartner würde die Tatsachen verdrehen, dient nur dazu, dem anderen die Legitimation seiner Argumente zu entwerten.
Das Schönreden und das Schlechtmachen sind zwei Seiten einer Medaille, nämlich sich seine Welt selbst zu erdenken. Und natürlich kennen wir viele Personen, die ihre Welt ähnlich erdenken wir wir. Aber das heißt nicht, dass sie realer ist. Das heißt nur, dass man dank vieler Gleichgesinnter nicht allein sind mit seinen Gedanken.
Um wieviel lebenswerter wäre die Welt, wenn es uns gelingen würde, dem anderen nicht zu unterstellen, er würde die Tatsachen verdrehen. Sondern er würde unsere Neugier wecken, wie man auch noch auf die Welt schauen kann. Und wir gleichzeitig erkennen würden, wie beschränkt wir doch sind zu glauben, die Realität, so wie wir sie konstruieren, sei die einzige.
Die Welt ist eine Kugel, die Welt ist eine Scheibe – ganz ehrlich, mir egal! Ich muss nicht recht haben. So oder so verändert es nicht meinen Alltag. Die Sonne geht morgens im Osten auf, am Abend im Westen unten. Das ist so, seit ich denken kann. Ob sich dabei die Erde um die Sonne dreht oder die Sonne um die Erde, spielt in meinem Leben keine Rolle.
Ich muss nie recht haben. Und ich habe immer recht, weil alles, was ich denke, meine Wahrheit und meine Realität ist, die mir keiner nehmen kann. Ich verdrehe nie Tatsachen, sondern interpretiere sie für mich. So wie es andere auch tun.
23.11.2020
Ekke Scholz
www.ekke-scholz.de
Ekke Scholz
Wo ich früher alles erklären und erklärt haben wollte, ist heute Ruhe. Wo ich mich früher in Machtspielchen zwischen Angriff und Verteidigung agierte, ist heute Zuhören: mir und den anderen. Wo es früher wichtig war, alles richtig zu machen und die Dinge zu richten, ist es heute wichtig die Dinge sein zu lassen, wie sie sind und wie sie werden…
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