Gefühle verletzen – das geht nicht!

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gefuehle-verletzen-blase-loveGefühle verletzen – das geht nicht!

Immer wieder hört man in Gesprächen mit Freunden, die über ihren Lebenspartner reden, dass der oder die sie verletzt habe. Oder wer hat das nicht schon einmal aus seinem eigenen Mund gehört?
Doch das ist – mit Verlaub – Unsinn: Gefühle lassen sich nicht verletzen!
Das klingt spitzfindig. Und das ist es auch, wenn ich mich da über diese sprachliche Ungenauigkeit auslasse. Schließlich weiß ich ja, wie es gemeint ist. Genauso gut könnte ich mich über die Redewendung a la „ein Gefühl wie Weihnachten“ auslassen und mich zum Affen machen.

„Peter hat der Frau total lange in die Augen geschaut. Das hat meine Gefühle total verletzt! Irgendwie!“ Irgendwie verletzt, irgendwie gekränkt, aber Genaueres weiß niemand. Tipps und Ratschläge von Freunden beziehen sich auf das vage Irgendwie.
Das ist wie ein Feuer löschen, ohne den Brandherd zu kennen. Damit ist keinem geholfen. Konkreter werden hilft mehr, nämlich das eigentliche Gefühl fühlen – dann würden wir auch merken, dass sich unsere Gefühle nicht verletzen lassen.

Gefühle

In der Umgangssprache gibt es unzählige „Gefühle“. Stress, Frust, Depression, Glück, Stolz, Ohnmacht oder Verzückung.
Im Internet kursieren Listen mit Gefühlen, über die ich mich wundere: Gefühle wie „abwesend“ oder „dürstend“ und „Abenteuerlust, Bedauern, Blockade oder Dankbarkeit“ finden sich darauf. Wozu das Ganze? Downloaden und auswendig lernen? Auf einer solchen Liste gibt es sogar das Gefühl „kein Gefühl“. Als hätte jemand den Duden abgeschrieben.
Diese Unzahl an Gefühlen verwässern den Begriff.

Gefühlsvariationen zusammenfassen

Um ein bisschen Licht in diesen undurchsichtigen Verhau von Gefühlen zu bringen, lassen sich einige „Gefühle“ wie Verärgerung, Ärger, Aggression, Empörung, Zorn, Rage oder Groll zusammenfassen und sich unter dem Begriff der „Wut“ versammeln.

Lässt sich ein Gefühl wie Wut verletzen?
Dieses Kategorisieren von Begriffen lässt sich auch bei den Variationen der Angst anwenden. Synonyme für Angst sind Bedrohung, Sorge, Furcht, Grauen, Befürchtung, Besorgnis.

Lässt sich ein Gefühl wie Angst verletzten?
Sinnähnliche Wörter für Trauer sind Schwermut, Trübsinn. Depression oder Melancholie wird sicherlich der ein oder andere von uns dazu zählen wollen. Und was finden wir bei der Freude? Verzückung, Fröhlichkeit und Heiterkeit lassen sich alle dem Gefühl der Freude zuordnen.

Am Ende lassen sich alle Gefühle besagter Listen auf vier Gefühle runterbrechen: Auf die Trauer, die Angst, die Wut und die Freude.
Was geht bei dieser Vorgehensweise verloren? Nun, die Vielfalt und Differenzierung unserer Alltagsgefühle und -empfindungen, die unser Leben so bunt machen und die Sprache so reich.

Was wird gewonnen durch das Herunterbrechen auf die Grundgefühle? Wir würden besser nachvollziehen können, was tatsächlich mit uns passiert, wenn unsere „Gefühle verletzt“ werden.

Die Grund- oder Basisgefühle

Wenn wir nach den vier Grundgefühlen „sortieren“, dann lässt sich besser erkennen, welche Aufgabe sie für uns haben. Sie sind wie kleine Lämpchen, die aufleuchten und uns sagen wollen: Da muss was verarbeitet werden! Achte darauf.

Die Trauer hilft uns zu verarbeiten, was war und verloren gegangen ist. Die Trauer hilft uns loszulassen. Sie ist eine Art Platzhalter, der das Alte langsam gehen lässt und den Boden für das Neue vorbereitet.

Die Angst hilft uns Probleme, die in der Zukunft auftauchen (könnten), durch Planung und Kontrolle zu vermeiden.
Die Wut hilft uns zu erkennen, dass im Hier und Jetzt etwas nicht stimmt und gegen unsere Vorstellungen verläuft. Sie gibt uns die nötige Kraft und Energie, uns zu wehren.
Und die Freude lässt uns unser Leben genießen. Alles ist ok.

Wie lassen sich Gefühle verletzen?

Nehmen wir beispielsweise ein Gefühl wie die Wut. Es ist ein mächtiges Gefühl, das uns im Falle von großem Unrecht ganz ausfüllt. Der Puls steigt, das Herz schlägt schneller. Die Atmung verändert sich. Die körperliche Anspannung wächst. Das ist ein körperliches Geschehen, das nur schwer unterdrückt werden kann. Und vor allem: wie will jemand von außen dieses körperliche Geschehen verletzten?

Genauso ist es mir der Angst. Keiner Mensch kann meine Angst verletzen. Wie sollte das gehen? Jemand kann meine Angst verhöhnen oder kann sie ernst nehmen – aber sie ist unangreifbar. Sie ist und bleibt, was sie ist. Sie kann aber zum Thema werden: des Hohns, der Aufmerksamkeit, des Mitgefühls.

Wenn nicht unsere Gefühle verletzt werden, was dann?

Verletzt werden nicht unsere Gefühle, sondern unsere Gedanken. Unsere Glaubenssätze und Überzeugen, was sein darf und was nicht.
Gefühle lassen sich nicht verletzten, Gedanken aber ja? Jetzt wird es immer absurder?!

Gefühle und Gedanken

Nachdem wir oben bestimmte Variationen von Gefühlen einem Hauptgefühl zugeordnet haben, können wir feststellen, dass bestimmte „Gefühle“ immer mit bestimmten Gedanken verbunden sind.
Ein Beispiel ist das Wort „Verzweiflung“. Verzweiflung ist kein Gefühl, sondern die Kombination aus „Wut“ und „Angst“ – vielleicht auch „Trauer“ – und Gedanken wie „Ich kann nichts tun!“ – „Mir sind die Hände gebunden!“ und weiteren ähnlichen Gedanken.

Bei einem Wort wie Enttäuschung, das auf den ersten Blick nach Gefühl aussieht, spielt die „Trauer“ mit und viele Erwartungen an einen Menschen oder eine Situation, die sich ganz und gar nicht nach unseren Vorstellungen entwickelt. Dementsprechend vielfältig sind die gedanklichen Überzeugungen, die sich bei der Enttäuschung mit dem Gefühl „Trauer“ paaren.
Das reicht von „Er hat sein Versprechen nicht gehalten!“ bis „Den Verlauf der Wanderung habe ich mir ganz anders vorgestellt“.

Der Stolz

Stolz“ ist auch ein Begriff, der schnell in den Topf mit den Gefühlen geworfen wird. Beim Stolz sind aber viele Gedanken und Gefühle untrennbar miteinander verbunden.

Die Gedanken sind vielleicht die Überzeugungen, dass die Heimat die beste Heimat ist, die man sich vorstellen kann. Mit den besten Menschen, den besten Tugenden. Von Gott auserwählt. Der Stolz ist die Freude, dazugehören zu dürfen. Sie beinhaltet die Wut, um sich gegen Menschen zu wehren, die diese Eigenschaften und Qualitäten in Frage stellen.

Sie beinhaltet auch die Angst, dass diese Eigenschaften gar nicht so absolut richtig sein könnten. Eine Angst, die auch genährt wird von der Ahnung, das all unsere Überzeugungen vielleicht doch nur relativ und gar nicht wahr sind. Je größer der Zweifel, desto stärker werden diese Überzeugung verteidigt.

Wenn also jemand unseren Stolz verletzt, dann nicht die Gefühle von Freude, Angst oder Wut, sondern er stellt unsere Gedanken über Größe und Macht in Frage. Unser Selbstverständnis. Unser Selbstbewusstsein. Unsere Integrität und Identität in Form von Gedanken.

Der Nutzen

Wenn wir in der Lage sind, zwischen Gefühlen und Gedanken zu unterscheiden, wenn wir sehen können, welche unserer Erwartungen, welche Glaubenssätze und Überzeugungen durch eine andere Person angekratzt oder massiv in Frage gestellt wird, können wir anders mit unserem Frust umgehen und über uns nachdenken als sich nur so pathetisch wie schwammig zu äußern: „Meine Gefühle sind verletzt worden.“

16.02.2021
Ekke Scholz
www.ekke-scholz.de

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ekke-scholz-profilEkke Scholz
Wo ich früher alles erklären und erklärt haben wollte, ist heute Ruhe. Wo ich mich früher in Machtspielchen zwischen Angriff und Verteidigung agierte, ist heute Zuhören: mir und den anderen. Wo es früher wichtig war, alles richtig zu machen und die Dinge zu richten, ist es heute wichtig die Dinge sein zu lassen, wie sie sind und wie sie werden…
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