Vergiftete Beziehung, was läuft falsch?
Toxische Beziehungen ist ein Begriff, der seit einigen Jahren immer häufiger auftaucht und vor allem in sozialen Medien fast Mode geworden ist. Aber was bedeutet das eigentlich wirklich?
Toxisch heißt giftig
Eine toxische Beziehung ist also eine vergiftete Beziehung. Aber, vergiftet wodurch?
Allgemein versteht man darunter eine Beziehung, in welcher ein Partner vom anderen missbraucht und manipuliert wird, sodass sein Selbstwertgefühl geschmälert wird. Das kann in Form von körperlicher Gewalt, ständiger Schuldzuweisung, Herabwürdigung und Ausnützung auftreten.
Mir fällt auf, dass heutzutage viele, vor allem junge Menschen, von toxischen Beziehungen reden, sobald sie sich nicht mehr wohlfühlen, sei es in der Partnerschaft oder in der Beziehung mit jemand anderem. Aus diesem Grund kommt es dann oft zu Trennungen, die vielleicht nicht nötig gewesen wären.
Warum ist das so?
Läuft da etwas falsch?
Es scheint in der heutigen Welt ein Bedürfnis nach einer perfekten Beziehung da zu sein. Darunter verstehen viele Menschen eine Beziehung, in der alles harmonisch verläuft. Der Partner, die Partnerin ist ausgeglichen, teilt alle Gefühle mit, verheimlicht nichts, hat also keine Geheimnisse und lügt nie. Außerdem ist er/sie humorvoll, verzeihend, einfühlsam, unterstützend und teilt womöglich dieselben Ansichten über die großen und kleinen Themen des Lebens. In einer Partnerschaft kommt eine gerechte Arbeitsteilung in Haushalt und, falls vorhanden, in der Kinderbetreuung noch dazu.
Traumhaft, nicht wahr?
An dieser Stelle möchte ich eine kleine Anekdote erzählen, die ich gehört habe.
Eine kleine Anekdote
Ein junger Mann verlässt sein Zuhause und begibt sich auf Reisen. Sein Ziel ist es, die ideale Frau zu finden. Nach etwa einem Jahr kehrt dieser Mann alleine wieder nach Hause zurück und alle fragen erstaunt: „Warum kommst du allein zurück? Hast du die ideale Frau nicht gefunden?“ „Doch“, antwortet der Mann, „die habe ich gefunden. Eine wundervolle Frau!“ „Und, warum ist sie nicht mit dir mitgekommen?“, fragen seine Freunde. Er antwortet: „Sie sucht den perfekten Mann“.
Tja. So ist das mit der Suche nach der perfekten Beziehung.
Wir kennen das alle: Wir streiten, wir wollen Recht haben, wir spielen beleidigt, wir manipulieren den anderen mit unseren Gefühlen und wir haben unsere Geheimnisse. Sind es nicht gerade diese Eigenschaften, die die Beziehung spannend und lebendig erhalten?
Aus meiner therapeutischen Erfahrung
kann ich sagen, dass ich viele Paare gekannt habe, in deren Beziehung heftig gestritten wurde. Schuldzuweisungen, Hassgefühle, Angst, Anschreien, Dominanz und Unterwerfung, kurzfristiges Weglaufen… das alles kam und kommt häufig vor. Angst kommt hoch, der Fluchtinstinkt greift zu. Meistens haben die Betroffenen logisch klingende Erklärungen für eine bevorstehende Trennung, denn sie befürchten, in einer toxischen Beziehung zu ersticken und halten diese für unheilbar.
Aber handelt es sich deshalb um toxische Beziehungen?
Oder sind es Beziehungen, in denen wir einen Spiegel vorgesetzt bekommen? Einen Spiegel über unsere uns meist nicht bewussten Eigenschaften?
Nehmen wir ein klassisches Beispiel
Eine schüchterne Frau, die nicht gelernt hat, sich selbst zu vertrauen und sich selbst nicht gerade für wertvoll hält, sucht unbewusst Schutz und Anerkennung bei einem starken Mann. Von diesem Mann wünscht sie sich Führung und Halt, Geborgenheit und Liebe. Sehr wahrscheinlich findet sie einen solchen Mann.
Dieser hat nicht gelernt, anderen Menschen zu vertrauen, ihre Gefühle zu respektieren. Er ist es gewohnt, seinen Willen durchzusetzen und die Kontrolle zu halten, sowohl über sich selbst als auch über andere. Er sucht unbewusst eine Frau, die ihm unterlegen ist, die er beschützen kann, die seine Autorität anerkennt.
Soweit so gut. Diese Dualität kann harmonisch funktionieren, solange beide ihre Rolle beibehalten.
Schwierig wird es dann, wenn diese Rolle plötzlich in Frage gestellt wird
Wenn sich neue Bedürfnisse zeigen. Vielleicht entsteht bei dieser Frau der Drang nach mehr Selbstständigkeit und eigene Entscheidungen treffen zu können. Oder der Mann ist es leid, für alles Verantwortung übernehmen zu müssen. Meistens entstehen diese veränderten Bedürfnisse nicht gleichzeitig bei beiden Partnern.
Und dann kracht es!
Das Neue stößt auf das Alte
Und keiner von beiden begreift, warum er/sie nicht verstanden wird.
Es hagelt Vorwürfe, Verurteilungen, Rechtfertigungen, die Fronten verhärten sich und die Kluft wird größer. Die unterlegene Frau fühlt sich verletzt, missverstanden, zu Unrecht beschuldigt, beleidigt. Der überlegene Mann fühlt sich angegriffen in seinem Stolz und gebraucht seine Macht, um seine Position zu verteidigen. Die Frau (meistens sind es die Frauen), die ihren Partner nun als grob und gemein und egoistisch verurteilt, gibt ihm die Schuld und will sich aus der „toxischen Beziehung“ retten.
Aber, woraus besteht denn dieses Gift, das aus einer Liebesbeziehung eine angeblich toxische Beziehung werden lässt?
Das Gift ist das Verurteilen eines Verhaltens
das wir an uns selbst nicht erkennen. Wir projizieren es dann auf den anderen und halten ihn für den Schuldigen.
Hier sind diese zwei Menschen aneinander geraten, weil sie plötzlich Eigenschaften am anderen sehen, die spiegelverkehrt ihre eigenen sind. Spiegelverkehrt, weil die Spiegelung nicht direkt ist, sondern umgekehrt.
Eigentlich wäre das eine wunderbare Chance, sich selbst besser kennen zu lernen.
Eine wunderbare Chance, sich selbst zu erkennen
Der Frau in diesem Beispiel könnte bewusst werden darüber, wie sehr sie sich selbst zurücknimmt, nicht sagt, was sie braucht oder was sie stört und sie könnte nun merken, wie sehr sie ihre eigenen Bedürfnisse und ihr Selbstwertgefühl unterdrückt hat. Wie gerne würde sie doch auch zu sich selbst stehen, ihre Meinung vertreten und für ihre Bedürfnisse einstehen. Aber sie getraut sich nicht, sie hat es nie gelernt. Nun könnte sie erkennen, dass sie mit ihrer unbewussten Haltung genau diese Art von Mann angezogen hat, den sie nun ablehnt.
Und auf der anderen Seite könnte der Mann in diesem Beispiel erkennen, dass er sein Bedürfnis nach Geborgenheit, nach Offenheit und herzlicher Nähe nie hatte wahrnehmen können. Er hat geglaubt, es sei seine Aufgabe, den „starken Mann“ zu spielen. Wie gern würde auch er seine Unsicherheit, seine Hilflosigkeit und Verletzlichkeit eingestehen können. Aber das getraut er sich nicht, das hat er nie gelernt. Er könnte erkennen, dass er genau mit dieser Rolle unbewusst eine Frau angezogen hat, die sich hilflos und schutzbedürftig gibt.
Dieses Beispiel ist nur eines von vielen Möglichkeiten, wie sich unsere Beziehungen gestalten. Die Art und Weise, wie wir unser angelerntes Verhalten, also unser Ego ausdrücken, ist eigentlich immer toxisch, also vergiftet von falschen Vorstellungen und Urteilen über uns selbst und andere.
Die Art und Weise, wie wir unser Ego ausdrücken, ist meistens toxisch
Die toxische Beziehung ist demzufolge die Beziehung zu uns selbst.
In Beziehung zu anderen Menschen haben wir die Chance, uns selbst besser zu sehen. Dazu braucht es allerdings eine große Portion Ehrlichkeit, sich einzugestehen, dass man vielleicht nicht so ist, wie man glaubt.
Wenn das aber gelingt, vielleicht durch Unterstützung eines Therapeuten oder einer Beratung, können wir fast jede Beziehung dazu nutzen, über uns selbst klar zu werden und zu wachsen.
Gelingt es uns, den Mechanismus der Dualität in der Beziehung zu erkennen und dass die Ursache von Problemen nie nur bei einem Teil liegt, dann haben wir bereits eine wichtige Lektion gelernt.
Erkenntnis-Gewinn
Um zum vorherigen Beispiel zurück zu kehren:
Wenn die schüchterne, sich minderwertig fühlende Frau erkennt, dass sie diesen starken und dominanten Mann an ihrer Seite unbewusst gesucht hat, kann sie neues Verständnis für sich selbst und für ihn entwickeln. Wird sie sich allmählich ihres Wertes und ihrer Fähigkeiten bewusst und lernt, für sich selbst Verantwortung zu übernehmen, braucht ihr Partner auch nicht mehr die bisherige Rolle einzunehmen.
Umgekehrt genauso: Gesteht er sich seine anderen Seiten, die leben wollen, ein, dann entwickelt er mehr Verständnis für sich und seine Partnerin. Sie braucht nicht mehr die Unterlegene zu spielen und kann auch ihren Partner unterstützen, wenn er es braucht.
Beziehungen sind stets eine riesige Chance
Beziehungen zu anderen Menschen, ob Freundschaft oder Partnerschaft sind stets eine riesige Chance, uns zu heilen von toxischen Beziehungen zu uns selbst. Wer bereit ist, sich dieser Herausforderung zu stellen, wird staunen über die Entwicklungsmöglichkeiten, die sich nun offenbaren. Es ist dabei auch gar nicht nötig, immer alles mit der anderen Person zu kommunizieren. Manchmal macht es das Darüber-Reden noch komplizierter.
Allein das Erkennen und Akzeptieren des eigenen Verhaltens und dessen Konsequenzen verändert bereits etwas. Das bisherige Muster greift nicht mehr. Und genau deshalb passt es nicht mehr zum alten Muster des Gegenübers. Auch dieses verändert sich unwillkürlich. Mit anderen Worten: Unterwürfigkeit trifft auf Dominanz. Fällt ein Teil weg, hat der andere keinen Handlungsbedarf mehr.
Es verändern sich beide
Nur allzu schnell gehen Beziehungen auseinander, weil wir Angst haben vor unangenehmen Erfahrungen. Aber, wenn wir genau hinsehen, können wir erkennen, dass es das Ego ist, das Angst hat. Das Ego will Recht haben, will sich nicht verändern. Es jammert und beklagt sich lieber.
Trennung ist in extremen Fällen wie bei häuslicher Gewalt, körperlichem Missbrauch und Kriminalität nötig. Dann besteht tatsächlich eine krankhafte, eine toxische Beziehung, die unbedingt die Unterstützung von Fachleuten benötigt. Es sind zwar dieselben Mechanismen, aber diese sind so festgefahren, dass innerhalb der Beziehung kaum noch Heilung möglich ist.
Doch wir sind ja nicht nur unser Ego. Wir haben die Möglichkeit, uns selbst in der Tiefe wahrzunehmen und den verborgenen Teil in uns zu befreien.
Das hat mit Liebe zu tun.
So, wie wir uns selbst begegnen, so begegnen wir auch den Menschen um uns herum
Und vielleicht erkennen wir, dass die Beziehung zu unserem Partner oder der Partnerin, dem Freund oder der Freundin oder den Familienmitgliedern keine toxische Beziehung mehr ist. Mit neuem Verständnis und mit Akzeptanz für das Gegenüber fokussieren wir uns nun mehr auf das Verbindende statt das Trennende. Und, wenn wir nicht mehr aus Angst davonlaufen, merken wir, dass sich die Liebe ausgebreitet hat.
Fazit
Wer befürchtet, in einer toxischen Beziehung zu jemandem zu stehen und sich deshalb von dieser Person trennen möchte, tut gut daran, sich selbst auf Gifte zu untersuchen.
Heilung ist fast immer möglich, aber es braucht manchmal Geduld, Vertrauen und Zeit.
Die Belohnung dafür ist Liebe, die sich in vielen Facetten zeigt.
Und übrig bleibt Dankbarkeit, das mit jemandem erleben zu dürfen.
Herzliche Grüße
Navyo Brigitte Lawson
27.10.2024
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Mein Name ist Navyo Brigitte Lawson. Ich wurde 1948 in der Schweiz geboren. Bereits seit frühster Jugend war ich auf spiritueller Suche, denn die christliche Religion, in der ich erzogen worden war, erfüllte mich nicht, auch nicht mein Psychologiestudium, das ich mit 30 Jahren begann. …
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