Am Anfang war der Geist – Das Paradigma des Lebendigen

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geist-paradigma-des-lebendigen-meditation-TattvaVivekaAm Anfang war der Geist – Das Paradigma des Lebendigen

von Prof. Dr. Dr. h.c. Hans-Peter Dürr. Am Anfang war der Geist! Hans-Peter Dürr, Träger des Alternativen Nobelpreises wie auch des Großen Bundesverdienstkreuzes, entwirft hier das große Bild eines neuen Paradigmas, das die Wissenschaft, die Gesellschaft und das Individuum betrifft. Am Anfang war der Geist!
Ihm zufolge müssen wir die spirituelle Dimension unserer Existenz wieder erkennen, um unsere Verantwortung für diese Welt wirklich tragen zu können. Dazu braucht es »ein Paradigma des Lebendigen«.

Inhaltsverzeichnis

Es gibt keine Materie! Paradigma.

Als Kernphysiker wollte ich herausfinden, was die Welt im Innersten zusammenhält. Ich habe mein ganzes Forscherleben damit verbracht, zu untersuchen, was tatsächlich hinter der Materie steckt. Das Endergebnis ist ganz einfach, wenn auch überraschend:

Es gibt gar keine Materie! Ich habe somit fünfzig Jahre nach etwas gesucht, was es gar nicht gibt. Am Anfang war der Geist!

„Der arme Kerl“, denken Sie jetzt vielleicht, „hat fünfzig Jahre seines Lebens an etwas dran gegeben, was es gar nicht gibt.“ Doch ich kann Ihnen versichern, dass es sich gelohnt hat, den weiten Weg zu gehen. Zu sehen, dass das, von dessen Wirklichkeit alle überzeugt sind, am Ende gar nicht existiert, ist eine erstaunliche, geradezu phantastische Erkenntnis.

Was aber macht ein Naturwissenschaftler, wenn er plötzlich erkennt, dass es das,
was als die Grundlage der Naturwissenschaft gilt – nämlich Materie, die wir alle greifen können – gar nicht gibt?

Dass diese Wirklichkeit eine völlig andere ist, als wir bislang annahmen? Denn wenn wir die Materie immer weiter auseinander nehmen, bleibt am Ende nichts mehr übrig, was an Materie erinnert.
Bildlich ausgedrückt bedeutet dies:

Am Anfang gibt es gar keine Hardware, sondern nur Software.

Eine Software, die man nicht begreifen kann, die nur eine Gestalt, aber keine Existenz im ursprünglichen Sinne des Wortes hat. In diese Richtung führen die naturwissenschaftlichen Erkenntnisse, die uns deutlich gezeigt haben, dass nicht die Materie das Fundament unserer Wirklichkeit ist. Am Anfang war der Geist !

Materie besteht also nicht aus Materie. Paradigma .

Am Ende finden wir etwas, das weit mehr dem Geistigen ähnelt.

Mich führte dies zu der Einsicht, dass wir wieder die spirituelle Dimension unserer Existenz erkennen müssen, die wir verdrängt habengeist-paradigma-des-lebendigen-aufloesen-frau-TattvaViveka

Der entscheidende Punkt, an dem uns Physikern die Materie abhanden gekommen war, hat mit der Struktur des Atoms zu tun. Durch die Erforschung der Atome erhoffte sich die Naturwissenschaft, die Welt endgültig in den Griff zu bekommen. Dies konnte nur gelingen, wenn es gelänge, die Materie von der Form abzulösen. Doch wie sollte dies gehen? Paradigma des Lebendigen.

Die traditionelle Methode der Wissenschaft besteht darin, das Ganze auseinander zu nehmen und in Einzelteile zu zerlegen. Wissenschaftler glauben, dass sie so die Welt verstehen könnten. Wir nahmen also ein Beil und zerschlugen erst einmal den Tisch. Damit war seine ursprüngliche Form zwar kaputt, doch es entstanden neue Teile, die wiederum eine Form hatten. Daher schlugen wir mit dem Beil weiter auf diese Teile ein, in der Hoffnung, ihre Form zu beseitigen.

Auf die Art und Weise wird man schließlich zum Atomphysiker

Beim Atom angekommen, meinten wir endlich am Ziel zu sein. Jetzt hatten wir das a-tomos gefunden: Das, was sich nicht mehr spalten lässt – reine Materie ohne Form. Doch dann kam der Experimentalphysiker Lord Rutherford daher und zeigte, dass auch dieses Atom noch eine Struktur hat.

Wieder mussten wir das Beil nehmen und nachsehen, wie es im Inneren des Atoms ausschaut. Man fand eine Struktur, die einem Planetensystem glich mit einem schweren Kern, umkreist von leichteren Elektronen und zusammengehalten durch elektrische Kräfte. Es erschien naheliegend, dieses in Analogie zu unserem bekannten, durch die Gravitation zusammengehaltenen Planetensystem zu verstehen und mechanistisch zu erklären. Am Anfang war der Geist!

Doch auch dies misslang, als wir erkennen mussten, dass es instabil ist und damit den bislang geltenden Naturgesetzen widerspricht.

Es blieb also nur noch die Folgerung: Die bisherigen Naturgesetze entsprechen nicht der Wirklichkeit. Paradigma und Wechsel.

Denn letzten Endes gibt es nur eine Art Schwingung. Es gibt streng genommen keine Elektronen, es gibt keinen Atomkern, sie sind eigentlich nur Schwingungsfiguren. An diesem Punkt hatten wir die Materie verloren.
Was wir am Ende allen Zerteilens vorfanden, waren keine unzerstörbaren Teilchen, die mit sich selbst identisch bleiben, sondern ein feuriges Brodeln, ein ständiges Entstehen und Vergehen, etwas, das mehr dem Geistigen ähnelt – ganzheitlich, offen, lebendig.

Im Grunde, so müssen wir nun sagen, gibt es nur Geist. Die Materie ist gleichsam die Schlacke des Geistigen.geist-paradigma-des-lebendigen-meditation-TattvaViveka-abstract

In unserer begrenzten menschlichen Wahrnehmung nehmen wir diese Schlacke, da wir sie mit Händen greifen können, jedoch weit wichtiger als das geistig Lebendige. Tatsächlich aber gilt es zu erkennen: Es gibt letztlich gar nichts Seiendes, nichts, was aus sich heraus existiert. Es gibt nur Veränderung, Wandel, Prozesse.
Vor diesem Hintergrund können wir sagen:

In jedem Augenblick wird die Welt neu geschaffen. Paradigma des Lebendigen!

Das Eine und Ganze

Mit den Erkenntnissen der modernen Physik ist die Naturwissenschaft an einen Punkt angekommen, an dem sie sich von der Vorstellung verabschieden muss, dass sie alles erklären könnte.

Wir haben immer gemeint, die Wissenschaft könnte uns sagen, was ist und was nicht ist. Jetzt müssen wir aber einsehen, dass auch die Wissenschaftler nur in Gleichnissen reden. Mit unserer begrenzten Sprache werden wir der Wirklichkeit nicht gerecht. Bislang haben wir die Wirklichkeit so geformt, dass wir sie mit unserer Sprache abbilden konnten.

Unsere Herausforderung liegt nun darin, zu einer neuen Sprache zu finden, die der Wirklichkeit gerecht wird. Damit gelangen wir an einen Punkt, an dem die Physiker sich mit den Mystikern treffen. Paradigma des Lebendigen!

Denn das Fundament unserer Wirklichkeit ist etwas zutiefst Spirituelles

Und selbst der Ausdruck Fundament weist bereits in die verkehrte Richtung, denn er ist an die Vorstellung von einer Substanz gebunden. Unsere Aufgabe ist es aber, die Lebendigkeit zu erkennen und ihr Ausdruck zu verleihen. Wenn die Frage nach der Materie keinen Sinn mehr macht, dann droht es uns die Sprache zu verschlagen. Der Bruch, den die neue Physik einfordert, ist tief. Am Anfang war der Geist!

In einer Welt, in der es keine Objekte mehr gibt und alles Beziehung ist, kann letztlich nur mehr die Frage gestellt werden: Was passiert? Wirklichkeit ist für die moderne Physik daher keine Realität, sondern eine Potenzialität. Wirklichkeit ist das, was wirkt und sich daher andauernd verändert. Sie ist die „Möglichkeit“, die sich energetisch und materiell irgendwo manifestieren kann, sozusagen etwas noch nicht Entschiedenes, Schwebendes. Paradigma des Lebendigen!

Potenzialität ist räumlich nicht lokalisiert. Sie ist gleichsam über die ganze Welt ausgebreitet. Es gibt nur diese einzige Gestalt und diese ist die Welt der potenziellen Wirklichkeit. Sie ist das Eine und Ganze. Und dieses Ganze kann man weder zerstückeln noch aufteilen.

Die Welt zeigt sich somit als etwas Nicht-Teilbares und damit Ganzheitliches

Wir müssen sie uns als etwas vorstellen, dass man überhaupt nicht zerlegen kann. Das Ganze ist weit mehr als seine Teile. Wir müssen als Mensch unsere Fähigkeit schulen und nutzen, das Ganze anzuschauen. Nur so können wir den Zusammenhang erkennen. Das setzt eine holistische Betrachtung der Welt voraus.

Die neue Physik bestätigt, was die mystischen Wege der Religionen immer schon wussten:

Es gibt nur das EINE.

Im Sanskrit gibt es hierfür den Begriff des Advaita, des Nicht-Dualen, Nicht-Zerlegbaren.

Auch die Quantenphysik sagt uns heute, dass es keine getrennten Teile gibt

Alles ist ins Unendliche ausgestreckt und im Hintergrund miteinander verbunden. Jedes Atom ist mit jedem Atom in diesem Universum verbunden. Alles kann mit allem kommunizieren. Das hat weitreichende, geradezu phantastische Konsequenzen. Das heißt für uns Menschen, die wir in diesem Ganzen aufgehoben sind, dass wir zwar unterschiedlich und unterscheidbar, nicht aber getrennt sind.

Wir befinden uns alle sozusagen in dieser Gemeinsamkeit, die wesentliche Voraussetzung dafür ist, dass wir überhaupt miteinander kommunizieren können. Es gibt nur wenige Wörter in unserer Sprache, die diese Verbundenheit zum Ausdruck bringen können.

Für mich sind diese Liebe, Geist, Leben. Die Verben sind dafür noch besser geeignet: leben, lieben, fühlen, wirken, sein. Was wir in jedem Falle sagen können, ist, dass hinter allem eine Verbundenheit steht, die eine Offenheit aufweist und damit ungeahnte Möglichkeiten der Entwicklung bietet. Paradigma des Lebendigen!

Wir Menschen sind Teilhabende an einer unteilbaren Welt, integrierter Bestandteil eines lebendigen und kreativen Kosmos. Kreativität ist eine Eigenschaft, die wir mit allem Lebendigen in der Welt teilen. Wir befinden uns damit in einer Situation, die für uns weit günstiger ist als bisher angenommen wurde. Wir haben einerseits stabilisierende Gesetzmäßigkeiten, zugleich aber unendlich viele potenzielle Möglichkeiten, die wir nützen können, um selbst Einfluss zu nehmen.

Wenn wir erkennen, dass wir integriertes und gestaltendes Element eines dynamischen Kosmos sind, erfahren wir unsere Verbundenheit mit allem, das uns umgibt. Wir sind Teilhabende dieses Feldes und wirken zugleich kreativ auf dieses ein. Aus der Erfahrung der Teilhabe erwächst uns die Verantwortung für die Bewahrung der Welt. Wir erkennen die Wichtigkeit, unsere kreativen Eigenschaften zu nutzen und die Zukunft aktiv zu gestalten.

Das Paradigma des Lebendigen

Wir sind bewegte Wesen in einer bewegten Welt. Trotz aller Gemeinsamkeit sind wir verschiedenartig. Und wir müssen sogar zunehmend verschieden werden, damit wir immer mehr Stützfunktionen übernehmen können, die immer mehr dynamische Stabilisierungen und Entwicklungen ermöglichen. Dies erfordert ein Plus-Summen-Spiel, in dem niemand seine spezielle Eigenart aufgeben muss, sondern jeder seine Unterschiedlichkeit behalten kann – wie bei einem Orchester ein Konzert nur dann gelingt, wenn verschiedene Instrumente konstruktiv zusammenspielen und so das Ganze mehr wird als die Summe der Teile. Das ist das Paradigma des Lebendigen.

Der erste Prozess dahingehend ist die Individualisierung des Menschen und seine Emanzipation, die es zu unterstützen giltgeist-paradigma-des-lebendigen-meditation-TattvaViveka-woman

Erst dann können wir jeder auf unsere eigene und einzigartige Weise durch die Welt gehen, ohne zu fallen. Das Wesentliche alles Lebendigen ist in seiner Bereitschaft zur Instabilität zu finden. Das Leben ist die instabilste und damit verletzlichste Situation, die es gibt. Instabilität ist geradezu das bestimmende Kennzeichen alles Lebendigen. Denn nur aus einem instabilen Zustand, der kurzfristig zusammenbricht, können sich neue hochentwickelte Strukturen bilden.

Es ist daher immer der verletzlichste Moment, der uns voranbringt und neue Dimensionen erschließt

Das praktizieren wir selbst Tag für Tag, wenn wir auf unseren beiden Beinen vorankommen wollen. Denn jeder Schritt, den wir vorwärts gehen, ist nur durch die Preisgabe der Stabilität möglich. Wir wechseln von einer Instabilität in die andere, denn immer müssen wir hierfür kurzfristig auf einem Bein stehen, was statisch betrachtet ein äußerst instabiler Zustand ist.

Einzig durch das Vertrauen in die Kooperation aller Teile unseres Körpers und deren erneutes Wiederherstellen der Balance kommen wir voran. Der Moment der größten Instabilität markiert zugleich den Punkt der höchsten Sensibilität und Offenheit. Paradigma des Lebendigen!

Wir müssen dabei nur an ein Kind denken, das Rad fahren lernt

Das Fahrrad ist eine äußerst instabile Angelegenheit. Das Kind fällt anfangs einige Male hin, doch bald schon ist es so geschickt, dass es alleine losfährt. Es hat gelernt, sich in der Instabilität eine neue Dimension in der Welt zu erschließen. Das ist der Prozess der Evolution des Lebendigen. Aber diese Beherrschung einer neuen Stabilität in der Instabilität verlangt Übung und braucht Zeit – die Kreativität des Verschiedenen ist dabei ebenso wichtig wie die Bereitschaft zum kooperativen Zusammenspiel.

Das ist gar nicht so unmöglich, wie wir oft meinen, denn wir sind trotz aller Differenzierung zutiefst miteinander verbunden und werden es immer bleiben. Und wir haben als Menschheit bereits eine lange gemeinsame Entwicklung hinter uns, auf der wir aufbauen können.

Der Heilungsprozess der Welt erfordert daher die beständige Kooperation und Ausbalancierung von instabilen Systemen

Unsere Aufgabe als Mensch ist es, deren Zusammenwirken unablässig zu erproben und immer wieder aufs Neue zu wagen. Gelingt uns dieser kreative Akt, das Leben in seiner Vielfalt und Unterschiedlichkeit mit all seinen dynamischen Kräften und Gegenkräften auszubalancieren, dann bewahren wir nicht nur das Leben, sondern bringen zugleich die Evolution des Lebendigen einen Schritt voran.

Die Höherentwicklung des Lebendigen durch die Kombination aus Differenzierung und dem kooperativen Zusammenspiel von Verschiedenartigem ergibt eine neue Ganzheit, ein neues „Holon“. Globalisierung ist an sich nichts Schlechtes, im Gegenteil, sie ist eine Notwendigkeit, um eine höhere Entwicklungsstufe zu erklimmen.

Das bedeutet jedoch zwingend, dass die Verschiedenartigkeiten in einem Plus-Summen-Spiel zusammenkommen müssen

Es geht also nicht an, dass eine Gruppe von Menschen darüber entscheidet, welche Eigenschaften als wichtiger oder wertvoller gelten und globalisiert werden, während alle übrigen Eigenschaften unterdrückt und ausgebeutet werden.

Wir müssen dafür sorgen, dass alle Kulturen dieser Welt in ihrer Substanz bestehen bleiben und in eine alles überwölbende Weltkultur hineingenommen werden.

Denn nur die Summe aller dieser Kulturen kann in einem kooperativen und konstruktiven Zusammenspiel ein neues „Holon“ und damit eine Weltkultur auf einer höheren Entwicklungsstufe bilden.

Die Bewahrung der Welt

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Das sich langsam herauskristallisierende, neue naturwissenschaftliche Weltbild ist in hohem Maße dafür geeignet, die verschiedenen Wissenschaftsdisziplinen der Natur-, Geistes- und Sozialwissenschaften wieder enger zusammenzuführen und darüber hinaus Brücken zu den Religionen zu schlagen.

Aus Sicht der Quantenphysik ist die Wirklichkeit kreativ, hat keine Grenzen, ist offen, dynamisch, instabil, das unauftrennbare Ganze. Die Grundlage der Welt ist nicht materiell, sondern geistig. Als ein nicht-auftrennbares, immaterielles Beziehungsgefüge ist die Wirklichkeit eine Art Erwartungsfeld für zukünftig mögliche energetisch-materielle Manifestationen.

Die Zukunft ist dabei wesentlich offen, was heißen soll, dass sie nicht beliebig offen, sondern durch gewisse allgemeine Bedingungen strukturiert ist, die mit den so genannten Erhaltungssätzen zusammenhängen und aus Symmetrieeigenschaften der Dynamik resultieren. In dieser Wirklichkeit sind Unbelebtes und Belebtes nicht mehr grundsätzlich unterschiedlich, sondern erscheinen als Artikulationen des Ganz-Einen. Mensch und Natur sind – wie alles – in dieser Sichtweise nicht getrennt. Die prinzipielle Offenheit der Zukunft hat wesentliche Folgen für unser Verständnis der Welt, ihrer Entwicklung und unserer Beziehung zu ihr. Am Anfang war der Geist !

Die Wissenschaftler der klassischen Physik stellten sich den Anfang der Welt als den „Big Bang“ vor. In diesem Urknall musste die ganze Wirklichkeit angelegt sein, alles, was die Forscher über ihre auf etwa 15 Milliarden Jahre bezifferte Vergangenheit durch ihre Beobachtungen herausgefunden hatten oder wenigstens vermuteten, und alles, was je in Zukunft passieren würde. Alles musste am Anfang bereits eingebaut sein, nichts durfte vergessen sein. Alles, was je geschieht, wäre demnach nur eine Entfaltung dessen, was schon im Grunde am Anfang angelegt war. Das ist in seiner Starrheit nicht sehr befriedigend.

Die neue Auffassung hingegen vertritt die Meinung, dass die Schöpfung nicht abgeschlossen ist. Am Anfang war der Geist !

Sie ereignet sich in jedem Augenblick neu und wir alle sind als Teilhabende eines nicht-auftrennbaren Kosmos am fortlaufenden Schöpfungsprozess beteiligt. Diese Sichtweise von einem belebten und kreativen Kosmos hat weitreichende Konsequenzen für unser Leben. Wir erkennen, dass wir integriertes und gestaltendes Element dieses dynamischen Kosmos sind und erfahren unsere Verbundenheit mit allem, was ist.

Jeder Einzelne von uns ist Teilhabender dieses Feldes und wirkt gestaltend auf dieses ein.

Alles, was wir tun oder auch nicht tun, hat Auswirkungen auf das Ganze. Denn wir alle sind Mitschöpfer.

Wir können natürlich die Welt nicht beliebig ändern, aber wir tragen mit unseren Entscheidungen immer zum Gesamten bei. Die zukünftige Entwicklung hängt von uns ab. Am Anfang war der Geist!

Aus dieser Erfahrung der Teilhabe erwächst uns die unverbrüchliche Verantwortung für die Bewahrung der Welt

Die Frage nach Gott im Sinne eines Schöpfergottes erübrigt sich damit, da sie ins Leere zielt. Wenn Leute mich fragen, „Glaubst du an Gott?“, dann sage ich oft: „Ich bin ein Atheist“. Hierbei bedeutet aber die Vorsilbe A-, so wie im Sanskrit, nicht eine Verneinung, sondern erklärt das Ziel der Frage für ungültig. Am Anfang war der Geist !

Anders ausgedrückt: Gott ist für mich, was nicht gezählt werden kann, weil es das Ganz-Eine meint, nämlich „Advaita“, das Unauftrennbare. Nur in diesem Sinne bin ich ein A-theist. Aber ich bin kein Atheist in dem Sinne eines Ungläubigen, da ich nicht an einem über unser Verständnis hinausgehenden Zusammenhang zweifle: ein einziges Beziehungsgefüge, das viele Namen hat, die alle nur Gleichnisse sind. Wir können es Geist oder Liebe nennen. Am Anfang war der Geist !

Die Liebe ist das, was für mich am besten zum Ausdruck bringt, was wir als Verbundenheit erfahren und als Empathie empfinden.
Um diese Liebe zum Wirken zu bringen, müssen wir alles dafür tun, dass jeder Mensch sich angemessen entfalten kann.

Jeder Mensch ist einzigartig und verschieden. Paradigma des Lebendigen!

Es geht darum, diese Einzigartigkeit zur vollen Blüte zu bringen und in das gemeinsame Netzwerk aller Wesen einzuspeisen. Wir müssen den kreativen Menschen zur optimalen Entfaltung bringen und dadurch das Lebendige lebendiger machen. Als Teilhabende der Biosphäre ist es an uns, die Instabilität alles Lebendigen zu erkennen und dessen dynamische Balance zu fördern.

Denn die Wirklichkeit ist keine unveränderliche Realität, sie ist vielmehr voller Möglichkeiten. Es ist unsere Aufgabe, diese Wirklichkeit zu gestalten und an der Vision einer wahrhaft lebendigen Welt mitzuwirken.

„Der fallende Baum macht Krach. Der Wald wächst lautlos“,

besagt ein altes tibetisches Sprichwort.

Das macht uns Mut, unser Vertrauen in das Leben und in den kreativen Prozess der Evolution in einer bedrohten Welt zu bewahren

Anstatt immer nur gebannt auf die Schreckensnachrichten unserer Zeit zu blicken und auf die wenigen Menschen, die am meisten Lärm machen, sollten wir unseren Blick öffnen für die unzähligen Menschen, die Tag für Tag dafür sorgen, dass das Leben weitergeht und weiter besteht.

Der Wald wächst leise, aber unaufhaltsam. Und wir alle sind dazu aufgerufen, in dieses Feld „Mensch“, das bereits seit vielen Jahrtausenden überlebt hat, Weisheit und Liebe einzuspeisen und damit unseren Beitrag zur Bewahrung der Schöpfung zu leisten.

09.03.2019
Prof. Dr. Dr. h.c. Hans-Peter Dürr


Prof-Dr Dr hc Hans-Peter Duerr

Über den Autor

Prof. Dr. Dr. h.c. Hans-Peter Dürr

Geb. 1929, Studium der Physik, 1958-74 Mitarbeiter von Werner Heisenberg im Max-Planck Institut für Physik.
Später Leiter des Instituts sowie des Werner-Heisenberg-Instituts in München bis 1997. Professor an der Universität München, Gastprofessuren in Berkeley, China und Indien. Seit den 1980er Jahren Engagement in der Umwelt- und Friedensbewegung und Anti-Atom-Bewegung. 1987 Alternativer Nobelpreis, 1995 Friedensnobelpreis (als Mitglied von Pugwash), 2004 Großes Bundesverdienstkreuz. 2008 Ehrenbürger der Stadt München. Mitglied im Club of Rome. Ratsmitglied des World Future Council. Gründer des Global Challenges Network und von WorkNet:future.
Homepage: www.gcn.de


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