Spirituelles Bypassing und Verneinung des Lebens

Spirituelles Bypassing traurige Frau

Die doppelte Verneinung des Lebens und spirituelles Bypassing

Spirituelles Bypassing hat sich in den letzten Jahren zu einem wichtigen Thema entwickelt. Einige spirituell Interessierte haben es warnend aufgegriffen und andere haben nach Jahren schmerzhafter Erfahrungen in Ashrams und Meditationsgruppen festgestellt, wie ihre spirituelle Praxis zu einer Verleugnung von unangenehmen Gefühlen, inneren Kindern oder dem menschlichen Erfahrungsspektrum führte.

Spirituelles Bypassing, als Versuch durch Spiritualität alltägliche Probleme, unangenehme Gefühle oder Verletzungen zu umgehen, hat sich zu einem rot alarmierend blickenden Begriff etabliert. Schnell wird darauf hingewiesen oder es als Möglichkeit bei der Selbstreflektion und Entscheidungen betrachtet. Gruppen und Gemeinschaften kommen unter dem Gedanken zusammen. Insbesondere die Embodimentszene greift dieses Thema auf und weist auf die Wichtigkeit der Verkörperung aller Erfahrungen hin. Anstatt hoch und hinaus ins himmlisch Transzendente gilt der Fokus dem rein und runter in das erdig Immanente.

In fast allem, was ich dazu lese und aufgreife, scheint eindeutig und unumstößlich die Gefährlichkeit des spirituellen Bypassings. Es ist ein Signal für einen Irrweg, für Schmerz und für die Aberkennung der eigenen Menschlichkeit. Dabei steht es meist im Zusammenhang mit der Idee von spirituellem Dogmatismus oder dem blinden Nachgehen einer Autorität (Guru oder einer Tradition), welche die menschlichen Erfahrungen als ein Übel transzendieren will oder schlichtweg nicht mit einbezieht. Somit geht es oft bei dem Hinweis auf spirituelles Bypassing nicht nur um die Verneinung der eigentlichen körperlichen, emotionalen Erfahrung, sondern auch um die Verneinung der eigenen Autorität über diese Erfahrungen oder dem spirituellen Weg.

Warnschild Bypassing

Da mir dieser Begriff schon zeitig in meiner spirituellen Auseinandersetzung begegnete, brannte er sich besonders tief ein und blieb dort erst einmal unhinterfragt. Bloß nicht Bypassing und wenn dann so schnell wie möglich damit aufhören, war mein Motto. Was ebenso meine Traumaheilung initiierte. Doch irgendwann unerwartet meldet sich das Thema mit einer energetischen Wuchtigkeit aus der Tiefe zurück. Es will sich etwas ausbreiten und weiten in mir, dieser Begriff ist im weg.

Als erstes fing es in Gesprächen mit Menschen, bei denen Traumaheilung einen zentralen Platz im Leben bekommen hat, an durchzurieseln. Mir wurde flau während Worte aufkamen, die gesprochen werden wollten. Eine energetische Tabuzone hatte ich betreten und in meinem Nervensystem prickelte es, als ich im Gespräch um Partnerschaft auf die Immensität wahrer Verbundenheit, den Ort wahrer Antwort aller Bedürfnisse in uns, hinweisen wollte.

Die Worte finden nichtsde

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KI unterstützt generiert

stotrotz ihren Weg durch meinen engen Hals. Die Antworten folgten prompt und bestätigten die Flauheit. Das sei nun spirituelles Bypassing und überginge die menschlichen Bedürfnisse nach Kontakt. Meine Zelebrierung der Wahrheit in uns landete auf Traumaboden, wodurch die alte Geschichte “alles alleine machen zu müssen” aufgewirbelt wurde.

Aus der intendierten Selbstermächtigung wurde eine Isolierung und Verbot. Statt Freude über die Möglichkeit, Antworten und Erfüllung des Lebens in uns zu finden, entstand Stress wegen der Aufgabe seines eigenes Glückes Schmied in einer vereinsamten, fremden Welt zu sein. Mir schwant, dass Bypassing zu einem Warnschild vor der eigenen Natur mutiert ist. Mir wird schwummerig und Ideen begannen sich herumzudrehen, zu verdrehen und neu zu ordnen.

Körperforschung zur Vertiefung der Frage 

Das Aufflammen meines Nervensystems nehme ich mit in die Forschung. Dafür bewege ich dieses Thema von Kopf bis Fuß in meiner Schüttelpraxis, lausche auf die Inhalte der Bewegungen und den Antworten darauf. Kaum einer in unserer Kultur kennt nicht den Stress des individuellen Überlebenskampfes, der sich auch in modernen Parolen versteckt.

Auch ich kenne diese Stimme, die denkt es (also das Leben und die Verbundenheit) alleine machen zu müssen. Und ich kenne ebenso, wie satt ich es habe. Der Einwand meines Gegenübers ist mir nicht fremd. Er ist relevant, sehr relevant. So sehr uns dieser Überlebenskampf und eine Hoffnung auf dessen Ende in die Ashrams und spirituellen Zentren getrieben hat, so sehr hat uns das Erwachen zu dem spirituellen Bypassing in der Flucht vor menschlichen Leid und Bedürfnissen durch Transzendenz wieder herausgestoßen. Doch endet die Weisheit der Geschichte hier?

Meine Forschung führt mich tiefer und ich nehme die alten Weisheiten über die innere Wahrheit mit in die Bewegungen meiner Zellen – atme sie ein und spüre ihrem Echo nach. Ich spüre den Geschmack der Wahrheit und wahre Erfüllung liegt in mir, obgleich sie verschüttet ist und ich immer wieder den Glauben an sie verliere. Transzendenz und die tiefe innere Zuwendung können nicht schlichtweg als Bypassing angesehen werden. Was ist der Zusammenhang?

Zwei Knoten im Lebensfluss

Mit Treffsicherheit offenbart sich eine schlichte doch klare Antwort, die mir wie eine Landkarte durch den Dschungel dient. Es gibt zwei Ebenen der Ablehnung des Lebens, zwei Knoten im Lebensfluss – und beide müssen betrachtet werden, um die Wahrheit zu entdecken.

Die erste Selbstablehnung findet auf der Ebene der Gefühle und Traumata statt. Wir lehnen all die chaotischen, verletzten und unreifen Aspekte in uns ab. Wir kreieren eine ordentliche kulturelle Maske, die uns darüber hinweg gehen lässt.

Diese abzusetzen, um der Wut und Angst als auch der Beschämung und mangelnder Versorgung zu begegnen, ist sehr wertvoll. Das Nachnähren und Nachreifen der Entwicklungsbedürfnisse kann geschehen und emotionale Heilung stattfinden. Ohne diesen Schritt der horizontalen Selbstbegegnung werden unsere Meditationen und Gebete zum spirituellen Bypassing. Dann wenden wir uns den Engeln und Meistern zu, während unsere Becken stumme Orte alten Leidens bleiben und unsere tauben Beine keine Verbindung zwischen Meditationskissen und Wocheneinkauf beschreiten können.

Doch ist diese Ebene zu einem gewissen Grad entknotet, blockiert uns der Gedanke des spirituellen Bypassings. Das ist der zweite Knoten im Lebensfluss, die zweite Verneinung von Leben. Nun sehen wir das Leid und die Geschichte, die Traumata und die Wünsche. Wir sehen das Spektrum des menschlichen Daseins auf horizontaler Ebene. Jetzt ist Transzendenz keine Ablehnung dieser mehr, sondern eine neue Ebene der Klärung.

Anstatt davon wegzukommen, kann es wie ein Sprungbrett in tiefere Ebenen des Seins genutzt werden. Wir wenden uns der Wut zu, um zu sehen, was dahinter ist. Und wir geben unsere Wünsche in das Feuer der Transformation, um darin den Willen der Schöpfung zu erkennen. Wir richten uns von der Horizontalen auf zur Vertikalen ohne dabei durch eine Flucht nach oben in den Himmel die Füße auf den Boden zu verlieren.

Alte Weisheit ohne Schuld

Es ist die aus der Liebe springende Erkenntnis, dass tatsächlich unsere Abneigungen und Wünsche, Geschichten und Verletzungen ein Bollwerk gegen die Wahrheit unseres Wesens sind. Es eröffnet sich der Blick, dass die nun aufgedeckten und anerkannten Kindheitserlebnisse eine falsche Geschichte über unser wahres Wesen erzählt. Nicht weil wir nicht der schuldige Junge oder das beschämte Mädchen sind, sondern weil die offizielle Idee vom Menschsein und als Mensch geboren zu sein, unsere geistige Wesenheit aberkennt.

Wir ersetzen nicht mehr unsere negativen Glaubenssätze mit positiven, sondern lassen sie allesamt los. Wir erkennen uns als Schöpfer und erforschen die Horizontale als Spiegel unserer selbstgemachten Bilder. Statt dem Klang der Schuld und Verurteilung des Menschseins kommt diese Erkenntnis mit Freude und Erleichterung darüber, das wahres Menschsein über Alltagsprobleme hinaus geht und im Geiste Christi stattfinden kann. Transzendenz und Immanenz mit Leichtigkeit vereint.

Die erlernte Idee des spirituellen Bypassings will wieder losgelassen werden, um mit neuen, unbeschämten und von der Wut geklärten Augen erneut in die Meditation und das Gebet einzutauchen sowie dabei nun mit offenem Herzen für die gesamte Schöpfung das Bollwerk gegen die wahre Natur zu transzendieren.

Wo der erste Knoten unsere biographischen Wahrheiten aberkennt, verkennt der zweite Knoten die spirituellen. Eine Zuwendung zum Himmel ohne die Erde zu kennen, lässt unser Genick starr werden und unsere Flügel ermüden. Doch wenn der zweite Knoten ungelöst bleibt, finden wir uns in einem herzzerreißenden Widerstreit zwischen den Fragmenten eines selbstvergessenen Wesens wieder, während wir das Tor zur Erfüllung unter Rezitation alter Selbstgeschichten verschlossen halten.

Himmel oder Erde? Transzendenz oder Immanenz? Gott oder Mensch? Außen oder Innen? Trauma oder Leuchtkraft? Die Liste ist schier unendlich. Diese können nicht durch eine Entscheidung zwischen ihnen gelöst werden, sondern durch eine verkörperte Erkenntnis des sich ins vertikale erstreckende Sowohl-als-auch, was sich im jenseitigen Diesseits hinter den geformten Ideen über Spiritualität in der direkten Erfahrung offenbart.

16.06.2024
Sara Gnanzou
https://tiefbewegtblog.wordpress.com/

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Sara GnanzouTanoe-Gnanzou-Profil

Die Sehnsucht nach Lebendigkeit führte Sara Gnanzou zunächst zu Reisen durch die Welt, einem interdisziplinären Philosophiestudium und Tätigkeiten im Beratungs- und Choachingbereich. Seit 2020 widmet sie sich der spirituellen Lebensforschung. In Ihre Arbeit fließen neben tantrischem Wissen und westlicher Philosophie auch die Körper- und Traumaforschung mit ein. Durch das Teilen ihrer Forschungserkundungen durch Wort und Bild möchte sie unterstützend dazu inspirieren, das eigene Sein zu erforschen und die Lebendigkeit erblühen zu lassen.

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