Solidarität und Rückbesinnung auf das eigentlich Menschliche
Solidarität und Rückbesinnung – Die Wörter „mögen“ und „Möglichkeit“ haben nicht nur als Wortpaar eine aufschlussreiche Beziehung zueinander – was ich mag, ist mir meistens auch möglich. Die beiden Begriffe haben darüber hinaus auch ein interessantes verwandtschaftliches Verhältnis zu einer dritten Wortbildung: Die „Macht“ gehört nicht dem „Macher“, sondern demjenigen, der den Inhalt seines Tuns „mag“ und „kann“. Die „Macht“ hat dieselbe sprachliche Wurzel wie „mögen“ (und „möglich“), das zunächst im Sinne von „können“ verwendet wurde. Machtausübung steht also eigentlich nur dem zu, der Fähigkeit und Zuneigung zu seiner Aufgabe und allen dazugehörigen Aspekten hat.
Welche Gedankenverbindungen haben wir heute oft, wenn von Macht die Rede ist? Spontan stellen sich Begriffe ein wie Machthunger, Machtanspruch, Machtkampf, Machtapparat oder Machtbesessenheit. Dass man sich gerne und freimütig einem Menschen oder einem Verbund anvertrauen könnte, der „die Macht hat“, erscheint heikel. „Machthabern“ unterstellen wir normalerweise nicht den im Wort enthaltenen guten Willen, sondern Selbstherrlichkeit.
Wenn ein zunächst förderliches Phänomen seinen ursprünglichen Sinn zu verlieren beginnt, setzt an anderer Stelle eine Gegenbewegung ein. „Macht“, die eigentlich mit verständnisvoller Sympathie dem Allgemeinwohl zugewandt sein sollte, ist zum unkalkulierbaren Risiko für das menschliche Wohl geworden. Also müssen wir Verhältnisse herstellen, die das menschliche Sein wieder nachvollziehbar sichern.
Der Starke steht für den Schwachen ein
Auch für diesen Prozess liefert unsere Sprache interessante Grundsätze. Im Sinne von „gediegen, echt, fest, unerschütterlich, ganz“ wurde das Wort „solide“ aus dem Lateinischen („solidus“) übernommen. Die Juristen machten daraus das Wort „solidarisch“ (wechselseitig für das Ganze haftend). Und schließlich wurde die „Solidarität“ zum Ausdruck einer von Konvention und gesellschaftlicher Verkrustung befreiten, zutiefst moralischen Gesinnung: Der Starke steht für den Schwachen ein; materielle Güter werden gerecht verteilt; die Würde und das Heil des Einzelnen ist kein beliebiges Almosen, sondern Existenzgrundlage der Menschheit.
Wieso tritt die Möglichkeit zur Solidarität, die ja schon lange soziales Thema und Ziel ist, gerade jetzt besonders lebendig in Erscheinung – mit einer neuen, kraftvollen Intensität und einer faszinierenden Vielfalt realistischer Ideen und Initiativen? Ein wesentlicher Grund mag darin bestehen, dass die bisher tauglichen Machtgefüge unausweichlich zerbrechen oder in Sphären abdriften, die ohne Zusammenhang zum eigentlichen Leben auf der Erde sind. Das „gediegene, echte, unerschütterliche“ mitmenschliche Verhalten kann immer selbstverständlicher dort Raum greifen, wo sich das einst vertrauenswürdige Instrument der Macht von der Wirklichkeit entfernt.
Das ist die bekannte Folge, wenn ein Gutes sich in ein Zuviel des Guten verkehrt. Wenn ich eine günstige Situation festschreiben will, indem ich mir mehr und mehr davon anzueignen versuche, bewirke ich vieles, nur nicht den gewünschten glücklichen Zustand. Ein Zuviel des Guten macht die Verhältnisse eng und starr. Zwänge, Abhängigkeiten und Widersinn in allen erdenklichen Ausprägungen stellen sich ein. Und schließlich geht die Beziehung zur Wirklichkeit, die ich mit aller Macht in mein Maß und Bedürfnis zwingen will, völlig verloren.
Wir beobachten in dieser Zeit, wie Menschen in Machtpositionen sich in einer Weise verhalten, die immer unfasslicher wird.
Zügig und ohne erkennbare Scham werden Euro-Milliarden verloren, produziert, aufgestockt und herumgeschoben zwischen Regierungen, Banken und anderen zunehmend abstrakten Systemen. Gleichzeitig wird die Haarspalterei um Kleinstbeträge zur Existenzsicherung realer Menschen zur rhetorischen Endlosschleife. Regierende und Finanzwächter verfallen in verständnisloses Entsetzen, wenn der griechische Ministerpräsident die Verantwortung für das Land an die Menschen dieses Landes zurückgibt, indem er sie über Sparmaßnahmen abstimmen lässt, die exakt diese Menschen betreffen. In bestimmten Etagen der „Macht“ ist der Mensch buchstäblich nicht gefragt. Deshalb wird dort auch nicht damit gerechnet, dass Menschen im Normalfall über Menschenverstand und Verantwortungsfähigkeit weit über den eigenen Gartenzaun hinaus verfügen. Anstatt die Menschen vertrauensvoll in Entscheidungsprozesse einzubeziehen, wird allseitiger Vertrauensverfall provoziert. In der Konsequenz können die derzeit zu beobachtenden Gespensterwelten wachsen. Welten, die sich auf bizarre Weise ausgedachten Systemen unterwerfen und damit den Bezug zum unmittelbar menschlichen Leben verlieren.
Solidarität ist die Gegenbewegung zu solchen Entwicklungen.
Wo die Menschlichkeit Schaden nimmt, weil die tragenden Kräfte hinfällig werden, strömen in das entstehende Vakuum die nunmehr benötigten, unverbrauchten, neuen Kräfte ein. Das ist ein natürlicher schöpferischer Vorgang, dessen heilige Gesetzmäßigkeit wir erleichtert wahrnehmen und nutzen können, ohne das untauglich Gewordene blind zu verdammen. Das lange gültige Machtverständnis erledigt sich unumkehrbar und offenbart gerade durch seine wachsende Härte und Kompromisslosigkeit seine letzte wesentliche Botschaft: Das menschliche Leben muss immer wieder frei werden von den menschengemachten Vorstellungen und Ordnungen. Die Begrenztheit, die unser irdisches Leben in jeder Hinsicht kennzeichnet, verlangt nach Form und Verbindlichkeit, auch in der Lebens- und Gesellschaftsorganisation. Die Unbegrenztheit, die dem Menschen als seelisch-geistigem Wesen genauso eigen ist, verlangt aber zugleich nach beständiger Auflösung und Neuerschaffung der Formen und Aufgabenfelder.
Mitmenschlichkeit ist die Grundbedingung für das menschliche Leben auf Erden. Und sie muss wohl auch ein zentrales Anliegen des übergeordneten Schöpfungsgedankens sein. Denn warum wäre uns sonst das Leben in Gruppen und Gesellschaften auferlegt? Solidarisches Empfinden und Handeln leitet in die unmittelbare Mitmenschlichkeit zurück, entkleidet von Vorschrift, Konvention und Zweckmäßigkeit. Die neue Mitmenschlichkeit, die wir derzeit in den vielen neuen Initiativen erleben, ist ein Akt der Befreiung. Solidarität begegnet den noch gültigen Hierarchien nicht im Kampf, sondern sie übernimmt deren Macht durch die schlichte Rückbesinnung auf das real Menschliche.
Mit freundlicher Genehmigung von Marianne von Salis
Dieser Artikel ist erschienen in „point“, Ausgabe 6, Winter 2011, gesundheit aktiv.
www.gesundheit-aktiv.de
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