Verletzungen und Scham: Wie innere Anteile unsere Selbstliebe beeinflussen
Verletzungen und Scham sind zwei der kraftvollsten emotionalen Zustände, die das menschliche Erleben prägen können. Sie dringen oft tief in unser Inneres ein und hinterlassen Spuren, die uns lange begleiten – manchmal ein Leben lang. Hinter diesen Gefühlen verstecken sich oft innere Anteile, die unsere Sicht auf uns selbst und die Welt prägen. Doch was wäre, wenn diese Anteile nicht unsere Feinde, sondern Schlüssel zu mehr Selbstliebe und Heilung wären? In diesem Beitrag betrachten wir, wie Verletzungen und Scham unsere innere Welt formen, welche Rolle innere Anteile dabei spielen und wie wir Selbstliebe auch inmitten dieser schwierigen Emotionen kultivieren können.
Verletzungen, Scham und die Macht innerer Anteile
Scham ist eines der schmerzhaftesten Gefühle, das wir erleben können. Sie lässt uns glauben, dass wir nicht nur Fehler gemacht haben, sondern dass wir als Person fehlerhaft sind. Verletzungen – sei es durch Ablehnung, Kritik oder das Gefühl, nicht genug zu sein – können diese Scham verstärken. Beide Emotionen hinterlassen oft tiefe Narben und rufen innere Anteile hervor, die uns schützen wollen.
Der Begriff der „inneren Anteile“ stammt aus der Psychologie, insbesondere aus der Inneren-Systeme-Therapie (IFS, Internal Family Systems). Nach diesem Ansatz tragen wir verschiedene innere Stimmen oder Anteile in uns, die unterschiedliche Rollen spielen. Manche Anteile versuchen uns zu beschützen, indem sie uns warnen oder kritisch sind. Andere wiederum repräsentieren verletzte, unsichere Teile von uns, die wir oft verdrängen. Diese inneren Anteile sind nicht „falsch“ – sie haben sich entwickelt, um uns in schwierigen Situationen zu helfen. Doch wenn sie dominieren, können sie verhindern, dass wir uns selbst lieben.
Beispielsweise könnte ein kritischer Anteil in dir sagen: „Du bist nicht gut genug, um geliebt zu werden.“ Dieser Anteil entstand vielleicht in deiner Kindheit, als du das Gefühl hattest, dass du die Liebe deiner Eltern nur durch Perfektion oder Leistung gewinnen kannst. Solche Anteile entstehen aus einem Bedürfnis nach Schutz, doch sie können langfristig verhindern, dass wir unsere wahre Würde und unseren Wert erkennen.
Die Rolle von Scham in der Beziehung zu uns selbst
Scham ist oft der Knoten, der uns von der Selbstliebe trennt. Sie flüstert uns ein, dass wir nicht liebenswert sind, dass wir etwas verbergen müssen oder dass wir uns verändern müssen, um akzeptiert zu werden. Besonders schwer wiegt Scham, wenn sie nicht benannt oder verarbeitet wird. Sie bleibt verborgen in unseren inneren Anteilen und äußert sich als Selbstzweifel, Angst oder sogar Selbsthass.
Doch Scham kann auch ein Spiegel sein. Sie zeigt uns, wo wir uns verletzlich fühlen, wo unsere inneren Anteile nach Heilung rufen. Wenn wir Scham nicht als Feind, sondern als Hinweis verstehen, können wir beginnen, uns den dahinterliegenden Gefühlen zuzuwenden – Trauer, Angst oder das Bedürfnis nach Anerkennung. Dies ist der erste Schritt zur Selbstliebe: die Bereitschaft, auch die unangenehmsten Teile von uns selbst anzunehmen.
Selbstliebe als Heilung: Wie wir unsere Anteile integrieren können
Selbstliebe ist in diesem Kontext keine bloße Affirmation, sondern ein Prozess, in dem wir lernen, mit all unseren Anteilen in Beziehung zu treten – auch mit denen, die uns unangenehm sind. Hier sind einige Schritte, die dir helfen können, Verletzungen und Scham zu heilen und innere Anteile zu integrieren:
1. Anerkennen, was ist
Der erste Schritt zur Heilung ist die bewusste Wahrnehmung. Nimm dir Zeit, um in dich hineinzuhorchen: Welche Gefühle sind da? Gibt es innere Stimmen, die dich kritisieren oder beschützen wollen? Vielleicht fühlst du Scham oder Angst. Vielleicht spürst du auch ein verletztes Kind in dir, das nach Liebe und Trost ruft. Erkenne diese Gefühle und Anteile an, ohne sie zu bewerten.
2. Innere Anteile willkommen heißen
Statt deine inneren Anteile abzulehnen, lade sie ein, mit dir in einen Dialog zu treten. Frage sie: „Warum bist du hier? Was möchtest du mir sagen?“ Oft offenbaren diese Anteile überraschende Einsichten. Ein kritischer Anteil könnte dir beispielsweise mitteilen, dass er nur versucht, dich vor Ablehnung zu schützen. Indem du ihn verstehst, kannst du beginnen, ihn zu beruhigen und ihm zu zeigen, dass du jetzt für dich selbst sorgen kannst.
3. Mit Mitgefühl begegnen
Selbstliebe bedeutet, mitfühlend mit dir selbst zu sein – auch mit den Teilen von dir, die du als „schwach“ oder „problematisch“ empfindest. Wenn du spürst, dass Scham oder Verletzung aufsteigen, halte inne und sage dir: „Es ist in Ordnung, dass ich mich so fühle. Ich bin nicht allein, und ich verdiene Liebe, genau so, wie ich bin.“ Dieser Akt des Mitgefühls kann unglaublich heilsam sein.
4. Alte Glaubenssätze hinterfragen
Verletzungen und Scham beruhen oft auf tief verwurzelten Überzeugungen, die nicht hinterfragt wurden. Glaube ich wirklich, dass ich nicht genug bin? Woher kommt dieser Gedanke? Erkenne, dass diese Glaubenssätze nicht die Wahrheit über dich sind, sondern lediglich Geschichten, die dir erzählt wurden – von der Gesellschaft, deiner Familie oder deinen Erfahrungen. Du hast die Macht, neue Geschichten zu schreiben.
5. Das innere Kind heilen
Ein großer Teil unserer Verletzungen stammt aus der Kindheit, wo wir nicht die Liebe oder Bestätigung erfahren haben, die wir brauchten. Stelle dir vor, dass du deinem jüngeren Ich begegnest. Was würdest du ihm sagen? Vielleicht: „Du bist wertvoll, und ich bin hier, um dich zu schützen.“ Solche imaginativen Begegnungen können helfen, alte Wunden zu heilen.
Verletzlichkeit und Mut als Weg zur Selbstliebe
Echte Selbstliebe erfordert den Mut, verletzlich zu sein. Es bedeutet, unsere Scham zu benennen, unsere Verletzungen zu spüren und die Geschichten unserer inneren Anteile zu verstehen. Es bedeutet, zu erkennen, dass wir nicht perfekt sein müssen, um geliebt zu werden – weder von anderen noch von uns selbst.
Brené Brown, eine bekannte Forscherin im Bereich Verletzlichkeit und Scham, schreibt: „Verletzlichkeit ist die Geburtsstätte von Innovation, Kreativität und Wandel.“ Indem wir uns unserer Verletzlichkeit stellen, öffnen wir die Tür zur Selbstliebe und damit zu einem authentischen Leben.
Fazit: Von der Scham zur Selbstliebe
Verletzungen und Scham mögen uns von der Selbstliebe trennen, doch sie tragen auch den Schlüssel zur Heilung in sich. Indem wir unsere inneren Anteile anerkennen und mit Mitgefühl begegnen, können wir lernen, uns selbst anzunehmen – mit all unseren Facetten. Selbstliebe ist kein Zustand, den wir erreichen müssen, sondern eine Beziehung, die wir zu uns selbst aufbauen. Es ist die Entscheidung, auch die verletzten und schambesetzten Teile von uns willkommen zu heißen und ihnen Raum zur Heilung zu geben.
Du bist mehr als deine Verletzungen, mehr als deine Scham. Du bist ein ganzheitliches Wesen, das es wert ist, geliebt zu werden – vor allem von dir selbst. Beginne heute, indem du dir erlaubst, dich selbst zu fühlen, zu verstehen und mitfühlend anzunehmen. Denn in der Annahme liegt die wahre Kraft der Selbstliebe.
02.01.2025
Heike Schonert
HP für Psychotherapie und Dipl.-Ök.
Heike Schonert
Heike Schonert, Heilpraktikerin für Psychotherapie, Diplom- Ökonom. Als Autorin, Journalistin und Gestalterin dieses Magazins gibt sie ihr ganzes Herz und Wissen in diese Aufgabe.
Der große Erfolg des Magazins ist unermüdlicher Antrieb, dazu beizutragen, dieser Erde und all seinen Lebewesen ein lebens- und liebenswertes Umfeld zu bieten, das der Gemeinschaft und der Verbindung aller Lebewesen dient.
Ihr Motto ist: „Wenn wir ehrlich zu uns selbst sind, uns als Ganzheit begreifen und von dem Wunsch erfüllt sind, uns zu heilen und uns zu lieben, wie wir sind, werden wir diese Liebe an andere Menschen weiter geben und mit ihr wachsen.“
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Ja! Vor genau einem Jahr las ich genau diesen Artikel! Und dann vergaß ich es wieder. Wendete mich zunächst dem inneren Kind zu. Nach dem Besuch deines Seminars wurde mir sofort genau dieser Anteil bewusst, der sich in anderen “Symptomen” zeigt. Deine Idee, oder Erkenntnis, sich dieser liebesbedürftigen inneren Frau zuzuwenden ist so genial, wie auch einfach. Sie einfach zu lieben, gut zu ihr zu sein und sie immer wieder zu fragen, was sie noch braucht, um sich wohl zu fühlen. Das habe ich bei dir gelernt. Dabei kann ich ihr nicht immer genau das geben, was sie will. Aber ich interagiere mit ihr. Wenn sie den Wunsch in sich trägt, sich immer wieder bei Menschen zu melden, die sie in der Vergangenheit enttäuscht haben. Die ihr Unrecht taten. Dann komme ich mit ihr ins “Gespräch” und mache ihr andere Vorschläge, auf die sie sich einlassen kann und die am Ende gesund sind. Eine wundervolle Erfahrung, die für inneren Frieden in mir sorgt und die inneren Konflikte beendet, sowie eine wirkliche Nähe zu mir selbst erfahrbar macht.
Heute Nacht erinnerte ich mich an genau diesen Artikel, den Du letztes Jahr geschrieben hast. Ich musste erst ein wenig danach suchen. Und fand ihn wieder! Welch Freude, diesen Schatz, diese Zeilen von Dir lesen zu dürfen!