Corvus und der Raabe Crow

Franz Corvus Rabe

Corvus und der Raabe Crow franz corvusCorvus und der Raabe Crow – spirituelle Geschichten

Die Besprechung hatte sich schon eine dreiviertel Stunde lang hingeschleppt bevor Stuart, mein Manager, so richtig in Fahrt kam.

„Ok, hier sind die Verkaufszahlen für dieses Quartal,“ kündigte er an und warf einen Blick über die rechte Schulter um sich zu vergewissern, ob das auf die Wand des Büros projizierte Kurvenblatt gut zu lesen war.

Das war das Stichwort für Crow und er flatterte vom Aktenschrank herunter und landete auf Stuarts unbewachte linke Schulter. Er ließ sich nieder und inspizierte dessen Ohr aus nächster Nähe, wobei er den Kopf hier hin und da streckte; er war sich nicht sicher ob er dort etwas lohnenswertes finden würde.

„ Können Alle das hier richtig sehen?“ fragte Stuart und schaute auf die Reihe der tödlich gelangweilten Aussendienstler, die vor ihm an den zusammengeschobenen Tischen saß. Sein Blick blieb an Todd (Bezirk Westküste) hängen, der schon wieder ziemlich unverhohlen auf sein Handy glotzte.

„Todd?“ Todd schaute erschrocken von seinem Match 3 Spiel auf.

„Können Sie das gut sehen Todd?“ Todd warf einen schnellen Blick auf die Tabelle, die an der Wand hinter Stuart herum flackerte und nickte nervös.

„Absolut,“ brachte er hervor. Crow nutze die Ablenkung und fuhr geschickt mit dem Schnabel in Stuarts Brusttasche. Er fischte einen silbern glänzenden Kugelschreiber heraus, einen von der Sorte, die einem als bester Verkäufer der Monats verliehen wird.

„Gut, dann gehen wir jetzt zu den regionalen Verkaufsstatistiken über,“ seufzte Stuart.

Crow machte eine ruckartige Bewegung mit dem Kopf und der gestohlene Kugelschreiber segelte quer durch den Raum. Er landete mit einem befriedigenden Platschen im Wasserglas von Sharon, der Verkaufsteam-Leiterin.
Ich war mir sicher, dass sie einige Spritzer abbekommen haben musste, aber sie war vollkommen in Trance und starrte unkoordiniert auf die roten und schwarzen Statistik-Säulen, die hinter unserem, nunmehr preisgekrönt kugelschreiberlosen Manager, hypnotisch an der Wand hoch schwammen.

Crow feierte seinen Treffer indem er in reinstem Vergnügen abwechselnd von einem Bein aufs andere hüpfte bis er ausrutschte und rückwärts runter fiel. Er landete im Papierkorb, der gefährlich wackelte, als Crow darin zwischen den Butterbrotpapieren und überflüssig gewordenen Datenblättern herum zappelte. Stuart ignorierte den bebenden Korb zu seinen Füßen und setzte mit stoischer Zielstrebigkeit seine Präsentation fort.

Crow benutze seinen messerscharfen Schnabel um sich am Rand des Papierkorbs in eine senkrechte Position hoch zu ziehen. Er hatte einen selbstklebenden, gelben Notizzettel auf dem Kopf. Er unternahm drei Versuche um den Zettel vom Kopf zu kratzen und danach klebte er ihm am Bein. Stuart zeigte auf die wichtigen roten Zahlen und hielt inne.

Das war das Signal zum aufpassen, sonst würde sich die ganze Sache noch mehr in die Länge ziehen. Ich setzte meinen super-alerten Blick auf. Es funktionierte. Stuart überging mich und schaute alle übrigen am Tisch der Reihe nach an. Erstaunlicherweise schienen alle in diesem Augenblick wach zu sein.

Ok, gibt es noch Fragen?“ Schweigen.
Nein, keine Frage, die roten Zahlen waren eindeutig richtig, richtig rot, so viel war klar. Crow, mittlerweile ohne hartnäckigen Klebezettel, flog auf den vordersten Tisch und setzte sich neben Stuarts Laptop. Dort schwankte er eine Weile wie besoffen hin und her und beäugte die Tastatur wie eine Schachtel teurer Pralinen bevor er beherzt danach hackte. Als er den Kopf wieder hob, schwenkte er triumphierend seine Beute. Es war der Buchstabe C.
C für Crow? fragte ich mich.

Obwohl ich ihn Crow nannte, war er genau genommen ein Rabe.
Für ein Mitglied der Corvus Corax Familie war er ein außergewöhnlich ruhiger Rabe, denn er machte tatsächlich überhaupt nie irgendein Geräusch. Nicht nur das, er war auch für alle anderen völlig unsichtbar; weil er natürlich nicht wirklich existierte.

Wirklich oder nicht, wir hatten sehr viel Spaß miteinander. Natürlich diente er auch einem guten Zweck, nämlich mich während der langweiligen monatlichen Bürositzungen wach und scheinbar aufmerksam zu halten.

Ich hätte sie ohne meinen guten Freund Crow niemals überlebt. Er eliminierte nicht nur die Langeweile, sondern verhalf mir zu dem Anschein intelligenter Aufmerksamkeit bezüglich aller Details in den weitschweifigen Präsentationen meines Managers.

Bis zu dem Ereignis im Café, diente Crow mir lediglich als Hilfe um die lästigen Büropflichten zu überstehen uns deshalb war er in der übrigen Zeit in einer versteckten aber geräumigen Voliere in meinem Kopf untergebracht.

Dann, eines Tages, saß ich im Café um auf den nächsten Zug zu warten, nachdem ich den da-vorigen aus unerklärlichen Gründen verpasst hatte. Der unwahrscheinlich lange Rührstock aus Holz der mit meinem Kaffee gekommen war, verlor den Geschmack von wildem Abendteuer viel früher als ich erwartet hatte und mich überkam die Langeweile, wie bei einem geschwätzigen Vertreter, den man schon zu dritten mal verabschiedet hat.

Aber zu Glück gab es Crow. Die Sache war nur die; im Gegensatz zu meine Arbeitskollegen, die ich als erlaubtes Freiwild betrachtete, kam es mir unhöflich vor unschuldige Fremde zu belästigen.

Crow respektierte mein Einstellung und zog sich diskret an die Decke zurück, wo er sich auf einem Balken niederließ, an dem die extravagante Beleuchtung befestigt war. Dort balancierte er prekär in seinem üblichen schwankendem Slapstick-Stil und äugte voller Schabernack auf mich herab. Augenblicklich sah ich mich durch seine Augen. Ich war die zusammengesackte Gestalt, die mit dem Rücken zu ihm saß.

Mein Haar sah erschreckend ungepflegt aus. Aber es war auf jeden Fall ich, der dort unten verdrießlich in seine Tasse starrte und den dämlichen Rührstock in den Fingern drehte. Hinter mir saß ein Paar am Tisch. Er hatte eine leichte Glatze und trug einen ordentlichen aber abgetragenen Anzug. Sie hatte glänzendes schulterlanges Haar mit einem schnurgeraden Pony, das ihr Gesicht wie ein Fenster einrahmte.

Es waren jedoch die blitzenden Goldknöpfen an ihrer roten Jacke, die Crows Aufmerksamkeit fast völlig in Anspruch nahmen. Hoffentlich hielt er sich an unsere Abmachung. Nachdem ich eine so unerwartet detaillierte Ansicht bekommen hatten, konnte ich es mir nicht verkneifen und drehte mich kurz um, um einen schnellen Blick auf das Paar zu werfen. Tatsächlich, da waren sie. Der einzige Unterschied lag in der Perspektive.

Crow blieb weiterhin oben an der Decke und ich schaute erneut durch seine Augen. Er beobachtete die Kellnerin die sich durchs Café schlängelte und in meine Richtung kam. Sie trug ein Tablett, das mit nicht ganz leergetrunkenen Gläsern beladen war. Crow flatterte runter und landete auf meinem Tisch und seine kratzigen Zehen schlitterten und tappten auf der glatten Oberfläche.

„Schöner Rabe“ bemerkte die Kellnerin. Sie lächelte über meine Verwirrung und hob erklärend eine Augenbraue in Richtung Crow, der sich ungeniert vor mir die Federn putzte.

„Danke,“ sagte ich verblüfft. Sie warf Crow einen bewundernden Blick zu und schlüpfte davon um den nächsten Tisch abzuräumen.

Ich wünschte mir sofort, dass sie zurück kommen würde. Sie musste mir erklären, wie es möglich war, dass sie Crow sah! Ich hätte warten können, bis sie auf ihrem Rundgang wieder an mir vorbei kam, aber mein Zug ging in wenigen Minuten. Ich wollte ihn wirklich nicht verpassen, sonst saß ich noch eine Stunde länger in der Stadt fest. Ich musste jetzt wirklich gehen.

Auf dem Heimweg hörte ich in meinem Kopf immer wieder die Bemerkung, die sie im vorbeigehen gemacht hatte.
Als ich endlich den Wohnblock erreicht hatte in dem ich wohnte, war ich mir sicher, dass sie etwas anderes gesagt hatte, etwas dass ich nicht ganz verstanden hatte, etwas dass entfernt nach Rabe klang. Sie hatte bestimmt nicht Rabe gesagt.

Ich stellte fest, dass der Aufzug voller Graffiti war. Es war ein unleserliches, rot-schwarzes Gekrakel, das in einem Bogen quer über die Tür gesprüht worden war. Ich versuchte es zu entziffern während ich wartete. Es schien teilweise aus einem Namen zu bestehen.

Ich überlegte ob eine Bande ihr Territorium markiert hatte oder ob jemand beweisen wollte, dass er existierte…wenigstens sich selbst?

Die Tür des Aufzugs öffnete sich und der meisten Buchstaben des zerhäckselten Namens schoben sich vorübergehend zusammen und verschwanden in der Wand. Ich stellte erleichtert fest, dass der Aufzug leer war und war gleichzeitig darüber schockiert, dass ich so erleichtert war.

Am nächsten Tag verpasste ich schon wieder meinen Zug. Ich war wütend. Als ich auf die Uhr schaute war ich noch wütender. Der verdammte Zug war zu früh abgefahren und ohne mich! Ich ging zum Schalter um mich zu beschweren, überlegte es mir aber nochmal anders als ich dort ankam.

Mir war klar, dass ich mich zum Idioten machen würde, wenn ich meine Wut an einem Angestellten ausließ, der sowieso nichts dafür konnte. Ich hatte oft genug den deplatzierten Zorn ärgerlicher Kunden erlebt, und wusste wie es sich anfühlt, wenn derlei ungerechtfertigte Hässlichkeit auf einen niederprasselt.

Deshalb entschied ich mich ins Café zu gehen um mich zu beruhigen. Ich musste auf alle Fälle warten bis der nächste Zug fuhr und so konnte ich wenigstens einen Kaffee trinken und die Sache erstmal in Ruhe überdenken, was sich am Ende hoffentlich auszahlen würde.

Die Kellnerin, die gestern die Bemerkung über Crow gemacht hatte, wie ich irrtümlicher weise gedacht hatte, bediente mich an der Theke und lächelte mich sehr warm und freundlich an, viel freundlicher als nötig gewesen wäre. Ich lächelte schwach zurück, immer noch verärgert über den Zug und etwas befangener als ich zugeben wollte, wegen der Raben-Bemerkung von gestern.

„Wo ist denn Ihr schöner Rabe?“ fragte sie. Ich schluckte und glotzte wie ein Kind, dass beim Schummeln erwischt worden war. Ich hatte mich selbst beschummelt.

„Entschuldigung?“ fragte ich, als hätte ich nicht richtig verstanden.
Sie legte ihren Kopf (ich wage es kaum zu sagen) vogelartig zu Seite und lächelte ein Lächeln das besagte:
„Na klar, als ob Du nicht wüsstest wovon ich rede…“

Ich nahm meinen Kaffee und ging zu meinem Lieblingstisch und schwor mir, auf keinen Fall noch einmal einen Zug zu verpassen und auf gar, gar keinen Fall je wieder in dieses Café zu gehen, auf gar keinen Fall.

Ich schaute auf die Uhr. Wenn ich mir zehn Minuten Zeit ließ um zum Bahnhof zu laufen, blieben immer noch vierzig Minuten, bevor der Zug fuhr.

Crow schielte mich mit seinem wissenden Blick an und wackelte auf der Lehne des Stuhls herum, der mir gegenüberstand. Er war mal wieder unruhig. Ich gab nach und er sprang sofort auf, von schierer Aufregung angetrieben, sodass er kaum die glänzenden Flügel schlagen musste.
Er setzte sich wieder auf seinen Balken und beäugte spöttisch meine strubbeligen Haare. (Ich musste wirklich etwas an meiner Frisur ändern.)

Von seinem Aussichtspunkt aus, sah ich die Kellnerin mit einem Tablett auf meinen Tisch zu kommen. Ihr Blick ging nach oben und sie schaute mich an. Nein, das stimmte nicht. Sie schaute nicht mich an sondern Crow, der dort oben saß.

Ich wusste, dass es ein Fehler war, aber ich konnte es mir nicht verkneifen und drehte mich um. Sie senkte in perfekter Synchronizität den Kopf, sodass unsere Blicke sich begegneten. Ich hatte plötzlich das Bedürfnis mich zu verstecken. Sie lächelte entwaffnend.

„ Er ist wirklich hinreißend.
Wie heißt er denn?“ fragte sie, als ob er wirklich lebendig dort oben säße.

„Crow“ krächzte ich. „Es ist natürlich eigentlich ein Rabe aber ich nenne ihn Crow. Sie grinste über meinen Witz, der seltsam abgedroschen klang obwohl ich ihn zum ersten mal erzählte.

„Ich habe einen Leoparden,“ sagte sie stolz.

In meinen Gedanken spielten sich die möglichen Implikationen dieser haarsträubenden Aussage gleichzeitig ab. Entweder war sie völlig verrückt und bildete sich ein, sie habe einen Leoparden oder sie machte einen Witz, den ich nicht verstand. Es gab noch andere Erklärungen die mir sofort in den Sinn kamen aber es bestand die dringende Notwendigkeit jetzt zu antworten.

„Wie interessant“ sagte ich unverbindlich.

„Ich habe morgen meinen freien Tag, wenn Du sie sehen willst“ bot sie an. „Ich geh mit ihr immer im Park dort drüben spazieren“ Sie zeigte auf das große bogenförmige Tor, das durch das Fenster in einigen Metern Entfernung zu sehen war. Dann drehte sie sich um und ging davon.

„Ich bin ungefähr um diese Uhrzeit dort, falls Du Lust hast,“ rief sie über ihre Schulter zurück. Der spätere Zug war voll gestopft wegen Feierabend und ich hatte Glück, dass ich überhaupt einen Sitzplatz bekam. Kaum hatte ich mich hingesetzt, wünschte ich mir, dass ich stehen geblieben wäre, denn aus dem Kopfhörer meiner Sitznachbarin drang eine entsetzlich blechern klingende, schlechte Musik die ich gezwungener Maßen mitanhören musste

Als ich beim meinem Wohnblock ankam, hing am Aufzug ein Schild auf dem „ausser Betrieb“ stand, was ich aber erst sah als ich schon auf den Knopf gedrückt hatte. Ich stapfte die Treppe hoch und begegnete einem eingeklemmten Einkaufswagen der mir Weg versperrte.

Es machte ungeheuer viel Krach bis ich ihn frei gezerrt hatte. Er knallte und krachte von Stufe zu Stufe bis er auf dem unteren Treppenaufsatz zu Stillstand kam. Dort lag er auf der Seite und hob schwach und hilflos zwei Räder in die Luft, als würde er um Gnade flehen. Keiner kam heraus um zu sehen was passiert war, wahrscheinlich traute sich keiner.

Am nächsten Tag fuhr mein Zug schon wieder zu früh und ich vergaß völlig, dass ich mich nicht aufregen wollte. Ich war bleich vor Wut. Der Mann am Schalter hörte sich ohne mit der Wimper zu zucken meine ganze Schimpftirade bis zum bitteren Ende an, was ich ihm hoch anrechne.
Dann schob er mir den neuen Fahrplan unter dem kugelsicheren Glas zu. Der Zug war zu früh abgefahren, weil das seine neue Abfahrtzeit war.

Ich fühlte mich wie ein Vollidiot und entschuldigte mich gequält. Dann lief ich wie ein Zombie auf’s Café zu. Als ich bei der Tür angekommen war, hörte ich die Kellnerin rufen. Sie stand neben dem Tor zum Park und an ihrer Seite sah ich einen riesigen Leoparden. Ich stutzte als ich sah, dass er ohne Leine war.

„Sie tut Dir nichts,“ beruhigte sie mich.

„Wunderschön.“ sagte ich, meinte aber gefährlich.

„Sie heisst Sheba und ich heisse Ursula,“ sagte sie mit der Sachlichkeit eines Kindes, das beide Namen gerade erfunden hat.

Sie gab mir die Hand. Ihr Griff war fest und wärmte mir das Herz.

„Steve.“ Ich wollte noch mehr sagen, aber ihre betörend jungelgrünen Augen blickten forschend in meine, als wollte sie abwägen ob der Namen zu meinem Gesicht passte. Sah ich wie ein Steve aus, fragte ich mich? Wir schlenderten zusammen durch den Park. Sheba blieb an ihrer linken Seite und ich (in respektvollem Abstand zum Raubtier) an ihrer rechten.

„Seit wann hast Du sie?“ fragte ich und überlegte gleichzeitig insgeheim, wie zahm das Biest wirklich war.

„Ach, fast sieben Jahre. Und Du, wann hast Du Crow kreiert?“

Ich hatte das bisher noch nicht so gesehen, aber sie hatte recht, ich hatte Crow kreiert.

„Das muss auch ungefähr vor sieben Jahren gewesen sein. Was für ein Zufall!“ rief ich aus.

Sie verlangsamte etwas den Schritt bevor sie antwortete, als wäre sie von der Oberflächlichkeit meiner Bemerkung etwas irritiert.

„Es gibt keine Zufälle, Steve“ sagte sie mit einer seltsam ruhigen Stimme.

Wir gingen auf den verlassenen Musikpavillon zu und setzten uns auf die Stufen. Der Leopard kauerte nah an Ursulas Seite und legte seinen mächtigen Katzenkopf in ihren Schoß.

„Sie ist sehr gut erzogen,“ sagte ich um ihre Stimmung wieder aufzuhellen. Ursula kraulte das dichte Fell in Shebas Nacken, was dem Tier ein tiefes Schnurren entlockte.

„Ja schon …“ sie lehnte sich in meine Richtung und flüsterte in fast verschwörerischem Ton: „aber sie ist schrecklich verwöhnt.“

Ihre Lippen waren voll. Sie bewegten sich wie zwei pralle Früchte sehr verlockend direkt vor meinen eigenen Lippen auf und ab. Ein Staccato von Tanzschritten auf dem Blechdach über uns, das mit dem sauberen Kratzen eines Zehnnagels zum Finale kam, verscheuchte meine Gedanken wie einen Schwarm von Spatzen.

„Ah, Crow! Da bist Du ja!“ rief Ursula und schaute nach oben. „Genießt Du den schönen Sommertag im Park?“

Crow plusterte seine Federn am Nacken auf und legte seinen Kopf zur Seite, um sie mit seinem perligen Glanzauge anzustrahlen. „Ich glaube ihm gefällt es hier.
Sollen wir noch etwas weiterlaufen?“ fragte sie und stand bereits auf. Wir folgten dem Rundweg, der uns, unter anderem, um einen dreistrahligen, Champagne-schaumigen Springbrunnen herumführte.

Crow war uns immer etwas voraus und segelte von einem Baum zum nächsten. Im Spiel fing er an Eicheln aufzuheben, die er vor uns auf den Weg fallen ließ bis wir wieder beim Tor angekommen waren. Von dort aus konnte ich das Café sehen und plötzlich fiel mir mein Zug ein. Ich schaute auf die Uhr. Ursula schien sich über meine plötzliche Panik seltsamer Weise zu amüsieren.

„Mein Zug,“ erklärte ich. Es kam mir unhöflich vor so abrupt aufzubrechen. „Wir können uns morgen wieder treffen wenn Du willst?“ sagte ich noch. Sie nahm meine beiden Hände und lächelte.

„Ja, das wäre sehr schön.“ Und dann zog sie mich zu sich und wir küssten uns sehr schnell, bevor sie mich losließ und sich auf dem Absatz umdrehte. Ich schaute ihr nach, wie sie im Hüpfschritt in den Park zurückkehrte; der treue Leopard mit großen Sprüngen neben ihr her.

Als ich aus dem Zug stieg, bemerkte ich zum ersten mal an diesem Tag wie kalt es war. Es lag Regen in der Luft aber es kümmerte mich nicht im geringsten. Ich dachte an nichts anderes als an Ursula. An die schöne Ursula mit ihrem erstaunlichen Leoparden.

Ich nahm die Treppe ohne überhaupt zu schauen, ob der Aufzug wieder in Betrieb war.
Als ich auf meine Wohnung zuging, wurde das gleichmäßige dumm, dumm, dumm der gedämpften Musik immer lauter. Es waren meine Nachbarn. Innerhalb der Wohnung selbst, trommelte sich der Lärm mühelos durch die dünnen Pappwände.

Gegen Mitternacht wurde es immer lauter und sie übertönten die Musik durch Schreien. Kurz nach zwei Uhr morgens drehten sie es noch eine Nummer höher und kreischten sich an. Ich redete mir ein, dass das laute Rumpeln und Krachen durch umfallende Möbelstücke verursacht wurde.
Dann hörte alles auf.
Die Musik riss ab und Stille setzte ein. Jetzt konnte ich wegen der Stille nicht schlafen. Es war die falsche Art von Stille.

Wie erwartet war Sheba an Ursulas Seite als wir uns wieder im Park trafen. Ich hatte den Eindruck, dass Sheba mich dieses mal auf subtile aber freundliche Art zu wertschätzen schien.

„Natürlich mag sie Dich Steve,“ sagte Ursula als ich es erwähnte. „Wie könnte sie Dich nicht mögen?“
Sie drückte meinen Arm um die Tatsache zu unterstreichen und wir wanderten den Weg entlang zum Musikpavillon. Ein gelber Luftballon flog vorbei und seine Schnur schleifte über das kurze, samtige Gras.

Crow hüpfte fasziniert hinterher, konnte sich aber nicht entscheiden, ob er nach der Schnur schnappen sollte oder nicht. Wir folgte ihm belustigt und kamen zu einem Eisverkäufer. Er trug eine altmodische, theatralische Militäruniform und tippte sich an den Hut als wir uns näherten. Sein Eiswagen war bunt geschmückt und fuhr auf zwei riesengroßen Wagenrädern. Ich schaute mir die kunstfertigen, selbstgemalten Illustrationen auf der Seite des Wagens an, auf denen die verschiedenen Eissorten zu sehen waren.

„Was hättest Du gern?“ fragte ich. Sie lächelte mit großen Augen wie ein Kind.
„Oh! Ich will bitte ein Erdbeer-Bananen-Blaubeereis!“ Ich war mir nicht sicher ob es diese Sorte überhaupt gab. Auf den Bildern waren nur die üblichen einfachen Sorten abgebildet. Ich musste ihre Bestellung nicht wiederholen denn schon überreichte der Verkäufer zu meiner Überraschung das fertige Eis mit einem eleganten Schwung. Ich bestellte Vanille und wieder zauberte er es augenblicklich für mich hervor. Es war von der weichen, kremigen Sorte. Ich wusste gar nicht, dass man sie in dieser Form lagern konnte. Er tippte sich wieder an den Hut und lächelte als ich bezahlte.

Wir liefen weiter und leckten unser Eis. Ursula erlaubte es Sheba üppige Portionen von ihren Fingern zu lecken und Crow probierte auch etwas. Schließlich kamen wir zu einer kleinen, buckligen Steinbrücke und hielten an um in den Bach zu schauen. Unsere Spiegelbilder schauten aus dem klaren Wasser zu uns zurück und da merkte ich wie sinnlos glücklich wir waren.

Am Samstag verbrachten wir den ganzen Tag zusammen. Ursula hatte einen Picknickkorb dabei und wir saßen am Seeufer und hörten die leisen Klänge der um-da-da- Musik, die vom Musikpavillon zu uns hinüber schwebten. Crow untersuchte den Korb mit seinem Schnabel und versuchte spielerisch den Deckel aufzukriegen.
Ich wußte, dass er nur Schabernack treiben wollte und nicht wirklich daran interessiert war hinein zu kommen. Ursula lag auf der Seite und hatte ihren Kopf auf Shebas Hals gelegt. Es sah aus, als läge sie auf einer Chaise-Longue mit Leopardenfell.

„Jetzt siehst Du aus wie die Königin von Sheba,“ lachte ich.

Bevor Ursula etwas erwidern konnte wurden wir von einem lauten Gekreische unterbrochen. Es war Crow. Er hatte seinen Kopf im Picknickkorb eingeklemmt. Ich rettete ihn. Seine Federn waren aufgeplustert und er stand einige Augenblicke missmutig da und beäugte argwöhnisch den Korb.
Wir lachten und glätteten seine Federn (und seine Empörung) bis er sich wieder beruhigt hatte. Er war entzückt über die Aufmerksamkeit und schmiegte sich an meine Hand um den ungewohnten körperlichen Kontakt auszukosten. Seine Federn waren viel weicher als ich erwartet hatte und ich nahm mir vor ihn künftig öfter zu liebkosen.

Ursula verteilte das Essen. Sheba bekam ein leckeres Brötchen mit Salat. Sie nahm es mit äußerster Vorsicht aus Ursulas Fingern und klemmte es sich zwischen ihre Zunge und messerscharfen Zähne.

Crow wurde nicht ausgelassen und pickte geschickt nach der prallen Erdbeere, die sie ihm auf ihrer Handfläche anbot. Ich machte mich nützlich und öffnete den auf mysteriöse Weise gekühlten Wein.
Wir stiessen auf diesen wunderbar magischen Tag an und da sprang ein silberner Fisch aus dem See und spiegelte blitzend das Sonnenlicht und es verwob sich mit dem kristallklaren Ton unserer angestossenen Gläser.

Gegen Abend wanderten wir tiefer in den Park hinein bis wir zu einer Wiese kamen. Sie war voll von wilden Blumen in sanftem rot, gelb und lila. Sie verschmolzen ineinander, noch flüssig und frisch von ihrer Berührung mit dem fruchtbaren Pinsel der Leidenschaft. Ich verlor mich in den Farben, in dem Gedränge subtiler Schattierungen. Sie verschmolzen, formten sich um und verschmolzen wieder unter den leuchtend orangen Armen der schläfrigen Sonne.

Die Blumen teilten sich für Sheba als sie hindurch schritt und einen wehenden Schleier bunter Blütenblätter hinter sich her zog. Crow rollte als stille Silhouette am bernsteinfarbenen Rand der Dämmerung über dem geschmeidigen Leoparden. Ganz allmählich näherten die beiden sich einem Feldweg, der zu einem gemütlichen kleinen Haus führte und wir folgten ihnen. Ich wußte, dass es dort einen Kräutergarten gab und gutes Essen auf dem kleinen dreibeinigen Tisch. Ich wußte auch, dass es Ursulas Haus war.

„Es ist wunderbar,“ flüsterte ich in die ruhige Stille hinein.
Ursula verwob sanft ihre Finger mit meinen, sodass wir uns noch näher waren.

„Ich würde gern für immer mit Dir hier sein,“ sagte ich – und versagte jämmerlich bei dem Versuch die schmerzhafte Welle von Traurigkeit aufzuhalten, die mich überkam.

„Ich hasse mein Leben,“ gestand ich. Ursula schaute mir mit ihrem typischen Ausdruck von verwunderter Belustigung in die Augen und fragte „Wenn Du Dein Leben so sehr hasst, warum hast Du es kreiert?“

24.06.2018
© Carl Franz
Aus dem Englischen übersetzt von Michaela Wider
www.themindofmishka.weebly.com

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Corvus und der Raabe Crow franz Carl WiderCarl Franz

Der Autor und Künstler lebt auf dem Land im wunderschönen Yorkshire, England.
Er ist Reiki Meister und Traumdeuter, liebt Katzen und die Kommunikation mit der Natur.
Seine Werke erscheinen regelmäßig in der lokalen Zeitschrift “Howden Matters” und auch in Online-Zeitschriften.
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