Hast du zugehört?

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Hast du zugehört?

“Hast Du zugehört?” Wer kennt diese Frage nicht…, die wir vielleicht als unangenehm empfinden, als Kritik, als Tadel.
Und schnell sind wir dann bereit mit der Verteidigung: „Ja, ich habe es gehört“.

Gehört… Reicht das?
Und was wäre dann Zuhören?

(Im folgenden Text benutze ich, der Einfachheit halber, die männliche Formulierung, die sich eigentlich auf „der Mensch“ bezieht. Also übersetze bitte einfach den für dich stimmigen Ausdruck.)

Hearing und Listening

Im Englischen gibt es den Unterschied zwischen Hearing und Listening. Während das erste sich auf die Fähigkeit und Funktionalität der Ohren bezieht, also eine rein körperliche Qualität, ist das Zweite eine viel komplexere Angelegenheit, die über das Körperliche hinausgeht.

In der heutigen Zeit, wo Kopfhörer zum fast notwendigen Alltagsgegenstand zählen und in den meisten Läden eine permanente Musikbeschallung für normal angesehen wird, haben wir uns daran gewöhnt, dass unsere Ohren dauernden Klängen ausgesetzt sind. Sowohl am Arbeitsplatz als auch zu Hause, im Restaurant, im Fitnessstudio, beim Friseur…, wo immer es möglich ist, erklingt Musik im Hintergrund. Du hörst Musik. Du lässt dich davon berieseln, aber du hörst nicht wirklich zu.

„Ja, das muss so sein, ohne Musik ist es leer, langweilig!“

So empfinden viele, vor allem jüngere Menschen, auch du?

Warum eigentlich?
Was ist denn interessanter an den zusätzlichen Geräuschen?
Möchtest du etwas übertönen?
Vielleicht den Straßenlärm?
Oder vielleicht den Lärm deiner Gedanken?

Fühlst du dich einsam ohne Musik?

Musik ist so belebend und wohltuend, wenn wir ihr die ganze Aufmerksamkeit widmen. Das spürt jeder, der selber ein Instrument spielt oder singt und es sich dabei nicht leisten kann, an irgendetwas anderes zu denken. Es zählt dann nur der Augenblick!

Zuhören hat etwas damit zu tun, dem, was man hört, voll zugeneigt zu sein. Das heisst, es gibt nichts anderes daneben. Keine Handy Nachrichten. Keine Ablenkung. Nichts sagen. Nichts anderes tun. Einfach zuhören.

Zuhören bedeutet, zugeneigt zu sein

Immer wieder stelle ich fest, dass Menschen miteinander kommunizieren, in dem sie vor allem reden.  Jeder will reden. Jeder will seine Gedanken äußern. Oft tun sie das sogar gleichzeitig.

Aber, wer hört denn zu?

Wohl hörst du, was der andere sagt, und, noch während er spricht, drängen sich in deinem Kopf bereits die Antworten zusammen, die du als nächstes äußern willst. Vielleicht bist du höflich und hast gelernt, jemanden ausreden zu lassen. Aber du wartest nur darauf, deine Meinung zu äußern. Die Sätze folgen schnell hintereinander, es gibt kaum Pausen dazwischen.

Pausen, in denen das Gesagte wirken könnte…
Es muss schnell gehen.

Bei „Whatsapp“ gibt es sogar eine Funktion, mit der man Sprachnachrichten zwei- oder dreimal schneller abspielen kann, falls einem das Gesagte nicht schnell genug erscheint!

Eben, es muss schnell gehen.
Warum eigentlich?

In diesem schnellen Hin- und Her von Sätzen, die ihre Wirkung nicht entfalten können, entstehen Missverständnisse. Jeder nimmt das Gehörte, setzt es kurz den eigenen Gedanken entgegen, beurteilt sie in Windeseile und gibt dann seine Meinung wieder. „Wir verstehen uns“ heißt es dann allenfalls oder eben genau das Gegenteil: „Wir verstehen uns nicht“.

Wir hören, was wir hören wollen

„Wir hören, was wir hören wollen“, heißt es so schön. Die Sätze gehen in unser Gehirn, wo der Verstand, einem Computer gleich, eine Schnellsortierung vornimmt. Er vergleicht zunächst, ob das Gehörte bereits bekannt ist, wenn nicht, dann wird es meistens schon mal ausgeklammert.

Ist es etwas Bekanntes, dann existiert ja auch bereits eine Erfahrung und daraus resultierende Meinung dazu. Die ist bereits erprobt und die kann man dann einfach äußern. Ob sie jetzt tatsächlich zu dem passt, was der andere gesagt hat, ist ja unwichtig, Hauptsache, man hat eine Meinung geäußert. Am besten eine, mit der man gut ankommt.

Wir hören das, was in unser Denkmuster passt

Dieser Filter gibt uns die entsprechende Bewertung zu dem Gehörten. Wir vergleichen es mit uns selbst. Wir mögen oder verurteilen es, aber in jedem Fall bewerten wir es irgendwie. Daraus entstehen Vorurteilen, Meinungsmache, Missverständnisse, Streit und Krieg.

Vorurteile, Meinungsmache, Missverständnisse

Sie prägen unsere Kommunikationen und werden von den wenigsten Menschen bemerkt. Man fühlt sich allenfalls gut mit jemandem oder eben nicht, je nachdem, was da an Gesagtem rüber kommt. Daraus bilden sich Gruppierungen, Zugehörigkeiten von Gleichgesinnten…, und man bekämpft sich gegenseitig, bzw. das, was anders ist. Jeder will Recht haben mit seiner Meinung.

Was wir heute im Zusammenhang mit Rassismus und Gender erleben, geht genau in diese Richtung! Es gibt so Vieles, was man nicht mehr sagen „darf“, was verpönt ist! Wer kümmert sich schon um den wahren Grund?

Warum ist das alles so verzwickt und schwierig?

Weil wir nicht zuhören!

Zuhören… das konnten wir mal, als wir noch sehr klein waren!

Ein Kleinkind hört nicht einfach, es lauscht! Es lauscht auf jedes Geräusch. Noch kann es nicht einordnen, was es hört, aber es richtet seine ganze Aufmerksamkeit auf den Klang, den es vernimmt. Ein Vogel, ein Hundegebell, das Ticken einer Wanduhr, die Stimme der Mutter oder des Vaters… Das Kind lauscht! Lauschen ist eine aufmerksame Hinwendung, interessiert und ohne Bewertung!

Ein Kleinkind hört nicht einfach, es lauscht

Beim Zuhören kommt noch etwas dazu: Nicht nur das Lauschen, sondern das Aufnehmen, Annehmen des Gehörten. Du lässt dich berühren!

Sich berühren lassen

Wenn du dich darauf einlässt, einer Melodie oder einem Konzert zuzuhören, dann bist du mit ungeteilter Aufmerksamkeit dabei! Du nimmst jeden Klang in dich auf, spürst, was er in dir bewirkt. Du hörst zu. Die Musik ist dann nicht einfach Geräuschkulisse, sondern die Hauptsache. Sie ist Kunst, eine Art Nahrung für dich. Es gibt in diesem Moment nichts anderes, nur diese Musik.

Eine Art von Musik sind somit auch das Tosen der Wellen am Meer, das Rauschen eines Baches, das Prasseln des Regens auf dem Dach, das Heulen des Windes… das Zwitschern der Vögel… und vieles mehr. Vielleicht hast du schon erlebt, wie beglückend und erfrischend es sein kann, diesen Geräuschen einfach zuzuhören.

Wie wäre es, wenn wir bei Gesprächen mit Menschen richtig zuhörten?

Richtig zuhören

Um das zu können, braucht es die Bereitschaft, offen zu sein. Offenheit, welche, wie ein leerer Krug, die Flüssigkeit aufnimmt. Während die Worte und Sätze einfach hineinfließen dürfen, ohne sich durch die „Sicherheitskontrolle“ des Verstandes schlängeln zu müssen, können sie sich ausbreiten und wirken. Da gibt es keine Zurückweisung, kein Vergleichen, kein Zustimmen oder Ablehnen. Das Gesagte hat uneingeschränkten Einlass.

Mit dieser Aufmerksamkeit nimmst du dein Gegenüber wahr.
Du hörst nicht nur seine Worte, du spürst sie auch.

Du nimmst auch das wahr, was nicht gesagt wird…, das, was sich in der Gestik zeigt, und das, was du vielleicht als Schwingung spürst.

Wer wirklich zuhört, hört „mit dem Herzen“ und nicht mit dem Verstand. Das heißt, der Filter wird übergangen. Du hörst, was wirklich gesagt wird, und nicht, was du denkst, dass der andere sagt!

Wenn wir wirklich zuhören, hören wir mit dem Herzen

Du bist nicht einverstanden?

Musst du auch nicht ! Was andere Menschen sagen, hat im Grunde nichts mit dir zu tun. Es sind die Gedanken und Worte deines Gegenübers. Es ist nicht notwendig, sofort auf alles zu reagieren! Vor allem dann, wenn dein Gegenüber offensichtlich emotional geladen ist und dich beschuldigt oder verletzen will, halt einen Moment inne, bevor du reagierst. Was gesagt wird, musst du nicht wie einen schmutzigen Lappen zwangsläufig durch deine Emotionen ziehen und dann dementsprechend getränkt wieder zurück schleudern. Es ist viel hilfreicher zu merken, dass derjenige, der dich verurteilt, eigentlich sich selbst meint damit. Hör einfach zu, nimm es zur Kenntnis. Das genügt.

Vielleicht wartest du, bis du einen Impuls spürst für die „richtige“ Antwort, die Antwort aus deinem Herzen. Es geht auch hier darum, dem zuzuhören, was deine Intuition, die Stimme aus deinem Inneren sagt.

Um zuzuhören, ganz gleich ob auf unsere Gesprächspartner oder auf Musik und Geräusche aus der Natur, um das zu können, braucht es einen stillen Empfänger. Es braucht Leere, um etwas empfangen zu können. Offenheit. Und es braucht Zeit. Manchmal geschieht es, dass wir viel später erst verstehen, was eigentlich gesagt worden ist!

Zuhören braucht Stille, Leere und Offenheit

Es braucht also genau das, was in unserer Gesellschaft vermieden wird: durch ständige akustische Berieselung, durch ständige Beeinflussung des Verstandes, durch Meinungsmache, durch ständige Beschäftigung, durch Zeitdruck.

Würden wir wieder lernen, aufmerksam zuzuhören, könnten nicht nur wir Menschen uns untereinander besser verstehen, sondern sogar alle Lebewesen!

Mit herzlichen Grüssen

Navyo Brigitte Lawson
22.03.2023

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