Können Traumata ansteckend sein?
Traumatische Erfahrungen, unabhängig davon, ob sie durch eine Katastrophe, sexuellen Missbrauch oder Krieg verursacht wurden, können nicht nur die Betroffenen belasten, sondern auch andere Personen beeinflussen. Es besteht die Möglichkeit, dass sich eine posttraumatische Belastungsstörung auf Angehörige, Helfer und sogar Therapeuten überträgt. Es scheint also möglich zu sein, dass Traumata quasi ansteckend wirken. Ein klinischer Psychologe, der nach den Ereignissen vom 11. September 2001 in New York Patienten behandelte, die unter einer posttraumatischen Belastungsstörung litten, sah sich selbst jahrelang mit den belastenden Bildern konfrontiert. Obwohl der Psychologe nicht direkt am Unglücksort war, prägten sich die schrecklichen Bilder, die in den Gesprächen mit den Traumatisierten gezeichnet wurden, in sein Gedächtnis ein. Die Bilder ließen ihn weder im Alltag noch im Schlaf los. Die Behandlung von Personen, die live miterlebten, wie die Twin Towers einstürzten und brennende Menschen aus den Gebäuden flüchteten, führte zu den ersten Panikattacken im Leben des Psychologen.
Indirekte Traumatisierung
Der Mediziner ist nicht der einzige Fall. Auch wenn viele Menschen, die regelmäßig mit traumatisierten Personen in Kontakt sind, gut mit deren Traumata umgehen können, erleben einige ähnliches wie der Psychologe. In den letzten Jahren hat sich die Evidenz verdichtet, dass neben Familienmitgliedern und Psychologen auch Polizisten, Rettungskräfte usw., die mit traumatisierten Kriegsveteranen, Missbrauchsopfern, Drogensüchtigen oder Verletzten zu tun haben, Symptome einer posttraumatischen Belastungsstörung entwickeln können. Im Rahmen dieser Störung erleben sie sogenannte Intrusionen, wie Albträume, Flashbacks oder quälende Bilder. Sie durchleben wiederholt die schrecklichen Ereignisse, obwohl sie nicht ihre eigenen sind. Sie fühlen sich deprimiert, leiden unter Schlafstörungen und befinden sich in einem ständigen Alarmzustand aufgrund einer durch Stress verursachten Übererregung. Es reicht aus, um eine indirekte Traumatisierung zu erfahren, wenn einer Person die Details des jeweiligen Traumas anschaulich geschildert werden, selbst wenn diese Person keine direkten Sinneswahrnehmungen hat und zwischen dem traumatischen Ereignis und der indirekten Traumatisierung zeitlich Abstand liegt.
Forschung und Studien
In der fünften Ausgabe des “Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders” (DSM) wurden die bereits erwähnten Ergebnisse berücksichtigt. Um eine posttraumatische Belastungsstörung zu diagnostizieren, ist kein direkter Kontakt mehr erforderlich. Dies bedeutet, dass eine Person nicht unbedingt einem traumatischen Ereignis ausgesetzt sein muss, um diagnostiziert zu werden. Weder als Opfer noch als Zeuge vor Ort zu sein, ist notwendig.
Es genügt vielmehr, wenn der Person Details des Traumas verbal mitgeteilt wurden. In der Forschung werden dafür verschiedene Begriffe verwendet: Neben “indirekte Traumatisierung” ist auch “sekundäre Traumatisierung” gebräuchlich. Dabei handelt es sich um eine Traumatisierung ohne direkte Sinneseindrücke und aus zeitlicher Distanz zum traumatischen Ereignis. Das Risiko für sekundäre Traumatisierung wurde in verschiedenen Studien untersucht und liegt je nach untersuchter Personengruppe und Studie zwischen zehn und 20 Prozent. Kann Trauma ansteckend sein?
Sekundäre Traumatisierung
Die Ergebnisse verschiedener Studien zeigen, dass vergleichsweise viele Menschen – etwa jeder Fünfte bis Sechste – an sekundärer Traumatisierung leiden. Es stellt sich die Frage, welche Symptome einer posttraumatischen Belastungsstörung von einer Person auf eine andere übertragen werden können. Besonders bemerkenswert ist, dass sinnliche Eindrücke von einem Kopf in einen anderen übergehen können. Sekundäre Traumaopfer haben im Gegensatz zu primären Traumaopfern keine direkten sinnlichen Inputs, die im Gedächtnis gespeichert sind.
Sie haben lediglich Vorstellungen davon. Untersuchungen legen nahe, dass Sinneseindrücke auch im Gedächtnis der Zuhörer haften bleiben können. Studienteilnehmer berichten von visuellen Intrusionen, selbst wenn das traumatische Ereignis nur verbal beschrieben oder als Skript präsentiert wird. Psychologen erklären dieses Phänomen damit, dass visuelle Vorstellungen in bestimmten Hirnregionen entstehen, die sich teilweise mit den Regionen überschneiden, in denen das visuelle Wiedererleben verarbeitet wird. Daher gehen Wissenschaftler davon aus, dass es für das Gehirn keinen Unterschied macht, ob traumatische Bilder durch reale Eindrücke oder Vorstellungen entstehen. Beides kann zu visuellen Intrusionen und Belastungen führen.
Empathie und Risiken
Eine wichtige Frage ist, warum nur etwa jeder Fünfte oder Sechste von sekundärer Traumatisierung betroffen ist, während andere das Gehörte relativ gut verarbeiten können. Es wird angenommen, dass die individuelle Person und ihre Situation eine Rolle spielen. Untersuchungen deuten darauf hin, dass die Empathiefähigkeit einer Person, also die Fähigkeit, sich in die Gefühle der primär Betroffenen hineinzuversetzen und das traumatische Ereignis emotional mitzuerleben, das Risiko einer indirekten Traumatisierung deutlich erhöhen kann.
In einer Studie wurden Therapeuten als Probanden untersucht und eineinhalb Jahre nach der ersten Befragung erneut evaluiert. Es stellte sich heraus, dass Therapeuten mit größerer emotionaler Empathie nach eineinhalb Jahren eher von sekundärer oder indirekter Traumatisierung betroffen waren. Ein weiterer Faktor, der die “Ansteckungsgefahr” erhöhen könnte, ist mangelnde Distanz. In einer anderen Studie fanden Forscher heraus, dass Frauen von ehemaligen Kriegsgefangenen anfälliger für sekundäre Traumatisierung waren, wenn sie sich stark mit ihren Ehemännern identifizierten und deren traumatische Erlebnisse internalisierten. Kann Trauma ansteckend sein?
Existieren indirekte Traumata? Diskussionen unter Experten
Eine weitere interessante Frage, der die Forscher nachgehen, betrifft die Möglichkeit, dass das Risiko einer sekundären Traumatisierung bei Personen, die bereits selbst traumatische Erfahrungen gemacht haben, steigt. Es wird auch debattiert, ob indirekte Traumatisierungen überhaupt existieren. Einige Experten vertreten die Ansicht, dass sich die direkt erlebten Traumata im Laufe des Lebens “aufsummieren” und mit jedem neuen traumatischen Ereignis die Wahrscheinlichkeit einer posttraumatischen Belastungsstörung steigt. Wenn diesen Personen dann von einem traumatischen Ereignis berichtet wird, ist dies nur noch ein weiterer Tropfen auf den heißen Stein. Andere Experten widersprechen dieser Annahme jedoch und verweisen darauf, dass in Studien nur ein geringer Zusammenhang zwischen eigenen Traumata und der Entwicklung einer indirekten Traumatisierung festgestellt wurde. Sollten Personen wie Therapeuten oder Angehörige selbst eine traumatische Vergangenheit haben, sollte der Begriff “indirekte Traumatisierung” oder “sekundäre Traumatisierung” mit Bedacht verwendet werden. In den meisten Fällen handelt es sich dann nicht um eine indirekte Traumatisierung, sondern eher um eine Retraumatisierung. Trotzdem bleibt die Diagnose in beiden Fällen gleich, da es sich um eine posttraumatische Belastungsstörung handelt.
Maßnahmen zur Vorbeugung
Dennoch gibt es effektive Strategien und Maßnahmen für Therapeuten, Familienmitglieder und andere Beteiligte, um einer sekundären Traumatisierung entgegenzuwirken. Therapeuten, Familienmitglieder oder Helfer haben die Möglichkeit, während Gesprächen mit dem primär Betroffenen den Fokus auf positive Aspekte wie einen möglichen Heilungsprozess zu lenken. Auf diese Weise kann es gelingen, den erforderlichen emotionalen Abstand in der jeweiligen Rolle zu bewahren und sich in die Lage zu versetzen, dem Betroffenen Unterstützung zu bieten. Sollte dies nicht gelingen, könnte der Helfer aufgrund der belastenden Erinnerungen selbst zum Patienten werden, was unbedingt vermieden werden sollte.
28.11.2018
Heike Schonert
HP für Psychotherapie und Dipl.-Ök.
Heike Schonert
Heike Schonert, Heilpraktikerin für Psychotherapie, Diplom- Ökonom. Als Autorin, Journalistin und Gestalterin dieses Magazins gibt sie ihr ganzes Herz und Wissen in diese Aufgabe.
Der große Erfolg des Magazins ist unermüdlicher Antrieb, dazu beizutragen, dieser Erde und all seinen Lebewesen ein lebens- und liebenswertes Umfeld zu bieten, das der Gemeinschaft und der Verbindung aller Lebewesen dient.
Ihr Motto ist: „Wenn wir ehrlich zu uns selbst sind, uns als Ganzheit begreifen und von dem Wunsch erfüllt sind, uns zu heilen und uns zu lieben, wie wir sind, werden wir diese Liebe an andere Menschen weiter geben und mit ihr wachsen.“
Hinterlasse jetzt einen Kommentar