Seele und Unsterblichkeit – Platon und die Bhagavad-gita

Seele und Unsterblichkeit Bhagavad gita Tattva Viveka Ronald EngertPlaton und Bhagavad-gita
Erstaunliche Übereinstimmungen

Platons Phaidondialog enthält frappierende Übereinstimmungen zur indischen heiligen Schrift Bhagavad-gita.
Die Unterscheidung von Körper und Seele, die Frage nach der Existenz vor und nach dem Tode, die Unsterblichkeit der Seele, Wahrnehmung und Erkenntnis sind einige der Themen, die in den beiden philosophischen Werken korrespondieren.

Inhaltsverzeichnis

»Eben daraus also, dass ich weiß, ich existiere, und einstweilen nur von meinem Denken gewahr werden konnte, dass es zu meiner Natur oder meinem Wesen gehört, eben daraus schließe ich mit Recht, dass mein Denken auch allein im Denken besteht … so ist, sage ich, soviel gewiss, dass ich von meinem Körper wahrhaft verschieden bin und ohne ihn existieren kann.«
(Renã Descartes, Meditationen)

»Es ist der Geist, der sich den Körper bildet.«
(Goethe)

Bei der folgenden Abhandlung handelt es sich um eine vergleichende Werkanalyse von Platons Phaidon-Dialog und der Bhagavad-gita, der heiligen Schrift Indiens.

Hierbei soll ein thematischer Schwerpunkt gesetzt werden, der den Hauptgegenstand des Phaidon-Dialogs darstellt und zugleich eines der Hauptthemen in der Bhagavad-gita ist: die Unterscheidung von Körper und Seele. Anhand dieses Hauptthemas lassen sich umfangreiche philosophische Korrespondenzen der beiden Werke feststellen.

Dies ist umso bedeutender, als zwischen Platons Werken und der Bhagavad-gita sowohl große zeitliche als auch kulturelle Unterschiede vorliegen, die einen Zusammenhang dieser beiden philosophischen Lehren als unwahrscheinlich gelten lassen. Platon lebte von 427-342 v. Chr. in Griechenland.

Die Bhagavad-gita entstand ca. 3100 v. Chr. in Indien.

Eine Verbindung der griechischen Kultur mit der indischen gilt als nicht belegt im Sinne der akademischen Forschung. Dies liegt allerdings mehr daran, dass die abendländischen Wissenschaftler davon ausgehen, dass außerhalb Europas und des vorderen Orients (Mesopotamien, Ägypten, Sumerer, Hebräer) keine relevanten frühzeitlichen Hochkulturen existierten.

Wie den Sanskrit-Schriften des alten Indiens zu entnehmen ist, und wie anerkannte Indologen wie z.B. Klaus Klostermeier mittlerweile auch bestätigen, liegt die Abfassung der hochphilosophischen Sanskrit-Schriften jedoch in Zeiten, die den ältesten abendländischen Kulturzeugnissen (z. B. Menes in Altägypten 2900 v. Chr.) noch vorausgehen.1 Ein Vergleich der beiden Positionen kann somit dazu beitragen, die Erkenntnisse über die Kontinuität der Menschheitsgeschichte in größere zeitliche und räumliche Regionen auszudehnen.

Hierbei soll allerdings nicht das Kriterium des archäologischen Fundes zugrundegelegt werden, sondern die inhaltliche philosophische Kontinuität, eine Archäologie des Geistes gewissermaßen. Auf der inhaltlichen Ebene soll damit der Vergleich der beiden Werke zeigen, inwiefern die These von der Verschiedenheit von Seele und Körper, die zur heutigen Zeit von der Identifizierung des Selbst mit dem Körper abgelöst wurde, philosophisch relevant ist.

Wir wollen zeigen, dass Platon bzw. Sokrates und die Lehren der Bhagavad-gita im Einklang stehen.

Die Grundthese, von der beide philosophischen Konzepte ausgehen, ist die Verschiedenheit von Körper und Seele. Diese Grundthese soll im folgenden anhand der o.g. Werke analysiert werden.

In diesem Sinne geht es in dieser Abhandlung nicht nur um den philologischen Vergleich der beiden Texte, sondern auch um die Klärung bestimmter philosophischer Grundfragen der Menschheit, zu der die beiden Ansätze wichtige Beiträge leisten können. Darüber hinaus werden außer dem Thema <%-14>›Körper und Seele‹ diverse andere Aspekte beleuchtet werden, wie z.B. Erkenntnistheorie oder Naturerfahrung. Platon und Bhagavad-gita!

Der Phaidon-Dialog

Bei dem Phaidon-Dialog handelt es sich um das Gespräch Sokrates’ mit seinen Freunden am Tag seiner Hinrichtung. Sokrates begründet, warum er keine Angst vor dem Tod hat. Er ist der Ansicht, dass der Körper eine vergängliche Hülle ist und das die Wahrheit des Philosophen in der spirituellen Ebene zu finden ist, d.h. auf der Ebene der Seele und der Götter.

Sokrates wird im folgenden begründen, warum er sich nicht aus seiner misslichen Situation heraussehnt, und erklären, wieso die Seele ewig und unsterblich ist. Ausgangspunkt ist dabei die Unterscheidung in Körper und Seele, die zwei voneinander verschiedene Qualitäten sind. Sokrates ist zu dem Schluss gekommen, dass er nicht der Körper ist.

Im Interesse eines zügigen Gangs durch die verschiedenen philosophischen Stufen von Sokrates Denken werden hauptsächlich die axiomatischen Aussagen von Sokrates an dieser Stelle wiedergegeben werden, ohne die komplizierte und aufwendige logisch-dialektische Beweisführung Punkt für Punkt nachzuzeichnen. Zu den jeweiligen philosophischen Aussagen Sokrates’ werden sodann die entsprechenden Zitate aus der Bhagavad-gita angeführt, um die schlagende Übereinstimmung beider philosophischen Anschauungen zu zeigen.

Glück und Leid

»Wie seltsam, ihr Männer, scheint doch das zu sein, was die Menschen als angenehm bezeichnen, und wie merkwürdig sind seine Beziehungen zum Unangenehmen, das man doch für sein Gegenteil hält. Zwar wollen sich die beiden beim Menschen nie gleichzeitig einstellen; wenn aber jemand dem einen nachjagt und es erreicht, so ist er fast gezwungen, auch das andere in Kauf zu nehmen, als ob die beiden am oberen Ende zusammengebunden wären.« (337)* 

An dieser Stelle erklärt Sokrates, warum er nicht aus dem Gefängnis flieht und versucht, seinem Todesurteil zu entkommen. Indem man an etwas hängt, holt man sich automatisch auch sein Gegenteil mit herein. Dies ist das Gesetz der Dualität der materiellen Welt: Auf Glück folgt Leid und auf Leid folgt Glück. Bg. 2.14*:

»Das unbeständige Erscheinen von Glück und Leid und ihr Verschwinden im Laufe der Zeit gleichen dem Kommen und Gehen von Sommer und Winter. Sie entstehen durch Sinneswahrnehmung, und man muss lernen, sie zu dulden, ohne sich verwirren zu lassen.«

Die Bhagavad-gita versteht dieses unbeständige Kommen und Gehen als Kreislauf, wobei sich die beiden Hälften gegenseitig bedingen. Bg. 2.15:

»Wer sich durch Glück und Leid nicht stören lässt, sondern in beidem stetig ist, eignet sich gewiss dazu, Befreiung zu erlangen.« Bg. 2.45: »Sei frei von allen Dualitäten und aller Sorge um Gewinn und Sicherheit, und sei im Selbst verankert.«

Tod

»Deshalb bin ich nicht dermaßen unwillig, sondern habe die feste Hoffnung, es gebe für die Gestorbenen noch etwas, und zwar, wie man ja schon lange behauptet, für die Guten etwas viel Besseres als für die Schlechten.« (342)

Hier bezieht sich Sokrates auf das auch aus den östlichen Religionen bekannte Verständnis, dass der Mensch die Reaktionen auf seine Handlungen als Karma zurückbekommt. Gute Handlungen ziehen gute Reaktionen nach sich und schlechte Handlungen führen auch zu schlechten Reaktionen.

Im folgenden wird sich zeigen, dass Sokrates die Ebene karmischer, d.h. weltlicher Religiosität durchaus transzendiert. Außerdem deutet sich hier an, dass Sokrates mit der Hypothese der Seelenwanderung (Metempsychose) arbeitet.

Im Zuge der Beweisführung stellt Sokrates die Frage: Was ist der Tod?

»Ist er nicht die Trennung der Seele vom Leib? Und ist nicht das Tot sein der Zustand, wo der Leib getrennt von der Seele für sich allein, die Seele aber getrennt vom Leib für sich allein ist? Oder ist der Tod etwas anderes als das?« (344)
»Wer versteht, dass weder die Seele noch die Überseele im zerstörbaren Körper je zerstört werden, sieht wirklich.« (Bg. 13.28)

Das die Bhagavad-gita von der Verschiedenheit von Körper und Seele ausgeht, wird im 2. Kapitel in vielen Versen deutlich, wenn es auch nicht explizit formuliert wird:
»Für die Seele gibt es zu keiner Zeit Geburt oder Tod. Sie wird nicht getötet, wenn der Körper getötet wird.« (Bg. 2.20)

»Wie ein Mensch alte Kleider ablegt und neue anzieht, so gibt die Seele alt und unbrauchbar gewordene Körper auf und nimmt neue materielle Körper an.« (Bg. 2.22)

Das Genießen der materiellen Sinnesobjekte

»Glaubst du, ein Philosoph sollte nach den Dingen trachten, die man Genüsse nennt, etwa nach Speise und Trank? Oder nach Liebeslust? Oder glaubst du, der Philosoph halte die übrigen Bedürfnisse des Leibes für wichtig? Etwa den Besitz von prächtigen Kleidern oder von Schuhen oder von sonstigem Putz?
Glaubst du nicht auch, dass er sein ganzes Streben nicht auf den Leib richtet, sondern dass er diesen nach Möglichkeit zurückstellt, um sich ganz nur seiner Seele zuzuwenden? Darin zeigt sich doch vor allem deutlich, dass der Philosoph gerne die Seele von der Gemeinschaft mit dem Leib lösen wird, eher als alle anderen Menschen?«
(344f.)

Bg. 3.28: »Wer die Absolute Wahrheit kennt, befaßt sich nicht mit den Sinnen und mit Sinnenbefriedigung, da er sehr wohl die Unterschiede zwischen Arbeit in Hingabe und Arbeit um fruchtragender Ergebnisse willen kennt.«

Arbeit um fruchttragender Ergebnisse willen‹ ist die Tätigkeit, die ausgeführt wird, um die Früchte der Tätigkeit zu genießen: Schlemmerei, Liebeslust, Eitelkeit, Reich­tum, wohingegen ›Arbeit in Hingabe‹ das Streben nach der Wahrheit und nach Gott bedeutet, der Philosoph dient der Wahrheit. Bg. 2.64:

»Wer aber von aller Anhaftung und Ablehnung frei ist und seine Sinne durch die regulierenden Prinzipien der Freiheit zu beherrschen vermag, erlangt die volle Barmherzigkeit des Herrn
Die ›regulierenden Prinzipien der Freiheit‹ sind die in den religiösen Schriften niedergelegten Regeln für ein religiöses Leben, die bestimmte triebhafte Neigungen des Menschen wie z.B. sexuelle Lust, Gewalttätigkeit, materielle Gier etc. mäßigen sollen. Anhaftung und Ablehnung bezieht sich auf die durch die Sinne erfahrenen Objekte, die man entweder unbedingt haben möchte oder aber abstoßend findet und deshalb vermeiden möchte.

Geist und Seele

Ein weiterer Vers der Bhagavad-gita spricht direkt an, dass eine philosophische Haltung vonnöten ist. Bg. 18.51: »Wer durch seine Intelligenz geläutert ist und den Geist mit Entschlossenheit beherrscht, die Objekte der Sinnenbefriedigung aufgibt und von Anhaftung und Haß befreit ist [<%12>…], wird gewiss zur Stufe der Selbstverwirklichung erhoben

Der Geist (manas), der in diesem Vers erwähnt wird, steht in der Bhagavad-gita zwischen dem Körper und der Seele. Der Körper ist grob stofflich materiell, wohingegen der Geist feinstofflich materiell ist. Nur die Seele ist spirituell und somit ewig. Der Geist besteht aus Denken, Fühlen und Wollen, das sich aus der Berührung mit den materiellen Sinnesobjekten entwickelt. Zugleich gibt es ein reines Denken, Fühlen und Wollen der Seele, welches spirituell und transzendent ist, und sich mit der spirituellen Sphäre der Wahrheit beschäftigt.2

Eben dieses Denken meint Sokrates, wenn er von <%-18>›vernünftigem Denken‹ (345) spricht. Die von Sokrates vorgenommene Unterscheidung in Seele und Körper differiert von der vedischen Einteilung in insofern, als jener den Geist nicht noch einmal extra von der Seele unterscheidet, sondern statt dessen das reine Denken direkt der Seele zuordnet und am Materiellen orientiertes Denken der körperlichen Auffassung zuschlägt.

»Wie verhält es sich nun aber mit dem Erwerb der vernünftigen Einsicht selbst? Ist der Leib ein Hindernis oder nicht, wenn ihn jemand beim Suchen zu Hilfe nehmen will? Ich meine dies so: vermittelt uns Menschen etwa das Gesicht oder das Gehör irgendeine Wahrheit? Oder stimmt das, was auch die Dichter uns immer vorschwatzen, dass wir etwas Genaues weder hören noch sehen? Wenn aber diese beiden Sinnesempfindungen ungenau und unzuverlässig sind, dann sind es die anderen sicher noch mehr; sind sie doch alle noch minderwertiger als sie.« (345)

Wahrnehmung

In dem eben zitierten Abschnitt spricht Sokrates auch das Problem der Wahrnehmung durch die materiellen Sinne an. Der moderne Mensch und insbesondere die Wissenschaftler glauben, sie könnten durch Sinneswahrnehmung die Wirklichkeit erkennen, indem sie die Wahrnehmung optimieren bzw. die Grenzen der Wahrnehmung ausweiten (Teleskop, Mikroskop usw.) Sokrates führt hier die Überlegung ein, inwieweit Erkenntnis überhaupt erst jenseits der unvollkommenen Sinneswahrnehmung beginnt.

Bg. 13.16: »Die Höchste Wahrheit existiert innerhalb und außerhalb aller Lebewesen, der sich bewegenden und der sich nicht bewegenden. Aufgrund Ihrer feinen Beschaffenheit ist es nicht möglich, Sie mit den materiellen Sinnen zu sehen oder zu erkennen. Obwohl weit, weit entfernt, ist Sie auch sehr nah.«

Bg. 5.9: »Ein Mensch im göttlichen Bewusstsein weiß im Innern stets, dass er in Wirklichkeit nicht handelt, obwohl er sieht, hört, berührt, riecht, isst, sich bewegt, schläft und atmet. Denn während er spricht, sich entleert, etwas annimmt, seine Augen öffnet oder schließt, weiß er immer, dass nur die materiellen Sinne mit ihren Objekten beschäftigt sind, und dass er selbst darüber steht.«

»Wann erfasst denn die Seele überhaupt die Wahrheit? Solange sie mit Hilfe des Leibes etwas zu erkennen sucht, wird sie offenbar von ihm getäuscht. So wird ihr also, wenn überhaupt irgendwo, im vernünftigen Denken etwas vom wahren Wesen der Dinge offenbar.« (345)

Sokrates bezeichnet die Ebene des reinen Denkens der Seele als den Ort, wo die Wahrheit offenbar wird:

»Vielmehr ist uns in der Tat bewiesen, dass wir uns, wenn wir von irgend etwas die reine Erkenntnis erlangen wollen, von ihm [dem Leib] losmachen und allein mit der Seele die Dinge an sich betrachten müssen.« (347)

»Jemand, dessen Glück im Innern liegt, der im Innern tätig ist und im Innern Freude erfährt und dessen Ziel im Innern liegt, ist wahrhaft der vollkommene Mystiker. Er ist im Höchsten befreit, und letztlich erreicht er den Höchsten.« (Bg 5.24)

»Solange wir nämlich beim Forschen neben dem reinen Denken noch den Leib gebrauchen und solange unsere Seele mit diesem Übel vermengt ist, werden wir das, wonach wir begehren – nämlich die Wahrheit – niemals recht erlangen.« (347)

»Ein intelligenter Mensch schöpft nicht aus den Quellen des Leids, die aus der Berührung mit den materiellen Sinnen entstehen. O Sohn Kuntis, solche Freuden haben einen Anfang und ein Ende, und daher erfreut sich der Weise nicht an ihnen.« (Bg 5.22)

»Am allerbesten aber kann sie dann vernünftig denken, wenn nichts von diesen Dingen sie stört, weder das Gehör noch das Gesicht, weder Schmerz noch Lust, sondern wenn sie möglichst für sich allein bleibt, den Leib beiseite lässt und, soweit dies geht, keine Gemeinschaft mit ihm hat und so, von ihm unberührt, nach dem Seienden trachtet.« (345)

Die vier Arten der Erkenntnis

Ein Unterschied zwischen Sokrates und der vedischen Methode, Wissen zu erwerben, besteht darin, dass Sokrates sich durch selbständige logische Überlegung bemüht, die Wahrheit zu ergründen. Der vedische Vorgang dagegen besteht in erster Linie darin, von Sehern und Autoritäten Wissen zu empfangen. Das vedische Wissen wird durch eine Schülernachfolge weitergereicht, wobei der Ethos darin besteht, dass der Lehrer die Lehre nicht auslegt oder abwandelt, sondern exakt so weitergibt, wie er sie von seinem Lehrer gelernt hat.

Diese Schülernachfolge reicht somit Wissen in einer ununterbrochenen Kette durch die Zeiten herab, wobei der Ursprung des Wissens Gott selbst ist. Es handelt sich um Offenbarungen. Es wird die sastra gelehrt, die Schrift.

In der vedischen Philosophie gibt es drei Erkenntnismodi:

  • a) Sinneswahrnehmung (pratyaksa);
  • b) philosophische Spekulation (anumana) und
  • c) Offenbarung (shabda oder shruti). Gemäß der vedischen Konzeption sind die Sinneswahrnehmung und die philosophische Spekulation unvollkommene Erkenntnismethoden, da sie auf menschlicher Bemühung beruhen, die abhängig ist von äußeren Bedingungen (Raum, Zeit, äußere Umstände) und den vier menschlichen Unvollkommenheiten unterliegen (die Neigung, zu betrügen, Fehler zu begehen, in Illusion zu sein und unvollkommene Sinne zu haben).

Shabda‹ bedeutet ›Klang‹ und ›Shruti‹ bedeutet ›Hören‹. In diesen Bereich fallen die direkten Offenbarungen Gottes sowie die offenbarten Schriften der verschiedenen Religionskulturen. Diese heiligen Schriften sind nicht aus der philosophischen Überlegung von Menschen hervorgegangen. Sokrates entscheidet sich zum allergrößten Teil für die philosophische Spekulation (anumana) und stellt diese mit der Sinneswahrnehmung in Opposition, wobei er analog zur vedischen Philosophie die philosophische Betrachtung als vollkommener einstuft als die Sinneswahrnehmung. Gemäß der vedischen Schriften ist jedoch nur die Offenbarung vollkommene Wahrheit.

In dem von Platon aufgezeichneten Dialog spricht allerdings Simmias,

der die Rolle des Gegenredners hat, die Ebene des Shabda an:
»Denn in diesen Dingen [den Fragen nach der Wahrheit, d. Verf.] sollte man doch eines erreichen: entweder lernen, wie es sich verhält damit, oder es selbst herausfinden. Ist das nicht möglich, dann muss man sich eben unter den menschlichen Ansichten die beste aneignen und diejenige, die am schwersten zu widerlegen ist. Mit dieser muss man dann, wie auf einem Floss, die Fahrt durchs Leben wagen, falls man nicht sicherer und gefahrloser auf einem festeren Fahrzeug, etwa mit einem göttlichen Wort, fahren kann.« (380)

Hier klingt also noch die alte Weisheit des göttlichen Wortes an, die in der alten Zeit durchaus noch philosophische Tragkraft hatte, wohingegen Sokrates mit seiner Methode des logischen Schließens kraft des eigenen Verstandes eher die moderne Philosophie vertritt und wohl in diesem Sinne als der Stammvater der neuzeitlichen Philosophie bezeichnet werden kann.

Eine vierte Erkenntnismethode, die in der vedischen Philosophie der transzendenten Ebene

(vgl. weiter unten die drei Erscheinungsweisen der materiellen Natur und die transzendente Ebene) entspricht, und die von Sokrates insofern angesprochen wird, als er von der Betrachtung spricht, die die Seele durch sich selbst anstellt (371), ist die Meditation.

Die logische Herleitung führt Sokrates zu der Erkenntnis, dass nur das Wissen Wahrheit repräsentiert, welches die Seele durch die Betrachtung durch sich selbst erlangt, denn nur die Seele ist von der gleichen Beschaffenheit wie das »wahre Wesen der Dinge« (345) und kann somit die Wahrheit schauen.

Er kommt also letztendlich zu dem Schluss, dass die unmittelbare Wahrnehmung der Wahrheit durch die Seele ohne Vermittlung durch die physischen Sinnesorgane zur echten Erkenntnis, zur »vernünftigen Einsicht« (345) führt.
Dies kann auch als das ›reine Denken‹ der Seele bezeichnet werden.
Aufgrund der Bedeutsamkeit dieser Erkenntnisweise sei an dieser Stelle näher auf die diesbezüglichen Ausführungen in der Bhagavad-gita eingegangen.

Die Bhagavad-gita spricht von den tattva darsinah, den »Sehern der Wahrheit«:

»Versuche die Wahrheit zu erfahren, indem du dich an einen spirituellen Meister wendest. Stelle ihm in ergebener Haltung Fragen und diene ihm. Die selbstverwirklichten Seelen können dir Wissen offenbaren, weil sie die Wahrheit gesehen haben. (upadeksyanti te jnanam jnaninas tattva-darsinah)« (Bg. 4.34).

Hier ist zum einen die Wahrnehmung durch transzendente Sinne bereits angesprochen, die in weiteren Versen noch genauer beschrieben wird, zum anderen zeigt sich hier die Überleitung von sruti (Hören) zu dem Sehen.

Die direkte Wahrnehmung der Wahrheit durch transzendentale Sinne ist wiederum pratyaksa:

»Dieses Wissen ist der König der Bildung und das geheimste aller Geheimnisse. Es ist das reinste Wissen, und weil es durch Erkenntnis eine direkte Wahrnehmung vom Selbst vermittelt (pratyaksavagamam dharmyam), ist es die Vollkommenheit der Religion. Es ist immerwährend und wird mit Freude praktiziert.« (Bg. 9.2)

Ein weiterer Vers spricht diesen Sachverhalt der transzendenten Wahrnehmung an und stellt diese zugleich in Beziehung zur materiellen Erkenntnisebene:

»Auf der Stufe der Vollkommenheit, die Trance oder samadhi genannt wird, ist der Geist durch das Praktizieren von Yoga vollständig von allen materiellen mentalen Tätigkeiten gelöst. Diese Vollkommenheit ist dadurch charakterisiert, dass man die Fähigkeit erlangt, durch den reinen Geist das Selbst zu sehen und im eigenen Selbst Freude und Zufriedenheit zu genießen. In diesem freudvollen Zustand erfährt man grenzenloses transzendentales Glück, das durch transzendentale Sinne wahrgenommen wird.« (Bg. 6.20-21)

Reinheit

Ein wichtiger Aspekt in Sokrates’ Philosophie ist die Frage der Reinheit. Sokrates vertritt die Ansicht, dass die Seele nur dann rein ist, wenn sie sich von dem Körper nicht beeinflussen lässt. Die Reinheit ist somit für ihn eine Grundbedingung, um die Wahrheit zu erkennen. Man sollte die Gemeinschaft mit dem Leib auf das Notwendigste reduzieren, jedoch auch nicht gegen den Körper kämpfen, denn nur Gott allein obliegt es, uns von dem Körper zu befreien:

»Und solange wir leben, werden wir offenbar in dem Maße dem Wissen am nächsten kommen, als wir mit dem Leibe möglichst wenig verkehren und keine Gemeinschaft mit ihm haben, soweit es nicht unbedingt notwendig ist, und uns von seiner Natur nicht erfüllen lassen, sondern uns von ihm rein halten, bis Gott selbst uns von ihm löst. Und so, rein und von der Unvernunft des Leibes befreit, werden wir dann wohl unter gleichartigen Wesen leben und durch uns selbst die ganze reine Wahrheit erkennen; und das ist dann wohl das wirklich Wahre. Denn ein Unreiner darf Reines wohl nicht erfassen.« (348)

Sokrates führt dann weiter aus, dass somit der Tod nichts schreckliches ist, sondern »die Erlösung und Befreiung der Seele vom Leib« (349).
Er ist mit der Hoffnung verbunden, nach dem Tod an den Ort zu gelangen, nach dem sich der Philosoph sein ganzes Leben lang sehnt: den Ort der Wahrheit, die Gemeinschaft mit den Göttern.

Ewigkeit und Vergänglichkeit

Ein weiteres Argument für die Verschiedenheit von Seele und Körper ist die Unbeständigkeit des Körpers. Die Wahrheit ist das immer Seiende, Unsterbliche und Unveränderliche. Eben dies gilt auch für die Seele.

»Ist die Wesenheit, der wir in unseren Fragen und Antworten das wahre Sein zugesprochen haben, unveränderlich und sich selber gleich, oder ist sie bald so, bald wieder anders? Das Gleiche an sich, das Schöne an sich und jedes andere Ding an sich, das wirklich ist – ist dies je irgendeinem Wechsel unterworfen, welcher Art er auch sein mag? Oder bleibt jedes dieser wahren Wesen gleichförmig und sich selber gleich und verhält sich dementsprechend immer gleich und lässt niemals und in keiner Weise eine Veränderung zu?« (369)

»Diejenigen, die die Wahrheit sehen, haben erkannt, dass das Inexistente (der materielle Körper) ohne Dauer und das Ewige (die spirituelle Seele) ohne Wechsel ist. Zu diesem Schluss sind sie gekommen, nachdem sie das Wesen von beidem studiert hatten.« (Bg 2.16)

Erläuterung zu diesem Vers von Srila Prabhupada:

»Der sich wandelnde Körper ist nicht von Dauer. Das sich der Körper in jedem Augenblick durch die Aktionen und Reaktionen der verschiedenen Zellen verändert, wird von der modernen Medizin bestätigt, und so finden im Körper Wachstum und Alter statt. Aber die spirituelle Seele besteht fortwährend und bleibt trotz aller Wandlungen des Körpers und des Geistes dieselbe. Das ist der Unterschied zwischen Materie und spiritueller Natur. Von Natur aus wandelt sich der Körper ständig, wohingegen die Seele ewig ist.« (Bg 2.16 Erl.)

Für Sokrates ist das Ewige – die Seele, die Dinge an sich und die Götter – unsichtbar, wohingegen die materiellen Einzeldinge, die sich nicht gleich bleiben, sichtbar sind. Die materiellen Dinge sind in einem fortwährenden Wandel, ihre Form ist veränderlich. Hier taucht nochmal das Problem der Sinneswahrnehmung auf, die sich mit dem sinnlich Wahrnehmbaren auf den materiellen Bereich der Wirklichkeit beschränkt.

Die Ausrichtung der Seele

Ein wichtiger Faktor für die Erkenntnis der Wahrheit ist die Ausrichtung der Wahrnehmung der Seele. Die materiellen Dinge haben eine gewisse Anziehungskraft und bewirken damit, dass die Seele von der materiellen Energie bedeckt wird.

»Haben wir nicht schon früher festgestellt, dass, wenn sich die Seele des Leibes bedient, um etwas wahrzunehmen, sei es mit dem Gesicht oder mit dem Gehör oder mit irgendeinem anderen Sinn – denn das heißt mittels des Leibes etwas wahrnehmen –, dass sie dann vom Leibe zu dem hingezogen wird, was niemals sich gleichbleibt, und dass sie selbst dann schwankt und verwirrt wird und taumelt, als ob sie trunken wäre, weil sie solche Dinge berührt?
Stellt sie aber durch sich selbst eine Betrachtung an, dann erhebt sie sich zum Reinen und immer Seienden und Unsterblichen und Unveränderlichen. Und da sie diesem verwandt ist, bleibt sie mit ihm verbunden, sooft sie für sich selbst bleibt und es ihr vergönnt ist. Und das Umherirren hat aufgehört, und sie bleibt sich selber gleich, da sie immerfort Dinge berührt, die auch so beschaffen sind. Das ist doch der Zustand der Seele, den wir mit vernünftiger Einsicht bezeichnen, oder nicht?« (371f.)

Die Sinne von den Sinnesobjekten zurückzuziehen bedeutet, sich nicht mehr der Anziehungskraft der materiellen Objekte auszusetzen:
»Wer imstande ist, seine Sinne von den Sinnesobjekten zurückzuziehen, so wie die Schildkröte ihre Glieder in den Panzer einzieht, ist unerschütterlich im vollkommenen Bewusstsein verankert.« (Bg. 2.58)

Die Quellen SokratesBhagavad-gita-Tattva-Viveka-Ronald-Engert-radha

Hier erübrigt sich nicht ohne weiteres ein Wort zu den Quellen Sokrates’. An mehreren Stellen bezieht sich Sokrates auf »Eingeweihte« sowie auf »Geheimlehren«, von denen er offensichtlich seine Auffassungen von der Seelenwanderung, der Unsterblichkeit der Seele und der göttlichen Herkunft der Seele übernommen hat. So taucht auch an dieser Stelle der Hinweis auf die Eingeweihten auf. Je nachdem, ob man in seinem Leben sich mehr mit den materiellen Dingen des Leibes beschäftigt hat, oder aber mit den ewigen, göttlichen Wahrheiten, gelangt man nach dem Tod in die entsprechenden Reiche.

»Und so, wie man es von den Eingeweihten erzählt, verbringt sie [die Seele, d. Verf.] dann in Wahrheit die übrige Zeit mit den Göttern.« (373)

»Diejenigen, die die Halbgötter verehren, werden unter den Halbgöttern geboren; diejenigen, die die Vorfahren verehren, gehen zu den Vorfahren; diejenigen, die Geister und Gespenster verehren, werden unter solchen Wesen geboren, und diejenigen, die Mich [Bhagavan Krsna, d. Verf.] verehren, werden mit Mir leben.« (Bg. 9.25)

Die drei Erscheinungsweisen der materiellen Natur

Während die Seele ewig ist, unterliegt der materielle Körper einem fortgesetzten Wandel, wobei die Seele nach dem Tod in einen anderen Körper eingeht und so immer wieder neue Körper annimmt. Die verschiedenen Körper sowie geistigen Haltungen auf der materiellen Ebene werden von Sokrates und von der Bhagavad-gita in drei Aspekte unterteilt.

Die Bhagavad-gita nennt diese drei Aspekte die gunas (tamas, rajas, sattva), was sich im Deutschen mit der Wendung ›die drei Erscheinungsweisen der materiellen Natur‹ übersetzen lässt. Hinzu kommt sodann noch die transzendente Ebene, die nicht von den drei Erscheinungsweisen berührt wird.

In der Bhagavad-gita findet sich die folgende Dreiteilung:

1. tamas (Erscheinungsweise der Unwissenheit):
»O Nachkomme Bharatas, wisse, daß die Erscheinungsweise der Dunkelheit, geboren aus Unwissenheit, die Täuschung aller verkörperten Lebewesen verursacht. Die Folgen dieser Erscheinungsweise – Verrücktheit, Trägheit und Schlaf – binden die bedingte Seele.« (Bg. 14.8)
2. rajas (Erscheinungsweise der Leidenschaft):
»Die Erscheinungsweise der Leidenschaft wird aus unbegrenzten Wünschen und Verlangen geboren, o Sohn Kuntis, und aufgrund dieser Erscheinungsweise wird das verkörperte Lebewesen an materielle fruchtbringende Tätigkeiten gebunden.« (Bg 14.7)
3. sattva (Erscheinungsweise der Tugend):
»O Sündloser, die Erscheinungsweise der Tugend, die reiner ist als die anderen, ist erleuchtend, und sie befreit einen von allen sündhaften Reaktionen. Diejenigen, die sich in dieser Erscheinungsweise befinden, werden durch das Gefühl bedingt, glücklich zu sein und Wissen zu besitzen.« (Bg 14.6)

Im folgenden nun Platons dreigeteilte Typisierung,

wobei die einzelnen Charakterisierungen in den entsprechenden Versen etwas anders lauten als in der Bhagavad-gita, vom Prinzip her jedoch übereinstimmen:

1. tamas (Erscheinungsweise der Unwissenheit)
»Wer zum Beispiel ohne Rückhalt auf Völlerei und Übermut und Trunksucht bedacht war, ohne sich dabei zu schämen, der fährt vermutlich in einen Esel oder in ein Tier ähnlicher Art.« (374)
2. rajas (Erscheinungsweise der Leidenschaft):
»Wer aber Ungerechtigkeit und Gewaltherrschaft und Raub über alles geschätzt hat, der fährt in einen Wolf oder Habicht oder Geier.« (374f.)
3. sattva (Erscheinungsweise der Tugend):
»Aber die unter ihnen sind doch wohl am glücklichsten und kommen an den besten Ort, welche jene gewöhnliche Bürgertugend ausgeübt haben, die man Besonnenheit und Gerechtigkeit nennt und die ohne Hilfe der Philosophie und der Vernunft allein aus der Übung und aus der Gewohnheit entsteht … weil sie wahrscheinlich wieder in eine ähnliche sozial gesinnte und gesittete Gattung kommen, entweder in Bienen oder Wespen oder Ameisen oder auch wieder in dieselbe menschliche Gattung; und dann gibt es aus ihnen wieder ordentliche Leute.« (375) Platon und Bhagavad-gita!

Was den Ort oder die Lebensform der Wiedergeburt betrifft, ist die vedische Differenzierung etwas anders:

»Wenn man in der Erscheinungsweise der Tugend stirbt, gelangt man zu den reinen, höheren Planeten der großen Weisen. Wenn man in der Erscheinungsweise der Leidenschaft stirbt, wird man unter denen geboren, die fruchtbringenden Tätigkeiten nachgehen, und wenn man in der Erscheinungsweise der Unwissenheit stirbt, wird man im Tierreich geboren.« (Bg. 14.14-15)

Eine etwas direktere Zuordnung im vedischen Kontext spricht davon, dass man in der Erscheinungsweise der Tugend als Halbgott, in der Erscheinungsweise der Leidenschaft als Mensch und in der Erscheinungsweise der Unwissenheit als Tier wiedergeboren wird. Platon und Bhagavad-gita.

Platon und Bhagavad-gita – Die transzendente Ebene

4. brahma bhuta (die transzendente Ebene):
»In der Götter Geschlecht aber darf keiner eingehen, der sich nicht der Philosophie ergeben hat und nicht völlig geläutert von hier weggeht, sondern nur der Lernbegierige. Deshalb, meine Freunde Simmias und Kebes, enthalten sich die echten Philosophen aller körperlichen Begierden und sind standhaft und geben sich ihnen nicht hin.« (375)

»Wenn es dem verkörperten Wesen gelingt, diese drei Erscheinungsweisen zu transzendieren, die mit dem materiellen Körper verbunden sind, kann es von Geburt, Tod, Alter und den dazugehörigen Leiden frei werden und bereits in diesem Leben Nektar genießen.« (Bg. 14.20)

»Denjenigen, die von Zorn und allen materiellen Wünschen frei sind, die selbstverwirklicht, selbstdiszipliniert und ständig um Vollkommenheit bemüht sind, ist in sehr naher Zukunft Befreiung im Höchsten sicher.« (Bg. 5.26)

Zu eben diesem Höchsten gedenkt Sokrates zu gehen und aus diesem Grund ist es für ihn kein Anlass zur Trauer, dass er in wenigen Stunden den Giftbecher trinken wird. Er hat verwirklicht, dass er nicht der Körper ist. Diese Erkenntnis hat er in dem vorliegenden Dialog bis in alle Einzelheiten mit seinen Gesprächspartnern erörtert. Dennoch scheint es Sokrates nicht gelungen zu sein, seine Zuhörer und Freunde zu überzeugen. Kriton fragt ihn schließlich, auf welche Weise sie ihn begraben sollen, worauf Sokrates noch einmal seinen Standpunkt darlegt:
»Auf welche Weise aber sollen wir dich begraben?« Platon und Bhagavad-gita!

»Wie ihr wollt«, gab Sokrates zur Antwort, »wenn ihr mich fangen könnt und ich euch nicht entwische

Dazu lachte er leise, sah uns an und sagte: »Liebe Freunde, ich kann den Kriton einfach nicht davon überzeugen, dass ich hier der Sokrates bin, der jetzt mit euch redet und ein jedes, was gesagt wird, an seinen Platz stellt, sondern er hält mich für jenen anderen, den er in kurzem als Leichnam sehen wird, und fragt deshalb, wie er mich begraben soll. Meine ganze lange Rede, in der ich euch auseinandergesetzt habe, dass ich, wenn ich das Gift getrunken habe, nicht mehr bei euch bleiben, sondern entweichen und zum herrlichen Leben der Seligen eingehen werde – diese Rede halte ich offenbar für ihn vergeblich, als sagte ich das nur zum Trost für euch und für mich selbst. Seid darum meine Bürgen bei Kriton«, fuhr er fort, »und leistet bei ihm die umgekehrte Bürgschaft als die, welche er bei den Richtern für mich geleistet hat.

Er bürgte nämlich dafür, dass ich ganz sicher bleiben werde; ihr dagegen sollt euch dafür verbürgen, dass ich sicher nicht bleiben, sondern gleich nach dem Tode hinweggehen werde; so wird es Kriton leichter ertragen, und wenn er sieht, wie mein Leichnam verbrannt oder begraben wird, grämt er sich dann nicht um mich, als ob ich etwas Furchtbares erleiden müsste. Und er wird bei meinem Begräbnis dann auch nicht sagen, das sei Sokrates, den er aufbahrt oder hinaus trägt oder beerdigt. Denn merke dir wohl, mein bester Kriton«, wandte er sich an diesen, »solche unrichtigen Behauptungen sind nicht nur an und für sich falsch, sondern sie üben auch einen schlechten Einfluss aus auf unsere Seelen. Du sollst vielmehr guten Mutes sein und sagen, es sei ja nur mein Leib, den du begräbst.« (429) Platon und Bhagavad-gita!

In dieser Abhandlung wurde der These nachgegangen,

dass Körper und Seele voneinander verschieden sind und dass wir nicht der Körper sondern ewige spirituelle Seele sind. Mit einer solchen These mögen erstmal einige Leser nicht einverstanden sein. Ist es nicht gerade die Entfremdung von unserem Körper, die soviel Leid produziert? Und ist es nicht gerade der Verdienst moderner aufklärerischer Schulen wie z.B. Freud, uns unseren Körper wieder zurückerobert zu haben? Muss ich nicht gerade lernen, meinen Körper zu erfahren und zu lieben? Platon und Bhagavad-gita.

Die christliche Lehre von der Auferstehung des Fleisches, vielmehr aber noch die abendländische Tradition der Aufklärung, in der sich der Mensch im Glauben an eine mögliche Naturbeherrschung von Gott emanzipiert hat, hat den Westen in seinen tiefsten geistigen Strukturen bestimmt. So ist die allgemeine Meinung, dass der Körper durchaus das ist, was ich bin, dass Seele und Körper untrennbar sind und dass die Hinwendung und Wertschätzung des Körpers mit seinen diversen Funktionen, wie insbesondere der Sexualität, die Lösung zahlreicher psychischer und psychosomatischer Beschwerden darstellt.

Wir wollten dieser Haltung eine differenzierte dialektische Analyse von Körper und Seele entgegenstellen,

aus der hervorgeht, dass die spirituelle Seele der eigentliche Zweck des Lebens ist und dass eine Eingrenzung auf körperliche Identifikationen diesen Zweck behindern kann. Gleichwohl würde eine Ablehnung des Körpers eine eben solche – wenn auch negative Identifizierung bedeuten, ist also auch nicht die Antwort.

»Um sie zu verbinden, darf man sie nicht vermischen.«, sagen die Kabbalisten, und in diesem Sinne ist das Verhältnis von Körper und Seele zu verstehen. Nur indem man sie trennt, kann man sie verbinden. Dies ist die inhaltliche Dialektik der Wahrheit. Körper und Seele sind zwei verschiedene Qualitäten, die sich im Idealfall gegen-seitig ent-sprechen. Wie in der vorliegenden Abhandlung u.a. gesagt wurde, ist der Körper vergänglich und die Seele ewig.

Eine Identifizierung mit dem Körper hat weitreichende Folgen für das Selbstverständnis des Menschen,

etwa in Hinsicht auf die Haltung dem Tod gegenüber, um nur ein Beispiel zu nennen.
Solange man von der These ausgeht, dass man mit dem Körper identisch ist, wird man auch durch die Grenzen des Körpers bedingt bleiben.

Die Fragen von Leben und Tod, von Ewigkeit und Vergänglichkeit, all das lässt sich konsistent nur mittels der Unterscheidung von Materie und Seele in ein sinnvolles System bringen. Die Materie ist zwar eine Energie Gottes und somit ebenfalls ewig. Im Unterschied zu der spirituellen Seele ist die Materie jedoch in ihrer Form unbeständig.

Und in diesem Sinne ist es empfohlen, sich mit den ewigen spirituellen Dingen zu befassen (Gott und die Seele) um dann mit Sokrates sagen zu können: »Und das Umherirren hat aufgehört, und sie bleibt sich selber gleich, da sie immerfort Dinge berührt, die auch so beschaffen sind. Das ist doch der Zustand der Seele, den wir mit vernünftiger Einsicht bezeichnen, oder nicht?« (371)

Platon und Bhagavad-gita

Anmerkungen
1 Die zeitliche Bestimmung der vedischen Texte wirft für den westlich sozialisierten Wissenschaftler erhebliche Probleme auf, da die indische Kultur von einem zyklischen Zeitverständnis geprägt ist, deren Zeitmaßstäbe darüber hinaus im Vergleich zu den unsrigen von wahrhaft astronomischem Ausmaß sind. Die indischen Autoren haben die Entstehungsjahre ihrer Werke selbst nicht genau festgehalten, da dies in ihrem zyklischen Zeitverständnis unerheblich ist. Eine Zeitspanne von zwei- oder dreitausend Jahren ist für indische Verhältnisse unbedeutend.
2 Vgl. Tattva Viveka 1: Markus Schmieke, »Zur Kritik der unreinen Vernunft« sowie Bhaktivinoda Thakura, »Die charakteristische Antwort der Seele. (Tattva Sutra)«. In diesen Texten findet sich die ausführliche Typologie des Unterschiedes von materiellem und reinem Geist sowie von Geist und Seele.

Platon und Bhagavad-gita – Erstaunliche Übereinstimmungen

04.08.2019
Ronald Engert
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Über den Autor dieses Artikels

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Ronald Engert

Ronald Engert
Geb. 1961. Studium der Germanistik, Romanistik, Philosophie und Filmwissenschaften, später Indologie und Religionswissenschaften an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt/M. 1994
Mitgründung der Tattva Viveka, seit 1996 Herausgeber und Chefredakteur. 1994 Gründung des INES-Instituts (Institut für Essenzphilosophie).
Blog: www.ronaldengert.com


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1 Kommentar

  1. danke für den Artikel zu diesem interessanten Thema. Kennen Sie die Bücher des italienischen Meisters Raphael, der hatte dies auch untersucht und hat auch ein Buch zu Platons Lehren geschrieben.
    LG Kira Klenke

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