Rupert Sheldrake zu Henri Bergson

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Rupert Sheldrake zu Henri Bergson BewusstseinRupert Sheldrake zu Henri Bergson – Die Schnittstelle zwischen Gehirn und Bewusstsein

Rupert Sheldrake zu Henri Bergson – Henri Bergson (1859‑1941) war ein bedeutender Philosoph des frühen 20. Jahrhunderts. Er war Professor an dem College de France und erhielt 1927 den Nobelpreis für Literatur. Das folgende Gespräch zwischen dem Biologen Rupert Sheldrake und David Lorimer, dem Vorsitzenden des Scientific and Medical Network, beleuchtet Bergsons Denken über das Wesen der Evolution und die Schnittstelle zwischen Gehirn und Bewusstsein. Dabei wird deutlich, wie Bergsons Denken zu heutigen Fragen in Beziehung steht.

Spiritualität Gehirn und Bewusstsein

David Lorimer: Rupert, wir wollen an diesem Nachmittag über Henri Bergson und seinen Einfluss auf unser beider Denken sprechen. Vielleicht sollten wir damit beginnen, wie er uns persönlich beeinflusst hat und dann zur Diskussion seiner Ideen zur Evolution und dem Zusammenhang von Gehirn und Bewusstsein übergehen.

Rupert Sheldrake: Nun, für mich war Henri Bergson einer der wichtigsten Einflüsse. Zum ersten Mal las ich ihn in den frühen Siebzigern, als ich in Cambridge war. Dies kam nicht durch die Wissenschaft oder die Wissenschaftstheorie, sondern weil ein Freund von mir, der ein großer Verehrer von Proust war, Bergson in diesem Zusammenhang las. Eines Tages sagte er zu mir, dass ich unbedingt Bergson lesen sollte, es würde mich interessieren.

Ich las dann zuerst die Schöpferische Entwicklung, und das war für mich eine ungeheuer befreiende Erfahrung. Ich wurde als Biologe ausgebildet und dazu angehalten, alles, was irgendwie mit Vitalismus zu tun hatte, zurückzuweisen. Vitalismus ist die große Häresie, und in der Dämonologie der Wissenschaft rangierte Bergson ziem­lich oben.

Niemand, den ich in der wissenschaftlichen oder selbst in der philosophischen Welt getroffen habe, hatte überhaupt Bergson gelesen, aber er wurde zurückgewiesen, geschmäht und tabuisiert. Ihn zu lesen war somit eine außergewöhnliche Erfahrung. Ich fand eine Vorstellungskraft, Vision und Klarheit, die ich aus anderen evolutionstheoretischen Schriften überhaupt nicht gewohnt war, und ich erlebte seinen Blick auf die Evolution des Lebens als außerordentlich inspirierend.

David Lorimer: Wir werden dazu in Kürze detailliert kommen.

Rupert Sheldrake: Aber noch interessanter als dieses Buch war sein Buch Materie und Gedächtnis, das ich etwa 1972 gelesen habe. Es war eine von diesen lebensverändernden Erfahrungen für mich, denn ich kämpfte gerade mit dem Problem der Morphogenese und Form. Ich dachte über morphogenetische Felder und formgebende Einflüsse auf lebende Organismen nach, insbesondere in Beziehung zu Pflanzen und Pflanzenmorphogenese, über die ich zu der Zeit arbeitete.

Bergsons Materie und Gedächtnis sagt aus, daß Gedächtnis nicht innerhalb des Gehirns gespeichert werden muss, sondern von einer Art transtemporalen Verbindung abhängig ist. Gedächtnis hängt nicht von materiellen Spuren im Gehirn ab. Das war für mich ein völlig neuartiger, unerwarteter und unerhörter Gedanke, dem ich nie zuvor begegnet war.

Da ich eine Menge über Gedächtnis und Evolution in der Biologie nachgedacht hatte, und da die Biologie es mit einer Art von Gedächtnis zu tun hat, das von Generation zu Generation weiter getragen wird, schien es mir, dass Bergsons Prinzip des Gedächtnisses nicht nur auf bewusste Erinnerung beschränkt sei, sondern für das Gedächtnis im allgemeinen gelte. Und das war in der Tat der Keim für meine Idee der morphischen Resonanz.

Binnen weniger Wochen, in denen ich Materie und Gedächtnis las und über morphogenetischen Felder sowie ihre Entwicklung in der Zeit nachdachte, erlebte ich einen Zustand der Einsicht, der ungeheuren Ergriffenheit, aber auch der Heiterkeit, wenn ich an diese Idee der durch morphische Resonanz über die Zeit hinweg reichende kausalen Verknüpfung dachte. Ich würde sagen, dass dies einer der wichtigsten Einflüsse auf mein Denken war, und ich fand Bergson erfrischend, originell und geradlinig.

Nach diesem Durchackern der neueren holistischen Philosophie, die ich im Vergleich dazu übervorsichtig, gegängelt und darum bemüht empfand, ja nicht die vorgegebenen Grenzen der akademischen Orthodoxie zu übertreten, war er so interessant zu lesen. Mit Bergson fand ich eine klare, originelle Stimme, die mich direkt und unmittelbar ansprach.

David Lorimer: Ja, als ich die Schöpferische Entwicklung las, schrieb ich an verschiedensten Stellen Deinen Namen an den Rand des Textes, weil ich die evidenten Verbindungen zwischen Bergsons und Deinen Gedanken sah. Während Du dies nun erzählst, werden die Zusammenhänge nur noch klarer.

Vielleicht spreche ich aber nun ein wenig über die Art und Weise, wie er mich beeinflusst hat. An der Universität las ich ohnehin Französisch, aber ich las dort nicht Bergson. Als ich aber mein Interesse an der ganzen Geist‑Materie‑ oder Geist‑Gehirn‑Frage entdeckte, begann ich darin zu forschen und betrachtete mir verschiedene Denker der Jahrhundertwende.

Es gab aus dieser Zeit drei Denker, die in etwa die gleichen Überlegungen hatten: William James, Henri Bergson und F.C.S. Schiller aus Oxford. Ich las das kleine Buch Human Immortality (Menschliche Unsterblichkeit) von William James (die Ingersoll Vorlesung von 1898), und in den Fußnoten waren eine Menge Bezüge zu diesem Buch von Schiller, das 1891 unter dem Titel Riddles of the Sphinx (Das Rätsel der Sphinx) erschienen war.

In diesem Buch vertrat Schiller die Theorie, dass Materie möglicherweise eher eine Fessel und Begrenzung des Bewusstseins denn ein Produzent von Bewusstsein sei. Es war diese Idee, die dann von James in seiner Vorlesung als Theorie entwickelt wurde und schließlich von Bergson in seinen Schriften fortgeführt wurde. Er entwickelte die Idee in seinen anderen Schriften weiter, speziell in Verbindung mit seinen psychischen Untersuchungen – Anfang dieses Jahrhunderts war er Präsident der SPR (Society for Psychical Research).

So fand ich diese äußerst interessante Möglichkeit, von der ich etwas mehr sprechen werde, wenn wir Bergsons Ideen zu Geist, Gehirn und Gedächtnis näher betrachten. Ich denke, er wurde unberechtigterweise abgelehnt, und es ist Zeit, einen neuen Blick für seine Gedanken zur Evolution und zur Geist‑Gehirn‑Frage zu bekommen.

Rupert Sheldrake: Beide Themen sind heute sehr wichtige Bereiche.

David Lorimer: Sehr richtig. Die Bücher über Evolution und Bewusstsein füllen die Regale, aber sehr wenige von ihnen stellen Beziehungen zu dem Werk Bergsons her.

Rupert Sheldrake: Ja, und dies ist sogar noch auffälliger, wenn wir in Betracht ziehen, welchen Einfluss Bergson zu seiner Zeit hatte. Er hatte sehr ursprüngliche Gedanken, die von anderen Denkern des Jahrhunderts wie z.B. William James reflektiert wurden. Vor dem ersten Weltkrieg waren sie sehr bekannt und wurden weithin diskutiert – ich glaube auch in den Zwanzigern –, aber danach sind sie nahezu völlig in Vergessenheit geraten.

Es ist, als ob es eine kollektive Amnesie innerhalb unserer intellektuellen Gemeinschaften gäbe, so dass es selbst in philosophischen Fakultäten schwer ist, jemanden zu finden, der jemals Bergson gelesen hat. Sicherlich haben die meisten heutigen Philosophiestudenten und ‑studentinnen noch nie etwas von ihm gehört.

David Lorimer: Nun, er ist zur Zeit nicht in Mode. Ich denke, das hat auch etwas mit dem Aufkommen des Behaviorismus in den zwanziger Jahren zu tun. Der Blick von innen nach außen und eine Philosophie, die die Intuition und das Be­wusstsein als ursächlich betont, wurde mehr und mehr unpopulär.

Rupert Sheldrake: Es hat sicherlich auch etwas damit zu tun, dass in der Biologie der dogmatische Mechanismus die Kontrolle übernahm und jeder Versuch unternommen wurde, den Vitalismus als Häresie abzustempeln und Bergsonsches Denken ein für allemal aus der Biologie zu verbannen.

David Lorimer: Neuerdings ist es auch so, dass einige Elemente des Vitalismus in neuer Form wieder aufgenommen werden und in die Aussagen zur Evolution Eingang finden: Elemente, die sich mehr auf die Kreativität als zentrales Prinzip konzentrieren, anstatt alles Kreative dem Zufall und der natürliche Selektion unterzuordnen.

Rupert Sheldrake: Ich denke, es ist interessant, dass die zwei Hauptvertreter des Vitalismus in diesem Jahrhundert, Henri Bergson und Hans Driesch, der deutsche Embryologe, ganz unterschiedliche Aspekte des Vitalismus betonen. Driesch hebt die Rolle der Entelechie hervor, die praktisch die aristotelische Seele ist. Dies hat mit der Regelmäßigkeit und dem Wiederholungsaspekt des Lebens zu tun.

Er schenkte als aristotelischer Denker der Evolution wenig Aufmerksamkeit. Er hatte die Idee eines vitalen Faktors, der die Morphogenese und den Instinkt organisiert, aber dieser entwickelte sich nicht, und sein Begriff der Entelechie ist eine der Anregungen für die Idee der morphogenetischen Felder in den zwanziger Jahren und wohl ein Vorfahre meiner eigenen Ideen zu morphischen Feldern.

David Lorimer: Richtig, Du legst dies dar in Das schöpferische Universum.

Rupert Sheldrake: Drieschs Vitalismus konzentriert sich auf das, was ich den »Gewohnheits«‑Aspekt nenne, den wiederholenden As­pekt, wohingegen sich Bergsons Vitalismus mit dem kreativen Teil des evolutionären Prozesses beschäftigt. Es handelt sich somit um komplementäre Ansätze. Ich denke, beide sind wichtig, aber es ist interessant, dass diese beiden Vitalisten sehr verschiedene Dinge gesagt haben.

In modernen Beschreibungen des Vitalismus, die gewöhnlich auf anderen modernen Beschreibungen des Vitalismus beruhen (denn kaum jemand liest die Vitalisten im Original), wird im allgemeinen gesagt, dass die Vitalisten die absurde Idee des sogenannten vitalen Faktors vertreten, des ãlan vital von Bergson, als ob dies alles sei. Tatsächlich war die Position der Vitalisten sehr breit und schloss Gewohnheit und Kreativität mit ein.

David Lorimer: Es wurde also nur unzureichende Unterscheidungen von Leuten getroffen, die nur eine oberflächliche Ahnung von der Geschichte haben.

Rupert Sheldrake: Nein, ganz und gar nicht, man wies die Vitalisten mit dem Argument zurück, daß sie die Idee von etwas jenseits bloßer Physik und Chemie vertraten, und behandelten diese Idee als etwas selbstverständlich Absurdes.

David Lorimer: Einer der interessanten Aspekte in Bergsons Idee von der Kreativität ist, dass er in seiner Theorie der Evolution das Bewusstsein als den Schlüsselfaktor für die Kreativität gesehen hat, und nun kommt das Bewusstsein wieder zurück in die Wissenschaft. Ich denke, auch die Kreativität kehrt zurück, und so können wir eine Art zweigleisige Rückkehr dieser beiden Prinzipien beobachten, die beide schon bei Bergson zu finden sind.

Rupert Sheldrake: Wobei allerdings in der Schöpferischen Entwicklung nicht klar ist, ob er an eine bewusste Kreativität denkt, oder ob es da eine Art kreativen Impuls oder Trieb gibt, der den Lebensprozess durchdringt.

David Lorimer: Er spricht mit Sicherheit von etwas, dass den Lebensprozess durchdringt. Ich habe eine Stelle gelesen, die impliziert, dass das Bewusstsein das kreative Element ist, das in die Evolution einfloss, aber ich bin nicht sicher, ob er in diesem Fall genau zwischen Bewusstsein und Leben differenziert. Die Beziehung zwischen Bewusstsein und Leben ist für sich schon eine hochinteressante Frage.

Rupert Sheldrake: Das sehe ich auch so, und es ist eine der Ambivalenzen in Bergsons Werk, denn in seinem Buch Materie und Gedächtnis unterscheidet er zwischen bewusstem Gedächtnis und Gewohnheitsgedächtnis. Das bewusste Gedächtnis macht er zu etwas, das nicht von der materiellen Struktur des Gehirns abhängig ist, wohingegen er durchaus bereit ist, das Gewohnheitsgedächtnis (das unbewusste Gedächtnis) innerhalb des Gehirns zu lokalisieren.

David Lorimer: Das ist eine wichtige Unterscheidung. In der genannten Stelle spricht er von der Natur und dem ãlan und bezieht sich dabei auf das in der Schöpferischen Entwicklung dargestellte Bewusstsein als »le principe moderne de l’ãvolution«, das diese Entwicklung vorantreibt. Materie sieht er in dem gleichen Zusammenhang als Notwendigkeit und Trägheit, so dass die Vorstellung von einem selbstorganisierenden Prinzip, das der Materie innewohnt, Bergson eher fremd gewesen wäre.

Rupert Sheldrake: Deshalb denke ich auch, dass Drieschs Vitalismus geeigneter ist, die tatsächliche Organisation der lebenden Organismen zu verstehen, denn Driesch setzte sich sehr für die Selbstorganisierungskraft ein. Er hatte nicht nur die blinde Materie und das Bewusstsein, diesen cartesianischen Dualismus, von dem Bergson offensichtlich beeinflusst war. Driesch definierte in einem dritten Begriff die Ebene der Seele. Sein erstes Buch über Vitalismus hieß auch “The Soul as an Elementary Principle of Nature” (Die Seele als ein elementares Prinzip in der Natur).

David Lorimer: Und die Seele ist eine formgebende Kraft im aristotelischen Sinne?

Rupert Sheldrake: Die Seele ist eine formgebende Kraft wie bei Aristoteles, ja. Ich denke, meine eigenen Ideen sind, was das betrifft, mehr von Driesch beeinflusst als von Bergson, denn Bergson hat keinen wirklich zufriedenstellenden Begriff von der Wirkungsweise der Trägheit in der Materie. Die Trägheit des normalen Lebens und lebender Systeme, sowie natürlich materieller Systeme, ist eine Trägheit der Gewohnheit. Dieser Aspekt von Bergsons Gedanken ist doch nicht ganz zufriedenstellend und bedeutet, dass sein Vitalismus sich nicht direkt mit dem Studium der Morphogenese und des Instinkts beschäftigt. Die Regelmäßigkeiten des Lebens, die die Biologen zum größten Teil untersuchen, interessierten ihn nicht.

David Lorimer: Nein, denn er war ein Philosoph, wohingegen Driesch ein Biologe war. Obwohl beide über die Philosophie der Biologie schrieben, hatten sie dennoch unterschiedliche Ansatzpunkte, und ich stimme mit Dir überein, dass Bergsons Wissen von den biologischen Prozessen in dieser Hinsicht offensichtlich nicht ausreichend ist.

Rupert Sheldrake: Noch eine Sache zur Evolution möchte ich sagen: Ich finde es sehr interessant, dass einer der gegenwärtig einflussreichsten Schriftsteller im Bereich Evolution, Richard Dawkins, einen immensen öffentlichen Anklang findet. Interessant ist daran, dass seine öffentliche Beliebtheit von seinem Schreibstil, seiner Rhetorik und seinen Metaphern herrührt, die zutiefst vitalistisch sind. Obwohl er sich für einen Mechanisten hält, ist sein gesamter rhetorischer Stil vitalistisch, und ich denke, er ist deshalb so attraktiv und anziehend für so viele Menschen.

Das bedeutet natürlich auch, dass seine Position im Kern unehrlich, oder zumindest unbewusst gespalten ist, denn seine gesamte Energie und die Überzeugungskraft seiner Argumente kommt von dem vitalistischen Reiz, aber seine Botschaft ist rückhaltlos mechanistisch! Er überzeugt mit den Mitteln der rhetorischen und metaphorischen Techniken und spricht die Imagination an, die nichts mit dem zu tun hat, was er zu glauben behauptet. Es ist außerdem besonders interessant, dass die Parallelen zu Driesch und Bergson auf der Hand liegen.

Driesch spricht von der Entelechie als dem organisierenden Prinzip in den lebenden Organismen. Was Dawkins nun tut, ist einfach, die Entelechie in die egoistischen Gene zu verlagern: Er hat diese Vitalfaktoren, diese kleinen, lebenden, intelligenten Dinge innerhalb der Zellen, namentlich der egoistischen Gene, die alles tun, was Drieschs Entelechie tat, und keine Beziehung zu bloßen chemischen Molekülen in sich tragen.

David Lorimer: Sie sind also belebt.

Rupert Sheldrake: Es sind belebte Moleküle, seine egoistischen Gene. Sie sind selbstisch, sie formen Materie, sie bilden Form, sie führen evolutionäre Waffengefechte, sie planen, sie verhalten sich wie thatcherisierte Individuen.

David Lorimer: In der Tat eine Art anthropomorphe Konzeption.

Rupert Sheldrake: Das sind völlig anthropomorphe Vitalfaktoren, die in die genetischen Moleküle gepresst wurden. Diese Seite von Dawkins ist komplett vitalistisch. Dies ist eine gegenwärtige Tendenz, die sich durch die ganze mechanistische Biologie zieht, aber in diesem Fall ist es auf die Spitze getrieben. Seine Sicht der Evolution enthält die Idee des Flusses des Lebens, der durch die Generationen fließt. Das ist das Thema seines jüngsten Buches Und es entsprang ein Fluss in Eden, wo er z.B. erklärt, daß »der Fluss in meinem Titel der Fluss der DNA ist, und er fließt durch die Zeit, nicht durch den Raum, es ist ein Fluss der Information … ein Fluss von abstrakten Anweisungen zum Aufbau von Körpern…« (S. 4)

David Lorimer: Es hat also etwas von den dynamischen Eigenschaften oder sogar der Metaphorik des élan vital.

Rupert Sheldrake: Das ist dasselbe Bild wie im élan vital, der durch die Generationen fließt. Wenn wir allerdings einen Blick auf Bergsons Aussagen zu dem vitalen Impuls werfen, spricht er von dem élan vital in Begriffen einer »ursprünglichen Lebensschwungkraft, die durch Mittlerschaft der entwickelten Organismen, der Bindeglieder der Keime, von Keimgeneration auf Keimgeneration übergeht. Diese Schwungkraft, die in den verschiedenen Entwicklungsreihen, an die sie sich verteilt, fortlebt, ist die tiefere Ursache der Variationen; derer zu mindestens, die sich regelmäßig vererben, die sich summieren, die neue Arten schaffen.« (Die schöpferische Entwicklung, Chiron-Verlag, Zürich o.J., S. 124)

David Lorimer: Ja, ich las heute eine ähnliche Passage bei Bergson, wo mir sein Insistieren auffiel, dass die Evolution durch den Organismus geht und er folglich den Organismus nicht abtut. Dies würde zu einer Reduktion des Prozesses auf eine Übertragung von Gen zu Gen führen, die den Organismus als irrelevant herausließe.

Rupert Sheldrake: Ja. Bergson stellte sich die Idee von der Lebensschwungkraft vor wie ein Fluss, der durch die Generationen fließt. Dawkins nun erfindet von neuem – recht unbewusst – sowohl Bergsons als auch Drieschs vitalistischen Stil in seinen Texten. Sie enthalten also eine starke Ähnlichkeit zu diesen regelrecht vitalistischen Lehren. Die Dinge, die er am schärfsten zurückweist, hasst und schmäht, sind genau diejenigen, die seine Schriften zu einem außerordentlichen Maße bestimmen.

David Lorimer: Wenn wir die Ironie auf den höchsten Grad bringen wollten, könnten wir sagen, es handle sich um einen Fall morphischer Resonanz von Bergson zu Dawkins, ohne dass dieser es bemerkte.

Spiritualität Gehirn und Bewusstsein. Evolution.

Literatur:
Bergson, Henri: Zeit und Freiheit, 1889 (dt.: Jena 1911)
Bergson, Henri: Materie und Gedächtnis, 1896 (dt.: Jena 1908)
Bergson, Henri: Das Lachen, 1900 (dt.: Jena 1914)
Bergson, Henri: Die schöpferische Entwicklung, 1907 (dt.: Jena 1912)
Bergson, Henri: Die seelische Energie, 1920 (dt.: Jena 1928)
Bergson, Henri: Die beiden Quellen der Moral und der Religion, 1932 (dt.: Jena 1933)
Bergson, Henri: Denken und schöpferisches Werden, 1934 (dt.: Meisenheim 1948)
Dawkins, Richard: Und es entsprang ein Fluß in Eden, München 1996
Dawkins, Richard: Das egoistische Gen, Reinbeck 1996
Dawkins, Richard: Der blinde Uhrmacher. München 1995
Driesch, Hans: Persönlichkeit und Bedeutung für Biologie und Philosophie von heute, München 1951
Driesch, Hans: Leib und Seele. Eine Untersuchung über das psychophysische Grundproblem, Leipzig 1923
Driesch, Hans: Metaphysik und Natur. München 1926
James, William: Human Immortality (Constable, 1898)
James, William: Das pluralistische Universum. Vorlesungen über die gegenwärtige Lage der Philosophie, Darmstadt 1994
James, William: Pragmatismus. Ein neuer Name für eine alte Denkmethode, Hamburg 1994
James, William: Die Vielfalt religiöser Erfahrung, Frankfurt 1996
Schiller, Ferdinand Cunning Scott: Riddles of the Sphinx, New York 1968
Schiller, Ferdinand Cunning Scott: Humanismus. Beiträge zu einer pragmatischen Philosophie, Leipzig 1911
Sheldrake, Rupert: Das Gedächtnis der Natur. Das Geheimnis der Entstehung der Formen in der Natur, München 1992
Sheldrake, Rupert: Das schöpferische Universum. Die Theorie des morphogenetischen Feldes, Frankfurt 1993 (Orig.: The New Science of Life)
Sheldrake, Rupert: Die Wiedergeburt der Natur. Wissenschaftliche Grundlagen eines neuen Verständnisses der Lebendigkeit und Heiligkeit der Natur, Bern 1993
Sheldrake, Rupert: Sieben Experimente, die die Natur verändern könnten. Anstiftung zur Revolutionierung des wissenschaftlichen Denkens, München 1997
Sheldrake, R. / Terence McKenna / Ralph Abraham: Denken am Rande des Undenkbaren. Über Ordnung, Chaos, Physik und Metaphysik, Ego und Weltseele, München 1994

04.07.2019
Aus dem Englischen von Ronald Engert
www.tattva.de
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Vita von Rupert Sheldrake

Rupert-Sheldrake
©Hanna Jedrosz

Studium der Naturwissenschaften in Cambrigde und Harvard. Promotion 1967 in Biochemie. 1974-85 als Pflanzenphysiologe in Indien tätig, dazwischen anderthalb Jahre im Ashram von Bede Griffith in Südindien. Ca. 50 Artikel in wissenschaftlichen Zeitschriften, zahlreiche Bücher. Mitglied am Institut for Noetic Sciences, San Francisco.
www.sheldrake.org

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1 Kommentar

  1. Sheldrake: “Gedächtnis hängt nicht von materiellen Spuren im Gehirn ab…”
    Zum Teil richtig, denn der Mensch hat wie die Tiere ein Körpergedächtnis. Evolutionär werden über die Sinne Reize aufgenommen, die im Gehirn bewertet werden. Wird ein Reiz als schon einmal bewertet erkannt, womöglich mit Gefühlen wie Angst, meldet sich das Körpergedächtnis in Form von entsprechenden Empfindungen dazu. Der Körper hat also alle Erinnerungen gespeichert .Gut zu erkennen in der Meditation, wo man Empfindungen und die dazugehörigen Gefühle beobachten kann. Dieser Vorgang ist immateriell, wobei ihm ein materieller Vorgang vorangegangen ist, nämlich die Speicherung der Empfindung im Körper als eine Art Verspannung/Erregung

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