Spiegelwelt des spirituellen Narzissmus

Frau die vor Spiegeln tanzt

Die Spiegelwelt des spirituellen Narzissmus

Fast jeder spirituell Suchende ist mit dem Gesetz der Spiegelung in Berührung gekommen. Innen so Außen und Außen so Innen, heißt es zusammengefasst. Unsere innere Welt spiegelt sich nach außen auf die manifestierte Welt, mit der wir alltäglich im Austausch sind. Oftmals wird dieses Gesetz, wie das goldene Tor der Heilung beschrieben. Anstatt in der manifestierten Welt die Umstände und Situationen zu ändern, machen Speaker, spirituelle Lehrer und Weisheitsbücher aufmerksam, findet die wahre Veränderung im Inneren statt. Willst du eine andere äußere Welt, müsse der Blick nach innen gekehrt werden, um dort die wahren Ursachen zu erkennen und eine Veränderung zu initiieren. Wer eine geheilte Innenwelt hat, wird eine geheilte Außenwelt erleben.

Ganz im Geiste des Gesetzes der Spiegelung kann die Welt als Hilfe zum Erwachen und Heilen dienen. Anstatt mit einem Blick der Schuld und Verurteilung auf die Welt zu schauen, können wir mit Mitgefühl, Vergebung oder Präsenz der Welt begegnen. Indem wir der Welt in dieser Art und Weise begegnen, treten wir mit uns selbst in Kontakt. Wir öffnen uns für die Welt und finden in einer mystischen Drehung gleichzeitig uns in ihr. Die scheinbare Öffnung nach Außen ist die Öffnung nach Innen. Die Welt findet ein Zuhause in unseren Herzen, wo wir die Welt in uns finden. Diese Bewusstseinserweiterung lässt uns die Trennung und Projektionen unserer Konditionierungen beenden und die Innenwelt multidimensional aufleuchten. Durch diese Annahme und Integration geschieht die Heilung, eine Ganzheit und Verbundenheit des Selbstes.

Zwischen Zweifel und Dogmatismus

So weit so gut. Für manche sogar wunderbar, denn nun scheint der Schlüssel zur Lösung aller Probleme in ihren Händen zu liegen. Endlich scheint klar, wie dieser ganze Wirrwarr zu beenden sei und das Paradies auf Erden wieder entstehen könne. Wir akzeptieren, dass die Welt, die wir sehen, in uns ist und umarmen sie vergebend in unserem Herzen. Wir übernehmen die volle Verantwortung über unser Leben und erkennen an, dass die Welt ein Spiegel ist. Damit ist dann alles klar, oder?

Irgendwie doch nicht so wirklich. Das Gesetz der Spiegelung in wenigen Worten lässt sich für die meisten nicht ad hoc auf jede Situation anwenden. Was zunächst aus Intuition oder schierer Verzweiflung angenommen wurde, wirkt an manchen Punkten im Alltag dann doch abwegig oder sogar brutal. Man soll die Ursache der untreuen Partnerin sein? Der Missbrauch des Enkels findet in einem selbst statt? Was ist mit den Kriegen und der korrupten Wirtschaft in der Welt? Wie können dann nötige Grenzen gesetzt und zwischenmenschliche Bedürfnisse beantwortet werden? Zweifelnde Stimmen melden sich und weisen auf intensive Grenzsituationen, auf Gewalterfahrungen oder schlichtweg die Komplexität der modernen Lebensumstände hin, die solch spirituelle Vereinfachungen weltfremd klingen lassen. Manchmal braucht man dringend die Hilfe von der sogenannten Außenwelt und hat nicht die Zeit erst die wahre Ursache im Inneren zu finden. Ein schöner Idealismus, doch an vielen Stellen eher naiv und vielleicht sogar herzenskalt.

Auf der anderen Seite beharren Stimmen auf die Wahrheit in dem Lebensgesetz. Durch eigene Erfahrung, auch in sehr schwierigen Situationen, hat es sich bewahrheitet und wahre Erlösung konnte gefunden werden. Sie wollen Mut zur spirituellen Lebensführung machen und die Möglichkeit einer anderen Lebensperspektive mit unbeschreiblichem Wert aufzeigen. Wer zurückschreckt, hat einen blinden Fleck und ist im Widerstand mit sich selbst. Dies versursacht Leid, welches beenden werden kann. Was für manche als Idealismus erscheint, kann für andere zum Dogmatismus werden und überall verteidigt werden.

Zwei Seiten in einer Dynamik

Spiegelwelt des spirituellen Narzissmus Frau die vor Spiegeln tanzt
KI unterstützt generiert

Ich schwanke zwischen den Stimmen, begegne beiden und ahne, dass die Wahrheit komplexer sein muss. In einer Unterhaltung mit einem Freund spreche ich enthusiastisch über meine Erkenntnisse und wende sie auch gleich bei seinen Lebensherausforderungen an. Irgendwann schaut er mich nachdenklich an und meint, “Du, ich weiß nicht, ob die Welt wirklich immer ein Spiegel ist.” Ich schätze seine Ehrlichkeit und bin über den fehlenden Gleichklang nachdenklich gestimmt. Ein wenig Scham taucht auf und ich frage mich, ob ich einer spirituellen Überschwänglichkeit, die keinen Blick mehr für persönliche Entwicklungsstufen und konkrete Erfahrungen hat, verfallen bin.

Im kleinen Kreis bekannter Menschen finde ich mich auf der anderen Seite wieder, als ich mich vorwage und eine soziale Interaktion erwähne, die in eine alte, schwere Wunde traf und deren Schmerz mich die vergangenen Monate begleitete. Für mich war es ein mutiger Schritt, mich mit der Verletzung zu zeigen, blieb diese doch in ihrer Ursprünglichkeit zwischenmenschlich ungehört. Ein Bekannter springt darauf an und berichtet von seiner Erkenntnis, dass er in seiner Erfahrung den Verletzenden schlussendlich in sich gefunden hat. Ich spüre wie Unwohlsein und eine gewisse Kontaktlosigkeit mich durchzieht. Noch Wochen später denke ich an dieses Treffen und frage mich, warum kein mitfühlendes Miteinander entstanden ist. Hatte ich unbewusst die Verantwortung abgegeben oder war mein Bekannter in einer Abwehrhaltung gewesen? Ich erinnere mich an die vielen Situationen, wo ich mal die eine oder andere Seite eingenommen habe und merke, etwas ist unstimmig.

Zwei Ebenen zum Verwechseln ähnlich

Nach einem Forschungsmarsch durch das Dickicht unzähliger unangenehmer Gefühle stolpere ich über eine Wurzel, die auf fruchtbaren Boden weist. Eine wesentliche Unterscheidung sprießt hervor. Das Spiegelgesetz wird so allgemein benannt, ohne die Unterschiede der Ebenen mit einzubeziehen.

Es gibt die Ebene des Selbstes, in der wir alles Leben in uns tragen. In ihm ist die volle Bandbreite an Lebendigkeit (Energie) vorhanden. Jeder hat das gleiche Selbst mit allen Möglichkeiten an Lebendigkeit. Dies eint uns als Menschheit. Und es gibt die Ebene der Persönlichkeit, auf der Individuation des einen Lebens stattfindet. Jeder hat einen separaten Körper und eine separate Psyche. Das Spiegelwirrwarr beginnt, wenn wir die Ebenen verwechseln. Auf der Ebene des Selbstes können wir uns nicht abtrennen, ohne dass es zu Leid führt. Hier will alles Leben erkannt und in Liebe einbezogen werden. Doch auf der Ebene der Persönlichkeit können wir uns nicht vermischen, ohne dass es zu psychischer Verstrickung führt. Hier wollen die Grenzen und Erfahrungen der eigenen Individuation klar gespürt werden.

Wenden wir nun das Spiegelgesetz auf der Persönlichkeitsebene an, landen wir schnell im spirituellen Narzissmus. Man sieht sich im Guten wie im Schlechten als Ursache der ganzen Welt – “Ich bin all das, was ich sehe. Aus mir geht alles hervor. Es gibt nichts anderes, als mein Selbst”. Die Folgen sind immens und reichen von Einsamkeit über Schuld bis hin zur Gewalt. Statt sich von den Identifikationen des Egos (falsche Selbstbilder) zu befreien, werden diese verstärkt und spirituell begründet. Wahre Entwicklung wird verhindert. Es scheint, als wäre man die Ursache der Handlung anderer – sei es die Liebkosung des Partners oder des Missbrauches durch ein Familienmitglied. Es grenzt an magisches Denken, wo man aus sich heraus die ganze Welt lenken kann. Außerdem kann es zu einer Verharmlosung von Gewalt und Verkennung einer Autorität als auch Verantwortung des Einzelnen im sozialen Miteinander kommen. Alles was man sieht, bezieht sich nur auf die eigene Persönlichkeit und dies mit einer spirituellen Begründung.

Insbesondere mit der im Westen weitverbreiteten Verstrickung zwischen Eltern und Kindern, sind viele für diesen spirituellen Narzissmus anfällig. Haben wir doch gelernt, dass wenn wir gut sind, unsere Eltern uns liebhaben. In dieser Erziehung lernen wir, dass unser Handeln die Ursache für die Handlung bzw. Erfahrung des anderen ist. Bin ich gut, ist die Welt gut und toll. Bin ich böse, geht es der Welt ganz schlecht. Nun streben das Kind und weiterhin auch der konditionierte Erwachsene danach gut zu sein und erwartet das Resultat gespiegelt in der manifestierten Welt. Sieht er etwas, das als böse bekannt ist, wird tiefe unbewusste Schuld und Scham aktiviert, welche im Rettersyndrom, Attacken oder Fluchtimpulsen enden können. Das Gutmenschentum in Kombination mit spirituellem Narzissmus ist so weit verbreitet, wie sie eine explosive Mischung für Unglück, Stress und Gewalt ist. Wobei in einer kurzen Denkpause sofort klar wird, dass in dem Kind nicht die Ursache für das Verhalten der Eltern liegen kann, sondern in den Eltern selbst.

In diesem Sinne ist es wichtig anzuerkennen, dass es separate Persönlichkeiten gibt, welche separate Verantwortungen tragen. Wenn wir durch die Welt laufen, sehen wir in der manifestierten Welt nicht unser selbst gespiegelt. Wir sehen schlichtweg die Ebene von Körpern und Psychen.

Wechseln wir nun die Ebene zum Selbst scheint dies tatsächlich zum Verwechseln ähnlich, denn das Selbst sagt – “Ich bin all das, was ich sehe. Aus mir geht alles hervor. Es gibt nichts anderes, als das Selbst”. Der entscheidende Unterschied ist das. Das Selbst meint das Leben, was wir alle in uns tragen. Wenn wir in der Welt eine Energie wahrnehmen oder eine Erfahrung machen, kann diese potentiell von allem gemacht werden. Andere zeigen uns Energien, die bei ihnen aktiv sind. Dies kann eine Inspiration oder eine Herausforderung (oder eine Unmöglichkeit) sein, je nachdem wie unsere Beziehung zu dieser Energie ist. Umso mehr Erfahrungen bei einem Menschen im Geist integriert wurden bzw. er in Frieden damit sein kann, desto klarer wird der Spiegel. Auf der Selbstebene spiegeln wir uns gegenseitig die Energien, welche im Leben Teil sind und wieder als eins verstanden werden wollen.

Tanz zwischen den Ebenen

Insofern sich jemand auf der Persönlichkeitsebene aufhält, kann es fatal sein, mit spirituellen Weisheiten zu reagieren. Vielmehr geschieht der Wechsel der Perspektive natürlich und aus dem Menschen selbst heraus, wenn spirituelles Interesse erwacht. Auf der Persönlichkeitsebene müssen gewissen Erfahrungen in ihrer Zeit durchlebt werden. Dies sind wesentliche Reinigungen und Reifung. So ist es wichtig, die Erfahrung innerhalb der Opfer- oder Täterrolle anzuerkennen, um nicht in Stil des spirituellen Bypassings die gesamte Dynamik in sich selbst feststellen zu wollen, bevor sich die Innenwelt so weit geöffnet hat.

Außerdem ist eine starke Persönlichkeit (nicht mit dem Ego zu wechseln) ein wichtiges Instrument für das Selbst. Doch ebenso kann ein seelischer Schmerz hervorgerufen werden, wenn wir uns an der Perspektive der Persönlichkeit festhalten, obwohl das Selbst erwachen will.
Ich stelle fest, dass dieses Spiegelspiel des Lebens ein dynamischer Prozess ist und die Menschen, die mich inspirieren, zwischen den Ebenen in ihrem Bewusstsein tanzen, obgleich sie eventuell im Selbst schon verankert sind. Sie wissen intuitiv, welche Ebene wann für eine mitfühlende und reife Antwort angemessen ist. Und diese Intelligenz der Liebe ist unserer aller Einsichtsweg.

19.09.2024
Sara Gnanzou
https://tiefbewegtblog.wordpress.com/

Lesungen im BewusstseinsFeld

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Sara GnanzouTanoe-Gnanzou-Profil

Die Sehnsucht nach Lebendigkeit führte Sara Gnanzou zunächst zu Reisen durch die Welt, einem interdisziplinären Philosophiestudium und Tätigkeiten im Beratungs- und Choachingbereich. Seit 2020 widmet sie sich der spirituellen Lebensforschung. In Ihre Arbeit fließen neben tantrischem Wissen und westlicher Philosophie auch die Körper- und Traumaforschung mit ein. Durch das Teilen ihrer Forschungserkundungen durch Wort und Bild möchte sie unterstützend dazu inspirieren, das eigene Sein zu erforschen und die Lebendigkeit erblühen zu lassen.

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