Stille Ewigkeit
„Die Menschheit wird den Himmel auf Erden haben,
wenn wir lernen, unsere Grenzen zu respektieren.
Es mag paradox klingen zu sagen, dass
Unendlichkeit und Ewigkeit des Himmels
in Wirklichkeit nur der Abstand ist
zum Herzen eines Fremden,
zum Herzen eines Feindes.
Ewigkeit ist der Augenblick des Erkennens.“
(Yehudi Menuhin, 1916 – 1999)
Es geht für die Erfahrung der lebendigen Ewigkeit weder um Sein noch um Nicht-Sein, sondern um So-Sein. Die Transzendierung der Dualität von Sein (positiv) und Nicht-Sein (negativ) bringt uns auf die Ebene des mit herkömmlichen Attributen nicht mehr qualifizierbaren So-Seins.
Unsterblichkeit und Ewigkeit liegen jenseits von Geburt und Tod, in einem transpolaren Energiefeld, das man als Geist der Ewigkeit (Sanskrit: Atman) bezeichnen könnte. Nicht die einseitige Ausrichtung zum positiven Pol ist die Lösung, sondern das ständige, balancierte Zusammenwirken (Co-Operation) von negativ und positiv liefert die Energie zum Ewigen Leben.
Liebe & Leben, Love & Life sind bedingungslose und transformative Zustände, deren unsterbliche Energie vom kontinuierlichen Geborenwerden und Sterben gespeist werden. Im dualitätsüberschreitenden So-Sein hört die Fragestellung nach Sein oder Nicht-Sein, nach Geburt, Tod und Wiedergeburt auf. Im Zustand der kontinuierlichen Transformation manifestiert sich ein sicheres Gefühl von unendlicher, nicht-finaler Fortsetzung des Lebens.
Dann kommt die Antwort des Meisters:
TAT TVAM ASI (Sanskrit: „Das bist Du!“, das Absolute ist mit Dir wesenseins).
Die Leere und der Uranfang sind eins.
Sind wir in der Leere (Sanskrit: Sunyata), dem Einen ewig beheimatet, ist dort kein Raum für sprachlichen Ausdruck mehr. Der Benediktinermönch Gregor d. Große (540 – 604 n. Chr.) spricht von „habitare secum“, bei sich selbst zu Hause sein. Das Eintreten in das Nichts durch Stille ist ein grundlegender Weg in unser innerstes Universum. Die Buddhisten sprechen von der allmählichen Verwirklichung.
Lao Tse nennt es die Methode des Verlierens. Er sagt:
„Nach Wissen suchen heißt, Tag für Tag dazugewinnen; das TAO suchen heißt, Tag für Tag verlieren“.
Durch das Verlieren beginnt man, sich der Welt der Stille anzunähern und in den Bereich des Nichts einzutreten. Und durch die Stille strebt man danach, zur tiefsten Wurzel des eigenen Seins zurückzukehren und damit der tiefsten Quelle aller Dinge bewusst zu werden. Es ist der Prozess des Schauens und Eintauchens in die mütterlichen Tiefen der Natur.
Tao Te King, Kapitel 16:
„Ich tue mein Äußerstes, um leer zu werden,
und versenke mich tief in die Stille.
Die zehntausend Dinge kommen und gehen,
wenn Dein Selbst darauf achtet.
Sie wachsen und blühen
und kehren zum Ursprung zurück.
Zum Ursprung zurückkehren heißt:
In die Stille gehen.
In die Stille gehen heißt,
zu seiner Bestimmung zurückkehren.
Zu seiner Bestimmung zurückkehren heißt:
Das Ewige erkennen.
Das Ewige erkennen heißt: erleuchtet sein.
Weh dem, der mit Absicht handelt,
ohne das Ewige zu erkennen!
Doch wer das Ewige erkennt und danach handelt,
dessen Tun führt zu Gerechtigkeit,
Gerechtigkeit zu einem königlich Wesen,
das königliche Wesen zum Himmel,
der Himmel zum Weg,
der Weg zur Ewigkeit.
Auch wenn der Körper stirbt –
Der Weg währt ewig“.
***
„Es ist schwer zu sagen,
welches der Geburts-Tag ist,
denn der Geburts-Tag in dieser Welt
ist der Todes-Tag in einer anderen Welt;
und der Geburts-Tag in der anderen Welt
ist der Todes-Tag in dieser“.
(Plotinus, 204 – 270)
Wir brauchen das Ego für unseren irdischen Lebensweg.
Aber eigentlich gibt es dieses Ego nur als eine vergängliche Anhäufung von Eindrücken. Unser Gedächtnis versucht, daraus eine permanente Identität zu machen. Zu erkennen, dass es diese vordergründige Identität nicht gibt, ist das Ziel des mystischen Weges. Hinter der Ego-Struktur liegt das, was die Mystiker die Leere (Sanskrit: Sunyata) nennen (der spanische Karmelitermönch und Mystiker Johannes vom Kreuz (1542 – 1491) spricht von „todo nada“, vom völligen Nichts).
Es gilt, die normale Sicht der Welt zu transzendieren und sich dem Raum der Wirklichkeit zu öffnen. Deswegen steigt man aber aus dieser Welt nicht aus. Die phänomenale Welt, die Welt der subjektiv unterschiedlichen Wahrnehmungen, wird nicht zerstört. Der non-dualen Welt, hier und jetzt, in der rechten Weise zu begegnen, ist das Ziel. Es geht also nicht um Ausstieg, es geht um die Distanz zum Tanz der Illusionen, um die Welt zu sehen, wie sie wirklich ist.
Es geht um die Freiheit zu Lebzeiten (Sanskrit: Moksha),
die von einer bedingungslosen, allumfassenden Liebe getragen ist. Mitgefühl und Liebe gehören zum Kern jeder Erfahrung. Wo sie fehlen, fehlt Wesentliches. Der Weg der Mystik führt über die Achtsamkeit. Sie ist nichts anderes als die Erkenntnis, dass die Wirklichkeit nur im Hier-und-Jetzt erfahren werden kann. Hinter unseren Sorgen, Vorhaben, Ängsten, hinter diesen Wellen, liegt das Wasser des Ozeans, die endgültige Identität.
Erst wenn die Welle erfährt, dass sie das Wasser des großen Ozeans ist, schwinden alle Ängste. Lange Zeit verfängt sich der Mensch im Wellenbereich. Das bedeutet Leid, Enttäuschung, Angst und Unsicherheit. Er hofft lange, irgendeine Welle müsse doch die Erfüllung bringen, bis er erkennt, dass die Welle, wenn sie nicht offen zum Meereswasser hin ist, Eingrenzen bedeutet, Isolation und Entfremdung. Die meisten Menschen aber erkennen ihre Verstricktheit nicht; sie versuchen nicht einmal, herauszukommen.
Der kontemplative Weg lehrt, dass jeder Atemzug, jeder Schritt, jeder Handgriff eine Welle ist, durch die wir der Eingrenzung entrinnen können, um schließlich zu erkennen, dass wir das unendlich große Meer sind. In dieser endgültigen Wirklichkeit gibt es weder Geburt noch Tod, sondern permanentes Leben. Wellen kommen und gehen, das Wasser bleibt. Solange wir uns mit der Welle identifizieren, haben wir Angst zu verebben. Wenn wir uns mit dem Wasser identifizieren, vergeht die Angst. Erleuchtung ist nicht ein absolutes Erlöschen, sondern das Erlöschen (Sanskrit: Nirvana) aller Vorstellungen und Bilder, die wir uns von der Welt machen.
„Wir alle sind Wellen auf dem Meer.
Das Meer kann ohne Wellen bestehen,
aber die Wellen nicht ohne das Meer.
Auch der Geist kann
ohne den Menschen existieren,
aber der Mensch nicht ohne den Geist.
Vor der Geburt und nach dem Tod
sind alle Lebewesen unsichtbar.
Zwischen den zwei nicht-sichtbaren Bereichen
sehen wir ihre Existenz als Form und Gestalt.
Der größte Teil des Lebens bleibt unsichtbar.“
(Roland R. Ropers)
Es geht stets um die Rückkehr zur Urquelle, die Ludwig van Beethoven so wunderbar in Worte kleidet:
„Wenn ich am Abend den Himmel
staunend betrachte und das Heer
der ewig in seinen Grenzen sich
schwingenden Lichtkörper,
Sonnen oder Erde genannt,
dann schwingt sich mein Geist
über diese so vielen Millionen
zur Urquelle hin,
aus welcher alles Erschaffene strömt
und aus welcher ewig neue Schöpfungen entströmen werden.
Ozean des Friedens, Rabindranath Tagore (1861 – 1941)
„Vor mir liegt der Ozean des Friedens,
lasse, Fährmann das Boot zu Wasser.
Du wirst auf ewig mein Begleiter sein,
nimm, o nimm mich in Deinen Schoß,
über dem endlosen Weg wird leuchten der Abendstern.
Du Geber der Freiheit, Dein Verzeihen,
Deine Gnade wird auf der ewiglangen Reise
meine ewige Wegzehrung sein.
Mögen die Fesseln der Welt fallen
und die Arme des Kosmos sich
unendlich breiten über meine Seele,
damit sie furchtlos erkenne
das Große Unbekannte.“
15.12.2022
Roland R. Ropers
Religionsphilosoph, spiritueller Sprachforscher, Buchautor und Publizist
www.KARDIOSOPHIE-NETWORK.de
Über Roland R. Ropers
Roland R. Ropers geb. 1945, Religionsphilosoph, spiritueller Sprachforscher,
Begründer der Etymosophie, Buchautor und Publizist, autorisierter Kontemplationslehrer, weltweite Seminar- und Vortragstätigkeit.
Es ist ein uraltes Geheimnis, dass die stille Einkehr in der Natur zum tiefgreifenden Heil-Sein führt.
>>> zum Autorenprofil
Buch Tipp:
Kardiosophie
Weg-Weiser zur kosmischen Ur-Quelle
von Roland R. Ropers und
Andrea Fessmann, Dorothea J. May, Dr. med. Christiane May-Ropers, Helga Simon-Wagenbach, Prof. Dr. phil. Irmela Neu
Die intellektuelle Kopflastigkeit, die über Jahrhunderte mit dem Begriff des französischen Philosophen René Descartes (1596 – 1650) „Cogito ergo sum“ („Ich denke, also bin ich“) verbunden war, erfordert für den Menschen der Zukunft eine neue Ausrichtung auf die Kraft und Weisheit des Herzens, die mit dem von Roland R. Ropers in die Welt gebrachten Wortes „KARDIOSOPHIE“ verbunden ist. Bereits Antoine de Saint-Exupéry beglückte uns mit seiner Erkenntnis: „Man sieht nur mit dem Herzen gut“. Der Autor und die sechs Co-Autorinnen beleuchten aus ihrem individuellen Erfahrungsreichtum die Vielfalt von Wissen und Weisheit aus dem Großraum des Herzens.
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