AGNOSE – das Drama der Nicht-Erkenntnis
Uns sind die Worte „Diagnose“ und „Prognose“ geläufig, aber das Wort „Agnose“ existiert bedauerlicherweise nicht, obwohl es den Zustand vieler Menschen charakterisiert. Das griechische Verb „gnoein“ bedeutet wissen erkennen. Bereits der Dominikanermönch und Kirchenlehrer Thomas von Aquin (um 1225 bis 1274) stellte die „Gnosis“ in der Rangstufe über den Glauben, was viele gar nicht wissen. Der Agnostiker leugnet nicht vorsätzlich die Existenz Gottes, sondern ihm ist die Urquelle des Seins unbekannt – diesen Zustand nenne ich „Agnose“. Wenn der Arzt eine Diagnose stellt, sollte er mittels seines geschulten Durchblicks (griech.: dia) zur Erkenntnis kommen. Wer glaubt etwas prognostizieren zu können (lat.: praedicere), bewegt sich auf dem oft fragwürdigen Terrain des Vorauswissens.
Wenn der letzte Schleier der Nicht-Erkenntnis, der Unwissenheit (Sanskrit: Avidya),
der Verblendung abgelegt ist, wird unser Ur-Antlitz, unser eigentliches Gesicht im wahrsten Sinne des Wortes sichtbar. Mit enthülltem Angesicht schaut der Mensch die Herrlichkeit Gottes, die Klarheit und Schönheit der Urquelle, aus der die ganze Schöpfung kontinuierlich hervorgeht. Die deutsche Sprache kennt das wunderschöne Wort Antlitz, das wörtlich das Entgegenblickende bedeutet, von Angesicht zu Angesicht, engl.: face to face, frz.: en face. Das englische Wort face geht auf das lateinische Wort facies zurück, das die äußere Erscheinung, das Aussehen, bedeutet, aber nicht das enthüllte, sichtbar werdende Ur-Antlitz des Menschen. Das ursprüngliche lateinische Wort für Gesicht ist os, oris n., nicht zu verwechseln mit os, ossis n. = Knochen.
Wenn das verborgene, wahre Gesicht zum Vorschein kommt, wenn alles Maskenhafte und Verschleiernde enthüllt ist, wird der Mensch der kosmischen Herrlichkeit ansichtig. Der deutsche Mystiker Meister Eckhart beschreibt den Weg in den göttlichen Innenraum des Menschen als Tor zum Herzen.
„Du brauchst Gott nicht hier oder dort zu suchen. Er ist nicht weiter entfernt als die Tür deines Herzens. Dort steht Er und wartet und wartet, bis du bereit bist, nicht nach Ihm in der Ferne zu rufen. Deine Hingabe und Sein Hereinkommen sind ein und derselbe Augenblick.“
Der ZEN-Meister fordert seinen Schüler auf:
„Zeige mir dein ursprüngliches Gesicht, bevor deine Eltern geboren wurden !”
Im Zustand der bedingungslosen Enthüllung, des völligen Leerseins, öffnet sich die Eingangspforte zum Himmel, zum Ur-Grund unseres Seins. Wir betreten und erblicken den Raum der Wirklichkeit Gottes. Sowohl Leere als auch Fülle geben unserem Leben Sinn. In diesem Raum verwandelt sich die Agnose in befreiende Gnosis.
Bei Lao Tse im 8. Kapitel des Tao Te King lesen wir:
„Das höchste Gut gleicht dem Wasser.
Weil Wasser den zehntausend Dingen nützt,
ohne mit ihnen zu streiten,
und selbst dahin fließt,
wo kein Mensch sein mag.
Beim Wohnen ist der geeignete Platz wesentlich,
beim Denken die Tiefe,
beim Umgang mit andern die Güte,
beim Reden die Ehrlichkeit,
beim Regieren die Gerechtigkeit,
beim Arbeiten das Können,
beim Handeln der richtige Zeitpunkt.
Wo kein Streit ist,
da ist auch keine Schuld.“
13.04.2023
Roland R. Ropers
Religionsphilosoph, spiritueller Sprachforscher, Buchautor und Publizist
www.KARDIOSOPHIE-NETWORK.de
Über Roland R. Ropers
Roland R. Ropers geb. 1945, Religionsphilosoph, spiritueller Sprachforscher,
Begründer der Etymosophie, Buchautor und Publizist, autorisierter Kontemplationslehrer, weltweite Seminar- und Vortragstätigkeit.
Es ist ein uraltes Geheimnis, dass die stille Einkehr in der Natur zum tiefgreifenden Heil-Sein führt.
>>> zum Autorenprofil
Buch Tipp:
Kardiosophie
Weg-Weiser zur kosmischen Ur-Quelle
von Roland R. Ropers und
Andrea Fessmann, Dorothea J. May, Dr. med. Christiane May-Ropers, Helga Simon-Wagenbach, Prof. Dr. phil. Irmela Neu
Die intellektuelle Kopflastigkeit, die über Jahrhunderte mit dem Begriff des französischen Philosophen René Descartes (1596 – 1650) „Cogito ergo sum“ („Ich denke, also bin ich“) verbunden war, erfordert für den Menschen der Zukunft eine neue Ausrichtung auf die Kraft und Weisheit des Herzens, die mit dem von Roland R. Ropers in die Welt gebrachten Wortes „KARDIOSOPHIE“ verbunden ist. Bereits Antoine de Saint-Exupéry beglückte uns mit seiner Erkenntnis: „Man sieht nur mit dem Herzen gut“. Der Autor und die sechs Co-Autorinnen beleuchten aus ihrem individuellen Erfahrungsreichtum die Vielfalt von Wissen und Weisheit aus dem Großraum des Herzens.
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