Weiterentwicklung durch Angst

angst-frau-fenster-window-view

Weiterentwicklung durch Angst – Woher kommt und wozu brauchen wir die Angst ?

Ja, es stimmt. Angst macht uns hilflos, wir fühlen uns wie gelähmt, es schnürt uns die Kehle zu, das Herz rast, die Knie beginnen zu zittern, kalter Schweiß tritt auf die Stirn und die Haare stehen uns zu Berge. Als ob der Gedanke an das unerwartete und scheinbar unlösbare Problem, das da auf uns zukommt nicht schon bedrohlich genug wäre, spielt nun auch noch der ganze Körper verrückt. Woher kommt und wozu brauchen wir die Angst?

Die Angst ist kein angenehmes Gefühl und die damit einhergehende Hilflosigkeit ist auch kein beglückender Zustand. Deshalb sucht jeder Mensch in einer solchen Situation nach Lösungen, die dazu beitragen, diesen Zustand zu beenden. Meist wird dann eine der beiden Möglichkeiten gewählt: entweder man verändert die Verhältnisse, die die Angst auslösen und versucht so, die Welt und die anderen Menschen an sich selbst und seine eigenen Bedürfnisse anzupassen. Oder man verändert sich selbst und versucht sich und seine eigenen Bedürfnisse an die jeweils herrschenden Verhältnisse anzupassen. Meist gelingt dann ja auch das Eine oder das Andere.

Erfolgserlebnis nennt man das, und ohne solche Erfolgserlebnisse wäre das Leben grau und eintönig.

Weil die verstärkte Ausschüttung von bestimmten Botenstoffen im Gehirn gleichzeitig auch noch zur Bahnung und Verstärkung der zur Lösung des Problems aktivierten neuronalen Verschaltungen führt, wird man bei der Bewältigung solcher und ähnlicher Herausforderungen zwangsläufig immer besser. Aus dem anfänglich noch sehr schwachen Verknüpfungen werden, je häufiger ein Problem auf die gleiche Weise gelöst wird, allmählich immer besser nutzbare Nervenwege, dann Straßen und am Ende sogar Autobahnen. Und von diesen kommt man dann später oft nur schwer wieder herunter.

Wer also Probleme immer wieder auf die gleiche, eingefahrene Weise zu lösen versucht, fährt sich allzu leicht fest und gerät in Angst und Panik, wenn eine Situation entsteht, für die nun wirklich eine andere, innovative Lösungsstrategie gefunden werden müsste.

Vor allem solche Personen, die bisher extrem erfolgreich bestimmte Strategien eingesetzt haben, um alles, was ihnen Angst macht, unter Kontrolle zu halten und zu beherrschen (auch sich selbst), verlieren auf diese Weise allzu leicht den Kontakt zu ihrem Körper. Oft betrachten sie ihn sogar als ein Instrument, das es zu kontrollieren gilt und das optimiert
werden muss, um die von ihnen angestrebten Ziele zu erreichen.

Je länger und je erfolgreicher solche Menschen auf diese Weise unterwegs sind, desto stärker verlieren sie das Gefühl für ihren eigenen Körper. Sie werden gewissermaßen taub für die dort generierten Signale. Und es sind dann zwangsläufig vor allem solche Menschen, die äußerst große Mühe haben, das Nichtfunktionieren von etwas zu ertragen, das bisher immer funktioniert hatte.

Die dadurch ausgelösten körperlichen Reaktionen machen ihnen Angst, aber diese Angst wird nun nicht durch das konkrete Ereignis, sondern durch die ihnen so fremd gewordenen Reaktionen ihres eigenen Körpers ausgelöst. Hier hilft langfristig nun all das nicht mehr weiter, was sie normalerweise bisher immer wieder erfolgreich eingesetzt hatten: Verdrängung, Ablenkung, Aufregung, auch nicht noch mehr Arbeit oder Urlaub.

Solche Personen müssten lernen, die hinter dieser Angst verborgene Botschaft zu verstehen:

Sie müssten sich mit dem Umstand anfreunden, dass sich im Leben nicht alles kontrollieren lässt. Oder positiver: sie müssten die Demut wiederentdecken, die darin besteht, das Leben einfach so anzunehmen, wie es ist.

Nur wenigen Menschen gelingt ein solcher Bewusstseinswandel. Auf dieser Stufe wird weder eine Veränderung der Verhältnisse noch des eigenen Verhaltens als wichtigste Voraussetzung zur Überwindung der Angst betrachtet, sondern eine andere Bewertung des im Außen erlebten Geschehens im eigenen Inneren angestrebt.

Grundlage dieser neuen Bewertung ist eine veränderte Haltung, eine andere Einstellung der betreffenden Personen gegenüber dem Leben und dem, worauf es im eigenen Leben wirklich ankommt. Hier geht es also eher um das Wiederfinden von etwas, was man angesichts von Leistungsdruck und Erfolgsstreben oder auch durch eingefahrene Gewohnheiten und Alltagsroutinen verloren hat.

So erweist sich also die Angst als eine in unserem Gehirn und in unserem Körper ausgelöste Reaktion, die uns zu einer eigenen Weiterentwicklung zwingt.

Und genau das unterscheidet uns ja so grundsätzlich von den Tieren: Im Gegensatz zu ihnen wird unser Verhalten nicht mehr von angeborenen, fest im Hirn verankerten und durch entsprechende Auslöser in Gang gesetzte Verhaltensweisen bestimmt. Wir müssen erst lernen, was wir wann zu tun und zu lassen haben.

Deshalb verpaaren wir uns nicht nur im Frühjahr, wenn der Testosteronspiegel ansteigt. Deshalb müssen wir nicht sofort nach etwas Essbarem suchen, wenn der Magen zu knurren beginnt. Deshalb müssen wir auch nicht ständig unser Revier markieren oder wie ein Hahn herumkrähen, damit andere wissen, wo wir zu Hause sind und uns dort in Ruhe lassen.

Indem wir Menschen zunehmend besser lernen, unsere eigene Lebenswelt nach unseren Vorstellungen zu gestalten, diese Vorstellungen aber von dem bestimmt werden, was wir in dieser so geschaffenen Lebenswelt erleben, manövrieren wir uns in ein zunehmend schwieriger werdendes Problem hinein: Die von den Mitgliedern einer Familie, eines Dorfes, einer Stadt, eines Kulturkreises nach ihren Vorstellungen geschaffenen Lebensbedingungen stabilisieren und reproduzieren dieselben Vorstellungen, nach denen diese Lebenswelt ja auch schon von ihren Eltern und Großeltern gestaltet worden war. Die betreffende Gemeinschaft schwimmt dann sprichwörtlich „in der von ihr selbst gekochten Suppe“.

Solange sich nichts ereignet, was diese, nach ihren Vorstellungen gestalteten Welt durcheinanderbringt und in Frage stellt, sind die Mitglieder solcher Gemeinschaften fest davon überzeugt, sie hätten alles im Griff. Es gibt dann für sie weder einen Grund, an der Gültigkeit der bisher von ihnen umgesetzten Vorstellungen zu zweifeln noch die nach diesen Vorstellungen geschaffenen Lebenswelt in Frage zu stellen.
In ihren Augen sind sie mit völlig richtigen Vorstellungen auf einem völlig richtigen Weg und auch genau in die richtige Richtung unterwegs.

So empfindet das jede und jeder Einzelne und darin bestärken sich auch alle gegenseitig.

Aber so wird jede und jeder Einzelne und damit auch die jeweilige Gemeinschaft aufgrund der Starrheit ihrer Vorstellungen zunehmend unflexibel.

Gelingt es ihnen nicht, diese Vorstellungen zu öffnen, ereilt sie das gleiche Schicksal wie es auch schon all jene tierischen Vorfahren ereilt hat, die an der Unveränderbarkeit der ihr Verhalten bestimmenden genetischen Anlagen gescheitert sind.

Zwar können Menschen eine Zeitlang versuchen, ihre Vorstellungen und ihre danach gestaltete Lebenswelt aufrechtzuerhalten, indem sie sich von all dem, was sie in Frage stellt, abgrenzen, zurückziehen oder sich in einem entlegenen Winkel verstecken. Sie können sich auch gegenseitig beschwichtigen oder sich mit anderen Beschäftigungen ablenken. Und sie können auch versuchen, all das zu bekämpfen, was ihre jeweiligen Vorstellungen und Überzeugungen bedroht. Aber auf Dauer gelingen wird ihnen das ebenso wenig, wie allen an der Starrheit ihrer genetischen Anlagen und der von ihnen festgelegten unflexiblen Verhaltensweisen gescheiterten Tiere.

Deshalb bekommen wir auch am häufigsten und immer dann Angst, wenn wir erleben müssen, dass unsere Vorstellungen davon, wie wir leben wollen, was unser Leben ausmacht und was wir für ein glückliches Leben brauchen, sich nicht verwirklichen lassen. Dann haben wir das Gefühl, dass der Boden, auf dem wir stehen, unter unseren Füßen wegrutscht.

Das macht Angst und treibt manche Menschen sogar in die Verzweiflung. Alles, was sie bisher gemacht und geschaffen haben, wofür sie sich mit aller Kraft eingesetzt und gekämpft haben, was ihrem Leben bisher Halt, Orientierung und Sinn geboten hatte, bricht dann wie ein Kartenhaus in sich zusammen. Das ist schrecklich.

Davor, dass ihnen genau das zustoßen könnte, haben die meisten Menschen aller größte Angst.

Und dennoch, auch hier: Wie sollte ein Mensch jemals zu der Einsicht gelangen, dass er sich mit seinen Vorstellungen davon, worauf es im Leben ankommt, völlig verrannt hat? Wenn er nicht Angst bekäme, wenn er sich zu weit von dem entfernt hat, was er für ein gelingendes Leben braucht?

Mit unserem plastischen, lernfähigen Gehirn sind und bleiben wir Menschen zeitlebens Suchende. Wir können nicht wissen, was richtig und was falsch ist. Wir müssen dazu eine Vorstellung herausbilden und es dann ausprobieren. Und natürlich können wir uns dabei irren, bisweilen sogar völlig verirren. Das gilt für jeden einzelnen Menschen, aber ebenso für eine ganze menschliche Gemeinschaft. Wenn wir auf solchen Irrwegen keine Angst bekämen, hätten wir auch keine Veranlassung, jemals nach einem anderen, geeigneteren Weg zu suchen.


Buchtippcover-wege-aus-der-angst-gerald-huether

Mehr dazu finden Sie in dem dem Buch „Wege aus der Angst. Über die Kunst, die Unvorhersehbarkeit des Lebens anzunehmen“ (erscheint Anfang Oktober 2020 bei Vandehoeck und Ruprecht).
von Gerald Hüther

Menschen verfügen über ein plastisches, zeitlebens lernfähiges Gehirn und müssen erst herausfinden, worauf es im Leben ankommt. Deshalb sind und bleiben wir Suchende. Aber allzu leicht können wir uns auf der Suche nach einem glücklichen und sinnerfüllten Leben auch verirren, als Einzelne ebenso wie als ganze Gesellschaft. Sobald wir zu spüren beginnen, dass wir auf Abwege geraten sind, bekommen wir Angst. Und das ist gut so. Die Angst ist unser wachsamster Begleiter. Sie ermöglicht es uns, aus Fehlern zu lernen. Ohne Angst können wir nicht leben.
»»»Zum Buch


 

21.03.2021
Gerald Hüther
Prof. Dr. Gerald Hüther zählt zu den renommiertesten Hirnforschern Deutschlands
www.gerald-huether.de


Vita Gerald HütherWoher kommt und wozu brauchen wir die Angst gerald huether

Prof. Dr. Gerald Hüther zählt zu den renommiertesten Hirnforschern Deutschlands. Er wurde 1951 in Gotha geboren, hat in Leipzig studiert und in Jena promoviert, bevor er zum Max-Planck-Institut für Experimentelle Medizin in Göttingen wechselte. Gerald Hüther interessiert sich vorwiegend für die frühen Erfahrungen im menschlichen Leben und deren Einfluss auf die Hirnentwicklung, wozu vor allem emotionale Reaktionen wie Angst und Stress gehören. Seine Erkenntnisse veröffentlicht Hüther nicht nur für die Fachwelt, sondern auch in – auch für Laien – gut zugänglichen Sachbüchern.

Mehr über Gerald Hüther erfahren Sie unter www.gerald-huether.de

2 Kommentare

  1. Auf dieser Seite (https://spirit-online.de/woher-kommt-und-wozu-brauchen-wir-die-angst.html) gibt es unter “Buchtipp” einen erheblichen sachlichen Fehler. Dort steht:

    „Wege aus der Angst. Über die Kunst, die Vorhersehbarkeit des Lebens anzunehmen“

    Statt “Vorhersehbarkeit” – was sinnenstellend ist – muss es “UNvohersehbarkeit” heißen.

    Sowas passiert, wenn der “Spirit” online ist und man selbst deshalb nicht bei der Sache. 😉

Kommentar hinterlassen

E-Mail Adresse wird nicht veröffentlicht.


*