Das Tor zur Weite Gottes

Das Tor zur Weite Gottes

“Mit fünfzehn war ich strikt atheistisch und fand die Welt täglich absurder.”

Madeleine Delbrêl (1904 – 1964) wird am 24. Oktober 1904 in der südfranzösischen Kleinstadt Mussidan im Département Dordogne geboren. Sie wächst als Tochter eines Eisenbahnbeamten ohne jeden Bezug zur Religion auf und entwickelt schon als Jugendliche künstlerische und intellektuelle Begabungen. Als sie sechzehn Jahre alt ist, zieht die Familie nach Paris, wo sie an der Sorbonne Kunst und Philosophie studiert. Sie schreibt Gedichte und erhält einen bedeutenden französischen Literaturpreis.

Die junge Frau stürzt sich in Paris in den Taumel der „Goldenen 20er Jahre“: „Man verachtet die, die sich amüsieren. Ich amüsiere mich. Ich liebe es, zu tanzen, bis ich nicht mehr weiß, wo ich bin. Ich liebe schnelle Autos. Ich liebe schnelle Autos und Schmuck und ich liebe Musik, die so laut ist, dass man kein Wort mehr versteht. Alles Dinge, die ich auch wieder lassen könnte, ohne dass das ein Drama wäre.“

Madeleine lernt Jean Maydieu kennen und lieben, den Patensohn eines Freundes ihres Vaters.

An ihrem 19. Geburtstag findet die Verlobung statt. Kurz darauf bricht Jean Maydieu die Verbindung für lange Jahre ab und wird Dominikaner-Mönch. Madeleine gerät in eine tiefe Lebenskrise.

Das Experiment einer neuen Erfahrung des Betens mündet bei Madeleine Delbrêl ganz unerwartet in die Gewissheit, dass Gott existiert – eine Erfahrung, die sie zeitlebens als überwältigende Umkehr zum Leben empfand. Nach ihrem Tod fand man einen Zettel in ihrem Gebetbuch – darauf exakt als Datum der Bekehrung notiert: der 29. März 1924. Wie eine Richtschnur für ihr weiteres Leben stehen auf diesem Merkzettel die Sätze: „Ich will das, was du willst, ohne mich zu fragen, ob ich es kann. Ohne mich zu fragen, ob ich Lust darauf habe. Ohne mich zu fragen, ob ich es will.”

Madeleine hatte kurzzeitig überlegt,  sich von der Welt zurückzuziehen, ins Kloster zu gehen und ihren heiligen Vorbildern wie Teresa von Avila und Johannes vom Kreuz nachzufolgen. Beim Lesen und Studieren des Neuen Testaments hatte sie entdeckt, dass Jesus mitten in der Welt geblieben ist, mitten unter den Menschen, dass er das Leben der Menschen geteilt hat, die beiden Pole von Gottesliebe und Nächstenliebe zusammenhalten konnte und auch seine Jünger auf diesen Weg geschickt hat. Das hatte sie sehr bewegt und beeindruckt; und sie hatte für sich erkannt, dass ihr Weg in diese Richtung zu gehen hatte, dass sie noch mal an den Ursprung vom Christentum zurückgehen wollte und in der heutigen Zeit Jesus Christus nachzufolgen, mitten in der Welt.

Im Herbst 1933 beginnt Madeleine Delbrêl gemeinsam mit zwei Gefährtinnen ihr unorthodoxes Projekt:

Sie verlassen Paris und gründen mitten in der kommunistisch regierten Arbeitervorstadt Ivry im Geiste des Evangeliums eine kleine christliche Gemeinschaft. Ohne Gelübde, ohne Klausur, aber ehelos und bereit, Gott den ersten Platz in ihrem Leben einzuräumen:

„Es gibt Leute, die Gott nimmt und in eine besondere Lebensform beruft. Andere gibt es, die lässt er in der Masse, die zieht er nicht aus der Welt zurück. Wir anderen, wir Leute von der Straße, glauben aus aller Kraft, dass diese Straße, diese Welt, auf die Gott uns gesetzt hat, für uns der Ort unserer Heiligkeit ist. Wir glauben, dass uns hier nichts Nötiges fehlt, denn wenn das Nötige fehlte, hätte Gott es uns schon gegeben.“

Madeleine Delbrêl ließ sich zur Sozialarbeiterin ausbilden. Sie ist schockiert über die Arbeits- und Lebensbedingungen der 1930-er Jahre in Ivry. Sie beginnt, sich leidenschaftlich zugunsten der sozial Benachteiligten zu engagieren.

„Geht hinaus in euren Tag ohne vorgefasste Ideen, ohne die Erwartung von Müdigkeit, ohne Plan von Gott, ohne Bescheidwissen über ihn, ohne Enthusiasmus, ohne Bibliothek – geht so auf die Begegnung mit ihm zu. Brecht auf ohne Landkarte – und wisst, dass Gott unterwegs zu finden ist und nicht erst am Ziel. Versucht nicht, ihn nach Originalrezepten zu finden, sondern lasst euch von ihm finden in der Armut eines banalen Lebens. Im Glauben haben wir Gott gefunden; wir können ihn weitergeben, wenn wir uns selbst geben, und zwar hier in unserer Stadt. Es geht also nicht darum, dass wir uns irgendwohin davon machen, das Herz beschwert von der Not der anderen, wir müssen vielmehr bei ihnen bleiben, mit Gott zwischen ihnen und uns.“

Madeleine Delbrêl hatte zeitlebens an der Enge, an der Kleinkariertheit von Menschen aus der Kirche gelitten.

Sie hatte immer wieder davon gesprochen, dass die meisten Christen, die sie kennen lernte, den Glauben an den lebendigen Gott mit christlicher Mentalität verwechseln. Christliche Mentalität ist etwas, was sich im Laufe der Zeit an Traditionen, an Gebräuchen, Einstellungen um den Glauben herum gruppiert. Und oft neigt man dazu, das für das eigentliche zu halten. Der lebendige Gott ist in jeder Zeit neu zu übersetzen, wirft auch immer wieder neue Fragen über den Haufen, ist immer wieder überraschend.

Ihre letzten Lebensjahre waren davon geprägt, dass sie sich innerlich ihrem Umfeld entfremdete. Sie hatte gespürt, dass es in ihrem eigenen Inneren eine Begegnung mit Gott, eine Tiefe gab, die sie kaum noch mit anderen teilen konnte. In ihr wuchs das schmerzvolle Gefühl, ausgesondert zu sein:

„Wenn man sich in seinem eigenen Innern, zwischen der Masse der Menschen und Gott, zur Anerkennung Gottes bekennt, bringt man sich in Gegensatz zur einmütigen Überzeugung der Gemeinschaft, in der man lebt. Durch alle erlittene Einsamkeit hindurch eine Insel göttlicher Anwesenheit werden: um Gott einen Ort zu sichern. Das Mysterium des göttlichen Lebens auf uns lasten lassen, in den Finsternissen der allgemeinen Unwissenheit Punkte der Bewusstwerdung seines Daseins setzen. Erkennen, dass hier der eigentliche Akt der Erlösung geschieht.“

„Warum sollte der Lerchengesang im Kornfeld, das nächtliche Knistern der Insekten, das Summen der Bienen im Thymian unser Schweigen nähren können – und nicht auch die Schritte der Menschenmenge auf den Straßen, die Stimmen der Marktfrauen, die Rufe der Männer bei der Arbeit, das Lachen der Kinder im Park, die Lieder, die aus der Bar dröhnen. Begegnung mit Gottes lebendiger Kausalität im Lärm der Straßenkreuzungen. Begegnung mit Jesus Christus in all denen, die physisch leiden, die sich langweilen, die sich ängstigen, denen etwas fehlt.“

In ihren letzten Lebensjahren reist Madeleine Delbrêl nach Polen und Afrika. cover madleine delbrel ropers

Sie ist bewegt vom Elend der Menschen in Madeira, Dakar und Conakry. Sie verfasst letzte Schriften und arbeitet unermüdlich in der Rue Raspail in Ivry.
Am Spätnachmittag des 13. Oktobers 1964 finden ihre Gefährtinnen sie leblos in ihrem Arbeitszimmer.

„Jedem Menschen, dem man begegnet, die ganze Fülle der Liebe schenken; das ist das Tor zur Weite Gottes, das Tor, das sich geradewegs auf die universale Liebe hin öffnet.“

26.01.2023
Roland R. Ropers
Religionsphilosoph, spiritueller Sprachforscher, Buchautor und Publizist

www.KARDIOSOPHIE-NETWORK.de


Über Roland R. Ropers

Das Tor zur Weite Gottes Roland Ropers 2021

Roland R. Ropers geb. 1945, Religionsphilosoph, spiritueller Sprachforscher,
Begründer der Etymosophie, Buchautor und Publizist, autorisierter Kontemplationslehrer, weltweite Seminar- und Vortragstätigkeit.
Es ist ein uraltes Geheimnis, dass die stille Einkehr in der Natur zum tiefgreifenden Heil-Sein führt.

>>> zum Autorenprofil

Alle Beiträge des Autors auf Spirit Online

Buch Tipp:

cover kardiosophie Roland RopersKardiosophie
Weg-Weiser zur kosmischen Ur-Quelle

von Roland R. Ropers und
Andrea Fessmann, Dorothea J. May, Dr. med. Christiane May-Ropers, Helga Simon-Wagenbach, Prof. Dr. phil. Irmela Neu

Die intellektuelle Kopflastigkeit, die über Jahrhunderte mit dem Begriff des französischen Philosophen René Descartes (1596 – 1650) „Cogito ergo sum“ („Ich denke, also bin ich“) verbunden war, erfordert für den Menschen der Zukunft eine neue Ausrichtung auf die Kraft und Weisheit des Herzens, die mit dem von Roland R. Ropers in die Welt gebrachten Wortes „KARDIOSOPHIE“ verbunden ist. Bereits Antoine de Saint-Exupéry beglückte uns mit seiner Erkenntnis: „Man sieht nur mit dem Herzen gut“. Der Autor und die sechs Co-Autorinnen beleuchten aus ihrem individuellen Erfahrungsreichtum die Vielfalt von Wissen und Weisheit aus dem Großraum des Herzens.

> Jetzt ansehen und bestellen <<< 

Für Artikel innerhalb dieses Dienstes ist der jeweilige Autor verantwortlich. Diese Artikel stellen die Meinung dieses Autors dar und spiegeln nicht grundsätzlich die Meinung des Seitenbetreibers dar. Bei einer Verletzung von fremden Urheberrecht oder sonstiger Rechte durch den Seitenbetreiber oder eines Autors, ist auf die Verletzung per eMail hinzuweisen. Bei Bestehen einer Verletzung wird diese umgehend beseitigt. Wir weisen aus rechtlichen Gründen darauf hin, dass bei keiner der aufgeführten Leistungen oder Formulierungen der Eindruck erweckt wird, dass hier ein Heilungsversprechen zugrunde liegt bzw. Linderung oder Verbesserung eines Krankheitszustandes garantiert oder versprochen wird. Alle Inhalte des Magazins sind kein Ersatz für eine Diagnose oder Behandlung durch einen Arzt, Psychotherapeuten oder Heilpraktiker.

Hinterlasse jetzt einen Kommentar

Kommentar hinterlassen

E-Mail Adresse wird nicht veröffentlicht.


*