Annemarie Schimmel – Die Grande Dame der Orientalistik

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oriantaler mannAnnemarie Schimmel „Die Grande Dame der Orientalistik“

„Jesus ist, wie der Koran sagt, der große Arzt, der mit seinem ‚Zauber’ die Kranken heilen kann. Aber wie Hafiz im Einklang mit vielen anderen singt, er erscheint nur, wenn Schmerz vorhanden ist. Unter Jesu Heilungswundern spielt die Heilung der Blindgeborenen eine besondere Rolle. Deshalb wird sein Name manchmal in Verbindung mit Heilmitteln erwähnt, die das Auge stärken sollen, wie Kollyrium und Antimon. Obgleich Jesus alle erdenklichen Krankheiten heilen kann, gegen eine Krankheit ist selbst er ohnmächtig, und das ist die menschliche Dummheit…“

Die Grande Dame der Orientalistik

wurde am 7. April 1922 in Erfurt, der Heimat des deutschen Mystikers Meister Eckhart, geboren. Schon als 15-Jährige begann sie mit dem Studium der arabischen Sprachen. Mit 16 Jahren machte sie Abitur, studierte in Berlin Arabistik und Islamwissenschaft. Mit 19 Jahren Abschluss der Studien mit Promotion.

Zunächst arbeitete sie als Übersetzerin und Lehrbeauftragte für Islamkunde an der Universität Marburg. Im Januar 1946 habilitierte sie sich an der Universität Marburg. 1954 wurde sie an die Islamisch-Theologische Fakultät der Universität Ankara berufen. Sie lehrte klassische türkische Literatur. 1961 übernahm sie einen Lehrauftrag am Seminar für Orientalische Sprachen an der Universität Bonn. Seit 1967 war sie 25 Jahre lang an der Harvard Universität als Dozentin tätig und dort u.a. Kollegin von Raimon Panikkar. Gastprofessuren führten sie in viele wichtige Universitäten der Welt.
1995 erhielt sie den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels.

Annemarie Schimmels Verdienst ist es,

der westlichen christlich orientierten Welt den Islam als eine von großer Tiefe und Weisheit geprägte Religion zu entschlüsseln. Für ihr Werk erhielt Annemarie Schimmel zahlreiche Auszeichnungen auch in der islamischen Welt, unter anderem die Ehrendoktorwürde der Universitäten Sind, Islamabad, Peshawar, Uppsala, Konya und Teheran.

Sie beherrschte viele Sprachen: Englisch, Türkisch (auch Azeri und Turkmenisch), Französisch, Arabisch (in verschiedenen Dialekten), Persisch, Urdu, Paschtu, Sindhi, Kurdisch, Schwedisch. Vorträge in Arabisch und Persisch konnte sie frei halten. Sie veröffentlichte auch Übersetzungen aus den indischen Sprachen Sindhi und Paschtu. Für ihre Arbeit verwendet sie alle europäischen Sprachen und schrieb leidenschaftlich gerne arabische Briefe.

„Eine bekannte Überlieferung berichtet, dass der Prophet Muhammad im Traume Jesus gesehen habe, den er als überaus schöne, lichtvolle Gestalt beschrieb, während ihm der Dadschdschal, der eschatologische Gegenspieler Jesu, als hässliche Figur erschien. Wenn der Prophet selbst so positiv von Jesus träumte, ist es natürlich, dass Erscheinungen Jesu auch in der Traumdeutung eine Rolle spielen. Für den frommen Muslimen steht die Heilkunst Jesu im Zentrum…“

In Saudi-Arabien genießt Annemarie Schimmel als einzige Frau aus dem Ausland höchstes Ansehen, in Pakistan sind Straßen nach ihr benannt, in Südostasien wurden Studentinnen mit ihrem Konterfei als Anstecker auf Demonstrationen gesichtet. Taxifahrer der weltoffenen Universitätsstadt Bonn können mit dem Namen Annemarie Schimmel, der Friedenspreis-trägerin des Deutschen Buchhandels von 1995, wenig anfangen.

Am 17. Februar 2002 erlebte ich einen unvergesslichen Sonntag

SCHIMMEL Annemarie und Roland Ma¨rz 2002
SCHIMMEL Annemarie und Roland Maerz 2002

mit Annemarie Schimmel in ihrer Bonner Wohnung in der Lennéstraße Nr. 40, am 7. April 2002 feierte sie ihren 80. Geburtstag und am 13. Juli 2002 haben wir uns zum letzten Male in der Eifel gesehen.

„Irgendwie gehöre ich nicht so ganz in diese Welt“.

Irgendwie hat Annemarie Schimmel wohl Recht mit diesem etwas selbstironischen Satz, der ein wenig später fällt – beim Gespräch zwischen Orientteppichen, Büchern, einem etwas antiquierten Sofa und allerlei orientalischen Mitbringseln von der Kalligraphie an der Wand bis zum Halva auf dem Tisch.

Mehr im Orient als im Westen zu Hause“,

so könnte man das Leben der zierlichen älteren, aber keineswegs ältlichen Frau beschreiben. Seit dem ersten Besuch in der Türkei Anfang der 1950-er Jahre hat sie wohl alle Länder zwischen Marokko und Indonesien bereist, mehrfach promoviert, unzählige Texte im Original gelesen, übersetzt und sogar selbst vieles in gleicher Diktion gedichtet – eingetaucht in jenes Morgenland wie wohl keine zweite Wissenschaftlerin des Abendlandes. Sie wohnte inmitten eines ruhigen Viertels der alten deutschen Universitätsstadt, im vierten Stock eines bürgerlichen Altbaus.

Pittoreske Miniaturen aus der islamischen Welt stimmten den Besucher im letzten Abschnitt des Treppenaufgangs auf das ein, was folgen sollte: eine Oase des Orients. In dieser immer auch irgendwie ein wenig ungeordneten Oase mochte man gerne mit jener zierlichen und vom Alter bereits gebeugten, auffallend kleinen Frau mit den wachen Augen und der stets präsenten orientalischen Gastfreundschaft plaudern: über die Größe islamischer Geschichte, über die sie so treffend referieren konnte, über die Tiefe islamischer Mystik, die sie so plastisch machen konnte, über die Arabesken arabischer Literatur, die sie so einfühlsam vortragen konnte.

Irgendwie war sie in ihrem Fach, was man sonst kaum mehr fand:

eine Universalgelehrte der Islam- und der Glaubensgeschichte überhaupt. Doch nicht nur in der westlichen Welt war Annemarie Schimmel hoch geachtet. Sie war vielleicht sogar die erste Frau aus dem Westen, die auch in Kreisen orthodoxer Islamisten anerkannt war und der man mit Hochachtung begegnete. Eine Auszeichnung für sie. Aber eben auch einer der Züge an ihr, welche sie manchen westlichen Betrachtern suspekt machten.

Und wer Vita, Werk und Wohnung betrachtete, mochte durchaus fragen, ob diese Nähe nicht hinderlich sei. Ein Zug von Romantik lag ganz sicher in diesem Leben und Schaffen. Doch bei solchen Fragen belehrte sie einen stets eines Besseren. „Nein!“, hielt sie entgegen, es sei nicht hinderlich. Im Gegenteil: Man müsse auch immer ein Stück weit in die Dinge eintauchen, um sie über die reinen Fakten und Daten hinaus zu verstehen. Nur dann könne man auch mehr als nur diese weitergeben.

Ob die Nähe aber nicht doch auch Einseitigkeit zur Folge habe?

Wenn dem so sei, passe es ja gut zu dem vorherrschenden Bild vom Islam, pflegte sie da stets zu erwidern. Nein, Annemarie Schimmel war keine einfache Frau. Mehr noch: sie war auch keine einfach zu verstehende Frau. Sie versuchte den Islam zu erklären. Und sie war nicht selten auch versucht, ihn zu verteidigen – gerade im Westen. Dass sie übrigens in der islamischen Welt oft genau das Gegenteil tat, war wenig bekannt. Ihren Kritikern schon gar nicht. Und sie redete selten davon.

Ohne Zweifel: aus Annemarie Schimmel sprach oftmals der Islam selbst. Sie war vielleicht so etwas wie seine beste Botschafterin in der westlichen Welt. Mit ihrem Tode hat er hierzulande einen wichtigen Fürsprecher verloren. Aber der Westen auch zugleich eine wichtige, sprudelnde Quelle über jene Welt, die ihm oftmals so fern ist.

 2 Jahre vor ihrem Tod bat sie der Cheflektor eines großen deutschen Verlags um ein neues Buch über den persischen Mystiker Rumi.

Sie fragte lediglich nach der gewünschten Seitenzahl und dem Abliefertermin für das Manuskript. Man wünschte es so schnell wie möglich.

Innerhalb von nur 14 Tagen schrieb sie auf ihrer 40 Jahre alten Schreibmaschine einen druckreifen Text von 140 Seiten, ohne vorherige Entwürfe und Gliederungsstrukturen. Das Buch erschien 8 Wochen nach Auftragserteilung. Eine echte “Schimmel-Leistung”

Anfang Januar 2003 stürzte Annemarie Schimmel unglücklich und zog sich einige Wirbelverletzungen zu. Sie starb an den Folgen sehr komplizierter Operationen am 26. Januar  2003 und wurde am 4. Februar in Bonn beerdigt.

20.09.2020
Roland R. Ropers
www.KARDIOSOPHIE-NETWORK.de


Über Roland R. RopersRoland-Ropers

Roland R. Ropers geb. 1945, Religionsphilosoph, spiritueller Sprachforscher,
Begründer der Etymosophie, Buchautor und Publizist, autorisierter Kontemplationslehrer, weltweite Seminar- und Vortragstätigkeit.
Es ist ein uraltes Geheimnis, dass die stille Einkehr in der Natur zum tiefgreifenden Heil-Sein führt.
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