Schottland Erraid – Geschenk und Herausforderung

mond lichter see aurora

Die winzige Gezeiteninsel Erraid in Schottland ist ein Ort der Rückbesinnung und des einfachen Lebens.

Wer reif für diese Insel ist, lässt sich nicht von Palmenstränden und Sonne verlocken – sondern ist bereit, dem Wind zu trotzen, der hier unablässig weht, dem eiskalten, wenngleich smaragdfarbenen Wasser standzuhalten und den Abend nicht an der Strandbar, sondern vor dem Kaminfeuer ausklingen zu lassen. Wer hier leben will, sucht nicht die perfekte Welle, sondern das Singen und Meditieren in der Gemeinschaft; sucht nicht Wellness, sondern körperliche Arbeit, fast völlige Abgeschiedenheit und die Basics des Lebens. Hier ist man auf sich selbst zurückgeworfen – und findet oft mehr, als man erwartet hat.

Es war die Familie Stevenson, deren Männer als Leuchtturmwächter arbeiteten, die Mitte des 19. Jahrhunderts hier das “Headquarter” für ihre Arbeiten an der Küste Schottlands errichtet haben. Sie baute die sieben kleinen Cottages, die in einer Reihe stehen und zum Ufer der Insel Mull auf der anderen Seite hinüberschauen. Einen Steinwurf entfernt zur anderen Seite liegt die heilige Insel Iona.

Der berühmteste Sprößling der Stevensons, Robert Louis, wünschte seinerzeit auf den “Wunschstein” der Insel, Schriftsteller zu werden. Inzwischen gehört die Gezeiteninsel einer holländischen Familie, die hier einen Monat im Sommer verbringt. Die restliche Zeit über steht sie der Findhorn Foundation, einer spirituellen Gemeinschaft im Norden des Landes, zur Verfügung.

Eine stets wechselnde Handvoll „Findhörner“ verwirklicht auf Erraid den Anspruch, so nachhaltig und ökologisch zu leben wie nur möglich, während sie ihre spirituellen Werte bewusst im Alltag umzusetzen versuchen. Man lebt vom Land in Form des Gartens und vom Meer, indem man die Felder im Winter mit Seetang fruchtbar macht. Es gibt auch Kühe und Hühner. Der Rest der torfigen, zerklüfteten Insel gehört den Schafen und neugierigen Seehunden, die immer schauen, wenn sich am Strand etwas tut.

Jonathan Caddy, Sohn der Findhorngründer Eileen und Peter, kam 1978 nach Erraid, als alles noch völlig neu war.

Er stellte sich der Aufgabe, praktisch umzusetzen, was er in der Theorie gelernt hatte: soweit möglich vom Land zu leben. “Das Leben hier war sehr real, sehr einfach, nur das Nötigste: Essen, Wärme, menschliche Gesellschaft. Das hat mich nicht geschreckt, ganz im Gegenteil.” So wird man, sagt Jonathan, auf wundervolle Weise an die Bedeutung der Dinge erinnert und lernt, dass “mehr” nicht immer besser ist.

Der damals 22jährige kümmerte sich ahnungslos, dafür “mit einer Menge Enthusiasmus und Energie” um Hühner, Schafe, Kühe, Ziegen, Gänse und lernte, Milch zu verarbeiten. “Es war sehr intensiv, dort zu leben. Man muss sich mit allen auseinandersetzen, kann einander nicht aus dem Weg gehen. Die regelmäßige Treffen zum Austausch haben wir alle gehasst!”, lacht er. Die Landschaft allerdings liebte er: “Völlig ohne irgendetwas Überflüssiges. Der Genuss von Licht und Jahreszeiten, ein wundervolles Gefühl von Raum und Weite!”
Nach drei Jahren war seine Zeit gekommen, die Insel zu verlassen. Dies ist eine Besonderheit, die alle bestätigen, die je dort lebten: Man kommt für eine Zeitlang, schenkt sich der Insel und nimmt ihre Geschenke an – doch niemand bleibt für immer.

Die Insel ruft ihre Menschen; niemand gerät zufällig dorthin.

Als Britta von Erraid las, fuhr es ihr “regelrecht durch Mark und Bein”. Sie wusste sofort, dass dies das Richtige für sie war. Nach dem Tod ihres Freundes erlebte sie zu dieser Zeit eine sehr dunkle Phase ihres Lebens, wo nichts mehr Sinn für sie ergab. Die Homepage der Insel sah professionell aus, was ihr damals wichtig war, denn “die deutsche Frau Dr. Schmitz wollte ja nicht zu irgendwelchen Hippies.”

Sie erzählt: “Ich dachte: Entweder bring’ ich mich um, gehe in eine Klinik – oder ich gehe nach Erraid. Ich bin mir sicher, dass mir die Insel ein neues, anderes Leben geschenkt hat.” Bei Ankunft, erinnert sie sich, hatte sie nach Workshops gefragt, Selbsterfahrungsdinge wie Feuerlaufen. Und erhielt die Antwort: “Das brauchen wir nicht. Die Insel macht das alles für uns.” Hier kommt alles an die Oberfläche, berührt vieles das Herz: „Erraid ist für mich bislang meine tiefste und größte Liebesbeziehung”, so Britta. Dabei war anfangs alles anders als vorgestellt: “Für mich, die ich aus einem zentralbeheizten, mit fließend Wasser versorgten Leben in Deutschland kam, war es unglaublich, dass es diese kleinen Cottages gibt, wo man das Wasser mit dem Holzofen aufheizt und Regenwasser trinkt.”

Komposttoiletten, Badewasser aus dem Wasserreservoir, modrig riechend und vom Torf getrübt, manchmal zu Eis gefroren – „alles ganz wildromantisch.” Das enge Aufeinanderleben mit den anderen Inselbewohnern war teilweise schwierig: “Es sind nicht alles „Freunde“. Aber am Ende ist man doch eine Familie.“ Die harte Arbeit dagegen schreckte die Frau von der Universität nicht, auch nicht der Verzicht auf Luxus: “Alles auf der Insel wird wertgeschätzt, denn man bekommt es nicht einfach. Ein Stück Käse war für mich etwas Besonderes.”

Britta blieb fünf Jahre; eine Zeit davon war sie auch “Focaliserin”, Leitung, des Inselteams. „Ganz schwer verliebt“ sei sie in die Insel, so Britta:

„Es geht mir heute noch so: Wenn ich einen Fuß auf Erraid setze, habe ich das Gefühl, zuhause zu sein.”

Doch “irgendwann spuckt dich die Insel einfach aus.” Irgendwann war es ihr ganz klar, unvermittelt nach einer Rückkehr, dass sie nicht einen Tag länger den Matsch, die Kälte, die Stille aushalten wollte. Dann hat man gelernt, was die Insel zu lehren hat, hat dankbar alles angenommen und kann weiterziehen. Immer mit der Insel im Herzen.

Julia aus dem englischen Lancashire kam mit ihrem Mann Steve, Sohn Jack und Tochter Libby auf die Insel: “Es war eines von diesen unerklärlichen Dingen: Du weißt einfach, dass du dort sein sollst. Wir wurden gerufen!” Das Paar wollte sein Leben nach den eigenen Erkenntnissen ausrichten, sich selbst neu entdecken und mit Gleichgesinnten leben, denen spirituelle Werte ebenfalls wichtiger waren als Komfort und materieller Überfluss. Ein Grund war auch, die Kinder in einer so schönen, sicheren Umgebung aufwachsen lassen. Aus den anfangs angedachten zwei Wochen wurden sieben Jahre. Danach zogen sie zur Findhorn Foundation, damit Jack die weiterführende Schule besuchen kann.

Nach Brittas Fortgang übernahm Julia die Position als Focaliser.

Es fiel ihr leicht, alles zu organisieren und vorausschauend zu planen, als „Matriarchin“ der Insel zu wirken: Alle zwei, drei Monate bestellte sie lagerfähige Lebensmittel, die durch Frisches aus dem Inselgarten ergänzt wurden.

Den Einkauf von Milchprodukten oder Postgänge erledigte ihr Mann Steve auf dem Schulweg der Kinder – der immerhin eine Dreiviertelstunde Zeit in Anspruch nahm: Runter zum Pier, Rettungswesten an, Boot ins Wasser, fünf Minuten Überfahrt, dann auf Mull zur Bushaltestelle radeln. Das Wasser wird über Holzöfen befeuert, die einen „Logrun“ einmal pro Woche erforderlich machen: Die Stämme werden vom Festland herübergefahren, zersägt und die Stücke auf den Traktor geladen, dann von Hand zu Hand in jedes Haus gereicht.

Neben der Alltagslogistik bestand die Herausforderung darin, sich um die Leuten zu kümmern. „Manchmal waren nur drei Leute auf der Insel, manchmal auch 18 – im Schnitt sieben ständige Bewohner, einige in Ausbildung in Findhorn, einige Freiwillige. Montagnacht gibt es ein Sharing, das ist sehr nützlich und verbindet“, so Julia.
Durch den ständigen Wechsel der Leute verändert sich die zwischenmenschliche Dynamik, denn sie bringen ihre inneren Prozesse mit, ihr eigenes Drama – was auch die Gruppe verändern kann. Es gibt sehr langsames WLAN für die Verbindung zur Außenwelt. Aber einfach mal ums Eck, um einen Yogakurs zu machen, den Nachbarn zu entkommen oder ins Pub zu gehen, ist hier einfach nicht drin. Das vermisste die junge Mutter allerdings auch nicht: „Das Leben hier ist sicher einfacher innerhalb einer Familie.“

Letztes Jahr hat das Leben der Gemeinschaft auf Erraid 40. Jubiläum gefeiert.

Seit Neuestem gibt es Toiletten mit Wasserspülung statt Kompostklos hinter dem Haus, Zentralheizung (immer noch holzbefeuert) und sauberes statt torfiges Wasser zum Baden. Doch einige Dinge werden sich hier nie verändern: Die Insel zieht dich entweder an – oder sie lässt dich kalt. Sie behält dich nur für einige Zeit, aber nicht für immer. Und sie schenkt dir schroffe Schönheit und überwältigende Stille, während sie dir hilft, nach innen zu schauen. Besucher*innen sind nach wie vor willkommen: als zahlende Gäste mit Tagesfreiheit, im Rahmen einer Mitarbeit oder eines Retreats.

Gerade auch Kinder lieben das wilde Leben auf der Insel, wo es keine Ampeln, keinen Lärm, dafür Tiere und Natur pur gibt. Wenn du dein Leben aus einem gewissen Abstand betrachten willst oder einfach nur eine Auszeit vom überladenen, stressigen Alltag brauchst; wenn du ein wenig näher an das, was wesentlich für dich ist, heranrücken möchtest; wenn du räumliche Nähe zu anderen Menschen und Raum und Weite im Außen suchst, findest du auf Erraid all dies, nach wie vor, nachhaltig und öko-freundlich.
Bis dich die Insel dann wieder ausspuckt.

Inspiration & Information
www.erraid.com/

18.12.2021
Martina Pahr
Autorin, Bloggerin und PR – Expertin

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Erraid Martina Pahr

Martina Pahr

ist Autorin, Bloggerin und PR – Expertin, hat vor einigen Jahren den Sprung ins kalte Wasser gewagt und sich selbständig gemacht. Seither tut sie, wovon sie immer geträumt hat, und lebt vom Schreiben.
Beruflich wie auch privat setzt sie sich mit den spirituellen Aspekten des Lebens und den vielen Erscheinungsformen der New-Age-Bewegung auseinander – und nicht immer ist ihr gesunder Menschenverstand überzeugt von dem, was er vorgesetzt bekommt. Sie glaubt ungebrochen an das (viel zu oft ignorierte) Göttliche im Menschen: Eigenverantwortlichkeit und Eigenmächtigkeit, Selbstwert und Selbstheilungskräfte.
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