Spirituelles Leben und seine Widersprüche: Zwischen Mantra und Moralbankrott
In einer Welt, die sich nach Orientierung sehnt, erleben Spiritualität und sogenannte „Bewusstseinsbewegungen“ einen anhaltenden Boom. Yogastudios sprießen, Retreats boomen, und auf Social Media inszenieren sich Heerscharen selbsternannter Heiler, Coaches und Gurus als Lichtgestalten. Sie sprechen von Liebe, Wahrheit und universellem Bewusstsein. Doch bei genauerem Hinsehen offenbart sich ein unangenehmes Paradox: Viele, die sich als spirituell bezeichnen, verhalten sich in zentralen Fragen des menschlichen Miteinanders erstaunlich unspirituell.
Das Problem mit der „Wahrheit“
Ein Kernwert vieler spiritueller Strömungen ist die Wahrheit – ehrlich mit sich und anderen sein, Masken ablegen, zum Wesentlichen vordringen. In der Praxis zeigt sich jedoch, dass gerade in spirituellen Kreisen auffallend oft das Gegenteil geschieht. Statt authentischer Kommunikation gibt es eine Kultur der Halbwahrheiten, der ideologisch verbrämten Manipulation und der narzisstischen Selbstinszenierung. Lügen werden subtil in Form von geschönten Erzählungen und selektivem Schweigen transportiert – oder ganz direkt, wenn etwa persönliche Fehler verleugnet und als spirituelle Prüfungen umgedeutet werden.
Kritik, auch wenn sie berechtigt und konstruktiv ist, wird nicht selten als „niedrige Schwingung“ oder „toxisch“ abgetan, was einer Immunisierung gegen Reflexion gleichkommt. Hinter der Fassade von Harmonie und Licht herrscht oft eine subtile Kultur des Tratsches, der Abgrenzung und des moralischen Ausschlusses. Wer nicht ins Schema passt, wird nicht etwa mit Mitgefühl einbezogen, sondern als „noch nicht so weit“ oder „energetisch nicht kompatibel“ deklariert. Diese Dynamik schützt keine spirituelle Wahrheit – sie schützt Eitelkeit und bequeme Weltbilder.
Liebe predigen, Hass säen
Noch gravierender wird es, wenn Menschen, die sich mit universeller Liebe identifizieren, offen oder unterschwellig rassistische, homophobe oder ausgrenzende Haltungen vertreten – und das Ganze mit spirituellen Argumenten rechtfertigen. Da wird behauptet, „jeder ist eins“, solange der oder die andere ins eigene Weltbild passt, dieselbe Sprache spricht, dieselbe Hautfarbe hat oder kulturell nicht aneckt.
Spirituelle Konzepte wie “Seelenverwandtschaft”, “Inkarnationsweg” oder “Energiekompatibilität” werden missbraucht, um Vorurteile zu kaschieren. Wer „nicht resoniert“, wird schnell ausgegrenzt – oft ohne Dialog, ohne Aufklärung. Menschen mit Migrationshintergrund, queere Personen oder solche mit sozialem Gegenwind gelten plötzlich als „energetisch schwierig“. Das hat nichts mit Energiearbeit zu tun – das ist ein Mangel an Menschlichkeit, verkleidet als spirituelle Intuition.
Besonders bedenklich wird es, wenn Verschwörungsideologien wie QAnon oder antisemitische Narrative mit esoterischer Sprache kombiniert werden. Dann wird Fremdenfeindlichkeit als „Schutz des Lichtfelds“ bezeichnet oder Impfgegner-Hysterie als Ausdruck höherer Bewusstseinsstufe verkauft. Diese Entwicklung entlarvt sich selbst: Es ist kein Erwachen – es ist ein Rückfall in abgeschottetes Denken, in gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit unter dem Deckmantel von Bewusstsein und Transformation.
Egoismus im Namen der Selbstverwirklichung
Spiritualität bedeutet für viele auch, „bei sich zu bleiben“ und die „eigene Wahrheit zu leben“. Das kann ein befreiender Prozess sein – eine Hinwendung zur inneren Stimme und zur persönlichen Authentizität. Doch allzu häufig wird dieser Weg zur Bühne für Selbstbezogenheit und moralische Beliebigkeit. Wer sich ausschließlich auf seinen „inneren Ruf“ beruft, ohne Rücksicht auf sein soziales Umfeld zu nehmen, ohne Mitgefühl, Hilfsbereitschaft oder schlicht Respekt zu zeigen, nutzt Spiritualität nicht als Pfad der Entwicklung, sondern als Schutzschild für das eigene Ego.
In vielen Fällen zeigt sich ein beunruhigender Individualismus, der sich als Selbstverwirklichung tarnt. Freundschaften, Beziehungen oder soziale Verpflichtungen werden plötzlich als „toxisch“ erklärt, nur weil sie unbequem sind. Unterstützung für andere wird verweigert mit der Begründung, man müsse „zuerst sich selbst heilen“. Selbstfürsorge wird dabei zu einem Deckmantel, unter dem Gleichgültigkeit, Rückzug und emotionale Kälte salonfähig gemacht werden.
Diese Haltung mag nach außen achtsam erscheinen, ist aber oft nichts anderes als spirituell legitimierter Narzissmus. Sie ignoriert, dass echte Entwicklung immer auch Verantwortung mit sich bringt – gegenüber der Welt, der Gesellschaft und den Menschen um einen herum. Spirituelles Wachstum ohne ethische Reife bleibt bloße Selbstbespiegelung.
Aggressivität unter dem Deckmantel der Klarheit
Ein weiterer eklatanter Widerspruch zeigt sich im Umgangston. In Kreisen, in denen Begriffe wie „Wertschätzung“, „Herzkommunikation“ oder „achtsamer Dialog“ inflationär verwendet werden, herrscht überraschend oft ein Klima von subtiler Feindseligkeit, unterschwelliger Dominanz oder gezielter verbaler Herabwürdigung. Passive Aggressivität wird als „klare Ansage“ getarnt, respektloses Verhalten als „spirituelle Direktheit“ verteidigt.
Konflikte, die im Namen der Heilung oder Transformation eigentlich offen angesprochen werden müssten, werden stattdessen ignoriert oder unter einem Teppich aus Affirmationen, positiven Vibes und energetischen Ausreden erstickt. Kritik wird häufig nicht diskutiert, sondern als störende Schwingung oder „Ego-Thema“ abgewertet. Das Gegenüber wird pathologisiert, statt ernst genommen.
Nicht selten endet ein Konflikt nicht in einer Klärung, sondern in einer kalten Abgrenzung – stilles Ghosting, soziale Isolierung oder das plötzliche Beenden von Kontakten werden dann mit Sätzen wie „Ich habe mich entschieden, meine Energie zu schützen“ oder „Das Universum zeigt mir, wer nicht zu mir passt“ gerechtfertigt. Es ist eine Kommunikationsverweigerung, getarnt als spirituelle Souveränität.
Der Widerspruch liegt auf der Hand: Wer echte Achtsamkeit lebt, begegnet auch schwierigen Gesprächen mit Offenheit, Respekt und Bereitschaft zur Verbindung – nicht mit spirituell lackierter Flucht oder Verurteilung.
Umwelt, Tiere, Konsum – blinde Flecken
Der spirituelle Mensch soll im Einklang mit der Natur leben – so heißt es. Doch oft bleibt es beim Reden. Es werden Räucherwerke aus bedrohten Hölzern verbrannt, Plastikverpackungen voller Kristalle verkauft, oder Flugreisen zu Kraftorten gemacht, ohne dass das eigene Verhalten reflektiert wird. Ebenso fragwürdig ist der Umgang mit Tierwohl: Yogalehrer, die nach der Praxis ins Steakhaus gehen; Schamanen, die mit Tierhäuten bekleidet Retreats abhalten. Bewusstsein endet oft dort, wo Bequemlichkeit beginnt.
Noch widersprüchlicher wird es, wenn sogenannte Lichtarbeiter spirituelle Dienstleistungen oder Produkte verkaufen, die ökologisch und sozial höchst problematisch sind. Kleidung aus Fast-Fashion-Produktionen, Esoterik-Produkte aus ausbeuterischer Herstellung oder importierte Superfoods mit hohem CO₂-Fußabdruck – all das wird konsumiert, ohne kritisches Bewusstsein. Nachhaltigkeit und Achtsamkeit enden offenbar oft am eigenen Geldbeutel oder Lifestyle.
Dabei wäre genau hier ein echtes Feld spiritueller Praxis: Ressourcen zu achten, lokale Alternativen zu nutzen, Verzicht zu üben und Verantwortung zu übernehmen. Stattdessen wird häufig ein Naturbild romantisiert, das wenig mit realem Umweltschutz zu tun hat – und vieles mit eskapistischer Selbstinszenierung.
Hilfe verweigert, weil es nicht „resoniert“
Ein besonders perfides Phänomen ist die Spiritualisierung von Gleichgültigkeit. In Kreisen, in denen Mitgefühl und Verbundenheit angeblich zentrale Werte sind, wird Menschen in Not oft mit eiskalter Distanz begegnet – verpackt in wohlklingende Floskeln. Aussagen wie „Das ist seine Lernaufgabe“, „Ich schwinge da nicht rein“ oder „Er hat sich das auf Seelenebene ausgesucht“ dienen nicht der spirituellen Einordnung, sondern der emotionalen Abschottung.
Statt sich solidarisch zu zeigen, wird Verantwortung externalisiert. Es wird nicht gefragt: Wie kann ich konkret helfen? Sondern: Ist diese Notlage mit meiner Schwingung vereinbar? Die Not des anderen wird so zum spirituellen Prüfstein – für den Betroffenen, aber nicht für den Beobachtenden.
Diese Haltung ist kein Ausdruck höherer Bewusstheit, sondern ein Akt der moralischen Entsorgung. Sie verschleiert Empathielosigkeit mit Esoterik-Jargon und verhindert echte Mitmenschlichkeit. In besonders extremen Fällen wird Leid sogar als notwendiger Katalysator für Wachstum glorifiziert – mit dem zynischen Subtext: „Das hat er oder sie gebraucht, um aufzuwachen.“
Was hier geschieht, ist keine spirituelle Klarheit. Es ist ein Rückzug aus der menschlichen Verantwortung – ein Entzug von Mitgefühl, kaschiert als energetische Souveränität. Doch wer Mitgefühl selektiv verteilt, lebt nicht in höherem Bewusstsein – sondern in einem spirituell legitimierten Individualismus, der das Leiden anderer nicht berührt. Das hat mit Erleuchtung nichts zu tun. Das ist Entmenschlichung.
Fazit: Es geht nicht um Etiketten, sondern um Haltung
Spirituell zu sein bedeutet nicht, Räucherstäbchen anzuzünden oder ein Mantra auswendig zu können. Es bedeutet, Werte zu leben: Ehrlichkeit, Mitgefühl, Demut, Verbundenheit. Wer sich diesen Anspruch auf die Fahne schreibt, muss sich auch daran messen lassen – im Alltag, im Umgang mit anderen, im Konsum, im Denken und Handeln. Spiritualität ohne Ethik ist nur Show. Und die Welt hat genug davon.
22.02.2025
Uwe Taschow
Uwe Taschow
Als Autor denke ich über das Leben nach. Eigene Geschichten sagen mir wer ich bin, aber auch wer ich sein kann. Ich ringe dem Leben Erkenntnisse ab um zu gestalten, Wahrheiten zu erkennen für die es sich lohnt zu schreiben.
Das ist einer der Gründe warum ich als Mitherausgeber des online Magazins Spirit Online arbeite.
“Mehr als die Vergangenheit interessiert mich die Zukunft, denn in ihr gedenke ich zu leben.”
Albert Einstein
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