Ursprünge unserer Volksheilkunde

Wolf-Dieter Storl

Wolf-Dieter StorlWort und Wurz – die wahren Ursprünge unserer Volksheilkunde

von Wolf-Dieter Storl

Wo kommt unsere Heilkunde, unsere Medizin her? Die Lehrer in der Schule erzählten, dass sie ursprünglich aus Ägypten und den Nahen Osten stamme. Rezepturen und Heilmethoden wurden dann ins alte Griechenland weitergetragen, wo der helle Kopf, Hippokrates, sie von abergläubischen, magisch-religiösen Vorstellungen säuberte. Gelehrte hellenische Ärzte brachten sie zu den Römern, deren Heilkunde bis dahin recht primitiv war – Plinius behauptete zum Beispiel, dass die Römer sechs Jahrhunderte lang keine Ärzte brauchten; in alten Zeiten der Republik hätten sie sämtliche Beschwerden mit Kohl aus dem Garten geheilt. Erst als sie dekadent wurden und verweichlichten – schrieb er – lieferten sie sich den verschlagenen griechischen Ärzten und ihren teuren Medikamenten aus. Trotz Fortschrittsverweigerer wie Plinius gewann auch im römischen Imperium die rationelle Heilkunde die Oberhand.

Aber dann, mit der Völkerwanderung, überrannten raufende, saufende Barbarenhorden, die wenig Verständnis für die Feinheiten der Zivilisation hatten, die römischen Provinzen. Völkerschaften waren das, noch ganz in irrationalen, magischen Vorstellungen befangen. Da sie des Lesens und Schreibens nicht mächtig waren, hatten sie kein Verständnis für den Wert schriftlicher Überlieferungen. Bibliotheken gingen in Flammen auf.

Das Wissen der Heiler und ihrer Rezepturen stand in Gefahr für immer verloren zu gehen.

Glücklicherweise hegten und pflegten die Mönche diesen Wissensschatz, kopierten die noch vorhandenen Manuskripte und retteten sie über das dunkle Frühmittelalter hinweg. In ihren Klöstern legten sie zudem Kräutergärten mit bewährten Heilpflanzen aus dem Mittelmeerraum an. Im Laufe der Zeit wurden die Erkenntnisse verfeinert und mündeten in unsere moderne Medizin.

So steht’s geschrieben. Stimmt aber leider nicht ganz. Es ist lediglich ein ethnozentrischer Mythos. Weder die Heilkunde, noch die einzig wahre Religion, stammt aus einer einzigen Region. Es gibt keine einzige Ethnie, kein Stamm, der nicht im Besitz einer wirksamen und in der Praxis bewährten Heilkunde ist. Auch wenn die Erklärungen, die Vorstellungen von Gesundheit und Krankheit, sowie die angewendeten Heilmittel unterschiedlich sind, können sie Bauchgrimmen stillen, Knochen richten, Durchfall stoppen, Wunden heilen und gesunde Kinder auf die Welt bringen. Völkerkundler bestätigen das immer wieder.

Es gibt – so die Ethnologen – keine einzig wahre Medizin, ebenso wie es keine einzig wahre Religion gibt.
alte-Frau-Lächeln-old-ladyDas trifft natürlich auch auf die Eingeborenen Europas zu, auf unsere Vorfahren, die Waldvölker nördlich der Alpen – die Kelten, Germanen, Slawen und Balten. Diese hatten, ehe die Römer und vor allem die christliche Mönchskultur neue Impulse brachte und durchsetzte, ihre eigene Heilkunde.

Diese wurde vor allem von den Frauen, insbesondere den Großmüttern, getragen, deren Aufgabe es war, Mensch und Tier, in Haus und Hof gesund zu halten. Mit Wort und Wurz (altenglisch word and wort) taten sie das.

Das Wort war der symbolische, schamanische Aspekt des Heilens.

Der Wurm, der Krankheitsdämon, oder der Siechtum bringende Geisterpfeil, wurde mit Machtworten herausgesungen und herausgezwungen. Das Heilritual setzte voraus, dass die Heilerin oder der Heiler hellsichtig war. Sie konnten, im entrückten Zustand, im Trance, die, in die dunklen Leibestiefen eingenisteten Würmer, die die Lebenskraft wegsaugten, oder auch die verderblichen Zauberpfeile„ absehen“.

Durch ihre eigene Zauberkraft und mit Hilfe ihrer Hilfsgeister konnten sie den Kranken davon befreien. Die herausgesungenen, herausgeräucherten Schadwesen mussten anschließend entsorgt werden. Töten konnte man sie nicht, denn sie waren ja schon Geister, sie haben keinen physischen Körper, den man vernichten könnte. Also bannte man sie in Bäume oder man schoss sie mit Pfeil und Bogen ins „Nimmer-Nimmerland“, zurück in die jenseitigen Dimensionen.

Am liebsten bannte man sie in den Holunder, einen Busch, der schon in der Mammutsteppe wuchs und der der paläolithischen Höhlengöttin, der Großmutter unter der Erde, der Hüterin der Samen und Tierseelen, geweiht war. Der Holunder – so heißt es noch immer im Volksaberglaube – zieht alles Negative an und leitet es nach unten in die Erde. Tatsächlich, wenn man unter einem Holunder sitzt und meditiert, hat man den Eindruck, dass er energetisch nach unten zieht. Unter dem Hofholunder, davon war man noch im Mittelalter überzeugt, da rührt noch immer die inzwischen zur Großmutter des Teufels mutierte Frau Holle, ihren Kessel. Die Krankheitsdämonen plumpsen in diesen Kessel und werden zerkocht. Krankheiten konnten aber auch auf Vögel, Frösche oder Käfer gezaubert, und so entsorgt werden.

Ebenso wie man zwei Beine braucht um zu laufen, braucht man neben dem Wort – dem Zauberspruch oder Heilgesang –, auch die Wurz.

Wurz ( angelsächssich wyrt, schwedisch ört) bedeutete nicht nur Wurzel, sondern es war die Bezeichnung für die Heilpflanze an sich. Er lebt in den Namen der stärksten Heilkräuter weiter: Meisterwurz, Engelwurz, Goldwurz (Schöllkraut) oder Magenwurz. Diese Pflanzen wurden zum Ausheilen verwendet; sie wurden entweder als Aufguss, als Sud oder Salbe verabreicht. (Kräuterschnäpse und -tinkturen hatten ihren Ursprung in der arabischen Medizin und kamen erst im 13./14. Jahrhundert durch die Klostermedizin in Gebrauch). Der Kräutertee oder Aufguss wurde drei Mal am Tag, in den „heiligen“ Stunden – morgens, wenn die Sonne aufgeht; mittags, wenn die Sonne am Zenith steht; und abends, wenn sie untergeht – getrunken. Drei war bekanntlich für diese Völker eine heilige Zahl.

Heilen bedeutet heil-machen, was gebrochen war. Es bedeutet, etwas in seinen ursprünglichen gesunden Zustand zurück zu versetzen. Als Ursprung aller Dinge galt bei diesen Waldvölkern, Feuer und Wasser. Die Schale Kräutertee besteht aus der Heilpflanze, die mit kochendem Wasser übergossen wird. Das heißt, die Energie des Feuers vermittelt dem Wasser die Kräfte der Pflanze. Die Schale selber symbolisiert den Kessel, den gebärenden Schoß der Urgöttin, die wir noch als Frau Holle kennen.

Die Pflanzen (Wurze) selber, wurden nicht als Wirkstoffakkumulatoren gedacht, wie wir es heute tun, sondern als mächtige, verkörperte Wesenheiten, die man ansprechen und um Hilfe bitten konnte. Das kommt ganz klar zum Ausdruck in dem alten „Angelsächsischen Kräutersegen“ (Lacnunga). Man ruft sie bei Namen, erinnert sie an ihre innewohnende Kraft und bittet sie um Hilfe.

Diese Heilkunde ist uralt.

Ihre Wurzeln liegen in der Altsteinzeit. Das wurde den Ethnobotanikern klar, als sie die Heiltraditionen der europäischen Waldvölker, der Sibirier und der nordamerikanischen Indianer verglichen. Die Indianer benutzen bevorzugt jene Heilpflanzen, die sie schon aus Sibirien kannten, ehe sie vor mehr als 15,000 Jahren über die Landbrücke nach Nordamerika wanderten. Und was noch bedeutsamer ist, sie benutzen diese im selben kulturellen Zusammenhang. Sie schaben, zum Beispiel, den Bast junger Holunderzweige nach oben, wenn sie mit dessen Sud beim Patienten Brechreiz erzeugen wollen; sie schaben ihn nach unten, wenn die Krankheitsdämonen durch den Darm gejagt werden sollen. Interessanterweise kennen die Sibirier, die slawischen Völker, die mittelalterlicher Heilerinnen, wie auch einst die Kelten, diesen Brauch.

Funktioniert das auch? Kommt es zum Erbrechen wenn der Holundertrieb nach oben, und zum Durchfall, wenn er nach unten geschabt wird? Die Antwort ist überall eindeutig „Ja“.  Der Grund ist, dass der gekochte Holunderbast leicht giftig ist; der Körper will, durch Schwitzen, Erbrechen oder Durchfall, sein Unbehagen los werden. Es ist das Wort, die Suggestion des Heilers oder Schamanen, das dann die Richtung bestimmt.

Beifuss-mugwortAuch andere Kräuter und Pflanzen, die einst in der eiszeitlichen Mammutsteppe wuchsen, werden bei diesen Völkern noch verwendet.

Der Beifuß (Artemisia) spielte überall, von Westeuropa bis an die Ostküste Nordamerikas, von Nordsibirien bis ins Himalaja, als sakrales Räucherkraut und Hebammenpflanze eine Rolle. Kraftorte, wo man Rituale zur Begegnung mit den Göttern und Geistern durchführte, auch die Schwitzhütten und sibirischen Dampfbäder wurden damit ausgelegt. In der Alten, wie auch der Neuen Welt, ging man in die Schwitzbäder, um Krankheiten heraus zu schwitzen, um Visionen zu haben, um den Göttern und Ahnen zu begegnen, und die Frauen, um ihre Kinder zu gebären. Überall galt die Schwitzhütte als Schoß der Erdmutter, als Zugang zur anderen Welt, zur „Traumzeit“, aus der man dann geheilt wiedergeboren werden konnte.

Auch die ersten Bauern, die Bandkeramiker, die vor rund 8,000 in Mitteleuropa erschienen, trugen wesentliches zur Volksheilkunde bei. Sie kannten mehr Heilpflanzen als die alten Jäger und Sammler, aber nur weil sie, als Sesshafte, mehr Krankheiten als diese hatten. Abfall und Tier-Kot zog Fliegen, Ratten, Läuse, Wanzen und anderes Ungeziefer als Krankheitsvektoren an. Infektionskrankheiten, die man vorher nicht kannte, übersprangen die Artengrenze vom domestizieren Vieh zum Menschen. Aber auch diese Bauern entwickelten viele wirksame Heilweisen.

Wir sehen also, unsere Volksheilkunde, getragen von Frauen und Männern, die nicht auf gelehrte Schriften angewiesen waren, sondern das Wesentliche hellsichtig und unmittelbar wahrnahmen, hat wirklich tiefe Wurzeln. Die Heilkunde der Antike und die Klosterheilkunde verhalten sich dabei eher wie eine dünne Glasur.

Ur-Medizin

(c) www.storl.de

Wer mehr über dieses Thema erfahren will, der lese mein Buch Urmedizin – Die wahren Ursprünge unserer Volksheilkunde, das im Herbst 2015 bei AT-Verlag erschienen ist.

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Ursprünge unserer Volksheilkunde Wolf Dieter StorlWolf-Dieter Storl,
geboren am 1.10.1942 in Sachsen, ist Kulturanthropologe und Ethnobotaniker. Als Elfjähriger wanderte er 1954 mit seinen Eltern nach Amerikan (Ohio) aus, wo er die meiste Zeit in der Waldwildnis verbrachte. …
Gärtnern, aber noch mehr die wilde, ursprüngliche Natur, die Wildpflanzen und Tiere, waren immer schon eine Quelle der Inspiration für ihn und formten seine Lebensphilosophie.
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